Выбрать главу

Isleif legte Oles Leib vorsichtig auf den Grund der Grube. Etwas Schnee, dünn wie Mehlreste auf einem Backtisch, lag im Grab. Der große Einödbauer drehte den Leichnam mit dem Gesicht in den Schmutz. Er blickte entschuldigend auf. »So haben sie es verlangt«, sagte er leise.

»Ich weiß«, erwiderte Erek heiser.

Asla seufzte. Das war die Art, wie man Tote beerdigte, von denen man fürchtete, sie könnten Wiedergänger werden. Wenn sie in ihrem Grab erwachten und versuchten, sich ihren Weg zurück in die Welt der Lebenden zu bahnen, würden sie sich nur noch tiefer ins Erdreich wühlen. Es hieß zwar auch, ein Eschenpflock im Herzen würde genügen, einen Toten auf immer im Grab zu halten, aber den Dorfältesten war das nicht sicher genug.

Asla dachte daran, wie ihr Ole, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, einmal einen weiß-braunen Welpen geschenkt hatte. In ihrer Kindheit hatte sie ihren Onkel geliebt. Er war nicht immer so gewesen wie in den letzten Jahren. Vielleicht, wenn er ein Weib gefunden hätte ... Einsamkeit frisst das Herz auf, dachte sie bitter. Sie wusste es nur zu gut! So viele Nächte lag sie schon allein in ihrer Butze. Der Geruch von Alfadas, der ihr vorgaukelte, er würde noch neben ihr liegen, wenn sie sich in ihre Decke rollte, verging langsam. Bald wäre er ganz aus ihrem Leben verschwunden.

Isleif zog sich aus dem Grab und senkte die schweren Felsbrocken, die man herangekarrt hatte, in die Grube. Obwohl er sich bemühte, vorsichtig zu sein, hörte Asla Oles Knochen knacken, als die Steine seinen Leichnam trafen. Im Dorf wollte man wirklich ganz sichergehen, dass ihr Onkel diese Grube nie wieder verlassen würde, dachte die junge Frau. Sie sah zu ihrem Vater. Erek hatte keine Träne für seinen jüngeren Bruder vergossen, doch die Lippen des alten Fischers zitterten, als er zusah, wie der Gefährte seiner Kindheit unter den Steinen verschwand. Ihr Vater hatte sich immer für Ole verantwortlich gefühlt. Stets war er für seinen jüngeren Bruder eingetreten, wenn es im Dorf wieder einmal Ärger gegeben hatte. Er hatte ihn sogar dann noch verteidigt, wenn er genau gewusst hatte, dass Ole im Unrecht gewesen war. Asla strich Ulric durch das blonde Haar. Ob er eines Tages genauso bedingungslos für seine kleine Schwester einstehen würde?

Ihr Blick blieb an dem schlichten Stein haften, der neben der frisch aufgeworfenen Erde aufragte. Erek hatte sich gestern den Rücken krumm geschleppt, um ihn vom Ufer hinauf ins Langhaus zu bringen. Die halbe Nacht hatte er mit einem alten Nagel an dem Stein herumgekratzt, um einen Hundekopf hineinzuritzen. Er wollte nicht, dass in Vergessenheit geriet, an welchem Ort sein Bruder ruhte.

»Mutter, wann gehen wir zu Gundar?«, fragte Ulric verlegen.

Asla sah zu Erek. Ihr Vater nickte knapp. Sie war aus der letzten Pflicht gegen Ole entlassen.

Traurig ging Asla mit den Kindern zum Grab des Priesters hinüber. Sie stand tief in Gundars Schuld, und es würde nie mehr eine Gelegenheit geben, ihm dafür zu danken. Er hatte Ulric gerettet. Ihr Junge hatte ihr erzählt, wie Gundar ihn den weiten Weg hinab zum Dorf getragen hatte. Asla wusste, dass dies weit über die Kräfte des alten Mannes gegangen war.

Der flache Grabhügel des Priesters war von dünnen Ruten umstanden. Man hatte besonders gerade gewachsene Äste ausgewählt und sie mit Stoffstreifen geschmückt, die leise im Winterwind raschelten. Jeder, der an Gundars Grab kam, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, band einen Streifen Stoff an eine der Ruten. Einen Stein gab es noch nicht für ihn. Vielleicht hatte er keinen gewollt? Oder jemand gab sich besondere Mühe, einen schönen Schmuckstein für Gundars letzte Ruhestätte zu schaffen, und hatte seine Arbeit noch nicht vollendet.

Asla kniete nieder, um dem alten Priester in stummem Gebet zu danken. Gestern, als er beigesetzt worden war, hatte sie nicht kommen können. Bei Männern wie Ole, bei denen man nicht darauf vertraute, ob sie wirklich im Grab blieben, wurde die Pflicht der Totenwache sehr genau genommen. Und niemand hatte ihr diese Bürde abnehmen wollen. Selbst ihr Vater nicht. Erek war viel zu erschüttert gewesen, um zuverlässig zu sein. Unsichere Tote wurden inmitten der Wohnstube aufgebahrt. Man steckte ihnen eine große Kerze zwischen die gefalteten Hände und ließ sie dann einen Tag und eine Nacht lang nicht aus den Augen. Damit wollte man ganz sicher gehen, dass sie sich nicht mehr regten. So hatte Asla nicht zu dem Begräbnis des Priesters kommen können.

Ihr einziger Trost war, dass sie mitgeholfen hatte, ihn für seine Beerdigung herzurichten, weil sein Leichnam in ihrem Haus gelegen hatte. Sie hatte das schwere Kettenhemd von seinem fülligen Leib gestreift. Dann war Gundar in seine besten Gewänder gekleidet worden, und sie hatte sorgfältig sein Haar und seinen Bart gekämmt. Ulric nahm den Stoffstreifen, den er um den Gürtel gewickelt trug. Er war zwei Finger breit. Die Schmuckborte seiner schönsten Tunika. Er hatte darauf bestanden, Gundar dieses Geschenk zu machen. Tränen rannen ihm über die Wangen, als er den Stoff an eine der langen Ruten band. Doch er schluchzte nicht.

Kadlin spielte im Schnee, während Asla für sie einen Streifen ihres dünnen Sommerkleids um einen Ast band.

Fröstelnd zog sich die junge Frau ihren weiten roten Umhang um die Schultern. Alfadas hatte ihn ihr von einem seiner Beutezüge mitgebracht. Angeblich hatte er einmal der Tochter eines Königs gehört. Der Umhang war aus schwerer, dunkelrot gefärbter Wolle gefertigt. Kein Knötchen fand sich in dem Stoff. Oft hatte Asla sich gefragt, wie man Wollfäden so fein spinnen konnte. Ihre Gabe an Gundar hatte sie von diesem Mantel geschnitten.

»Ich hoffe, du hast einen Platz an einer reich gedeckten Tafel gefunden«, sagte sie mit schwerer Stimme. »So vieles hätte ich dir gern noch gesagt. Du hast mir meinen Sohn zurückgebracht. Das werde ich dir bis ans Ende meiner Tage nicht vergessen.«

Plötzlich trat jemand in hellen braunen Stiefeln neben Asla. Sie hatte keine Schritte im Schnee gehört. War sie denn so tief in Gedanken gewesen? Asla blickte auf. Neben ihr stand Yilvina.

»Glaubst du, dass auch ich sein Grab schmücken darf?«, fragte sie mit jenem seltsamen Akzent, der ihren Worten stets einen singenden Unterton gab. »Er hat mir das Leben gerettet.« Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, während sie sprach.

Was sie wohl fühlte?, fragte sich Asla. Scham, weil ausgerechnet ein Menschensohn sie und die Königin vor dem Ungeheuer bewahrt hatte? Oder Dankbarkeit?

»Ich glaube, Gundar würde sich freuen, wenn er wüsste, dass auch du ihn in freundlicher Erinnerung behalten wirst.«

»Das weiß ich«, entgegnete die Elfe.

Ihre selbstsichere Antwort ärgerte Asla.

»Meine Sorge ist, dass es unter den Menschen des Dorfes schlecht aufgenommen wird, wenn ich den Toten nach eurem Brauch ehre.«

»Für die anderen kann ich nicht sprechen«, entgegnete Asla kühl. »Aber mich beleidigst du nicht, wenn du Gundar Respekt erweist.«

Die Elfe neigte den Kopf. Eine Weile betrachtete sie gedankenverloren das Grab. Schließlich zog sie ihren Dolch, schnitt einen Stoffstreifen von ihrem Umhang und knotete ihn an einen der Äste. »Ich war ihm sehr nahe, als er starb.«

Asla dachte an den Kuss, den die Elfe dem sterbenden Priester gegeben hatte. Yilvinas Verhalten war ihr sonderbar vorgekommen, aber nicht falsch. Sie hatte nicht verstanden, was da geschehen war, aber sie hatte gespürt, dass die Elfe um Gundars Leben gekämpft hatte.

»Die Wände seines Herzens waren so dünn wie Pergament. Sein Gott muss eine schützende Hand über ihn gehalten haben. Eigentlich hätte er schon lange nicht mehr leben dürfen. Ein üppiges Mahl, ein Spaziergang am Fjord. All das hätte schon genügen können, ihn zu töten. Er hat deinen Jungen sehr gemocht. Dass er Ulric getragen hat, war nicht sein Tod. Und auch nicht der Biss des Geisterhundes. Seine Zeit war gekommen. Er ist in Frieden gegangen.«