Asla biss sich auf die Lippen. Sie wollte etwas sagen, doch ein Kloß im Hals erstickte ihre Stimme. Woher wusste Yilvina um die Vorwürfe, die sie sich machte? Bisher hatte sie geglaubt, dass die Elfenkriegerin sich um nichts anderes als das Wohlergehen ihrer Königin kümmerte. Sie wirkte immer so kalt und teilnahmslos. Und doch hatte sie mit scharfem Blick erkannt, was Asla das Herz aufwühlte.
Yilvina griff nach Ulrics Hand. »Lasst uns hinauf ins Haus gehen. Gundar schätzt es eher, wenn man bei einem guten Essen an ihn denkt, als wenn man es frierend an seinem Grab tut.«
... Fast noch unerträglicher als die Kämpfe, die folgen sollten, war die Zeit des Wartens. Elf Tage vergingen, bis die Trolle vor Phylangan aufzogen. Tage voller Zuversichtlichkeit und Anspannung. Wir wussten, wie stark unsere Festung war. Ein Sturmlauf auf das Tor zum Schneehafen musste ein Massaker werden. Fast unsere gesamte Streitmacht lag in den Stellungen der langen Bergflanken. Jede Schießscharte war besetzt. Auch der Turm am Ende der Mandan Falah war vollendet worden. Wer immer Phylangan durch den Albenstern betreten wollte, dem würden hundert Pfeile entgegenfiiegen. Auf der engen Brücke war es so gut wie unmöglich, die Gegner zu verfehlen.
Doch obwohl unser Kriegsmeister Ollowain eine ruhige Zuversicht ausstrahlte, verblieb bei vielen eine Anspannung. Würden die Trolle uns auch diesmal wieder überraschen?, war die bange Frage, die sich manche heimlich stellten. Die Spannung wich erst, als der große Heerwurm am Horizont aufzog. Obwohl ich ihr Heer schon am Rosenberg gesehen hatte, war ich erschrocken von ihrer bloßen Zahl. Wie ein schwarzer Makel füllten sie den gesamten Horizont. Und es war erschreckend, wie sehr sie sich verändert hatten. Sie hielten Disziplin! Sie schlugen ein geordnetes Heerlager auf! Natürlich würde man sie niemals mit einem Elfenheer auf dem Marsch vergleichen können, doch damals schien es mir so, als seien sie geordneter als unsere Verbündeten, die Kentauren.
Zwei ganze Tage ließen die Trolle sich Zeit, um ihren Angriff vorzubereiten. Erst Jahre später begriff ich, dass dies ihre Waffe war: die selbstgefällige Ruhe und das Warten. Sie hatten sich sehr verändert in den Jahrhunderten ihrer Verbannung!
Wenn ich an die langen Tage vor dem Angriff zurückdenke, dann beherrscht jedoch nichts so sehr meine Erinnerung wie der Schrecken, den ein böser Geist in Phylangan verbreitete.
Er schien überall zu sein und hinterließ eine Spur des Todes. Mal fanden wir sieben Tote in einer Bognerwerkstatt der Kobolde. Dann lagen fünf Menschen tot in ihren Betten im Krankenlager. Besonders den Anblick von zwei Kentauren, die wohl ihren Rausch hatten ausschlafen wollen, werde ich nie vergessen. Es war erschütternd zu sehen, was dieser Geist aus den großen, vor Kraft strotzenden Leibern gemacht hatte.
Seine Morde waren unverkennbar. Er schien seinen Opfern das Fleisch von den Knochen zu schmelzen. Wenn man sie fand, dann war von ihnen nicht mehr übrig als fahle, brüchige Haut, die sich über Sehnen und Knochen spannte. Ihre Haar war grau oder weiß geworden, und manchmal, wenn sie ihren Mördern noch gesehen hatten, stand unaussprechliches Entsetzen in ihre Gesichter gemeißelt.
Auffällig war, dass er nie einen Elfen tötete. Auch unsere Verbündeten bemerkten dies bald. Und es trieb in dieser unruhigen Zeit des Wartens einen Keil zwischen uns.
Sie fanden viele Namen für den unsichtbaren Mörder. ›Das kalte Licht‹ nannten ihn die Kobolde, ›Frostatem‹ die Kentauren und ‹Totmacher‹ die Menschensöhne. Ganz gleich, wie viele Wachen wir aufstellten, er kam und ging, wie es ihm beliebte. Bald flößte er den Verteidigern mehr Angst ein als die Trolle, und sie sehnten den Tag herbei, an dem der Angriff begann, weil sie hofften, das Morden dieses ungreifbaren Schreckens werde dann enden. Selbst ich gab mich diesem naiven Glauben hin. Wie töricht war es, sich einzubilden, der Feind werde von einer Waffe lassen, weil er eine zweite zur Hand hatte!
In diesen steinernen Tagen der Angst, in der wir gefangen in Festungswällen auf das Verhängnis warteten, tagte der Kriegsrat fast ununterbrochen. Jetzt, mit Abstand betrachtet, erfüllt es mich mit Trauer und Unverständnis, wenn ich daran denke, worüber wir uneins waren. Tagelang währte ein Streit, ob den Menschensöhnen erlaubt werden solle, ihre Toten in der Erde der Himmelshalle beizusetzen. Landoran wehrte sich entschieden dagegen. Er mochte nicht dulden, dass dieser wundersame Ort durch die Kadaver der Menschenkinder besudelt wurde. Dass die Bäume dort ihre Nahrung von faulenden Leibern nahmen.
So erbittert war der Streit, dass der Menschenfürst Alfadas ihm sogar einmal drohte, er und seine Krieger würden durch ihre Anwesenheit nicht länger die makellosen Gefilde Phylangans besudeln wollen. Orimedes hatte sich auf seine Seite geschlagen und drohte, auch die Kentauren würden abziehen, wenn die Menschensöhne die Festung verließen. Schließlich musste sich Landoran der Forderung fügen, zumal auch sein eigener Sohn, der Kriegsmeister Ollowain, die Menschenkinder unterstützte.
Wenn ich mir vor Augen halte, was Landoran über die Tage, die noch kommen würden, gewusst haben muss, erscheint mir dieses Gezänk kleinlich, und tiefe Scham ergreift mich. Doch damals stand ich, trotz meiner Schuld gegen die Menschensöhne, auf Seiten des Fürsten der Normirga. Auch mir war der Gedanke an verrottende Leiber in der schönsten all unserer Hallen unerträglich.
So bitter diese Erinnerungen sein mögen, denke ich an eine Begebenheit in jenen fernen Tagen mit einem Schmunzeln zurück. Ollowain und Landoran stritten wieder einmal über die Verschiffung aller Frauen und Kinder über den Himmelshafen, als eine kleine, grauhaarige Gestalt in den Ratssaal trat, ein Holder, gekleidet ganz in der Tradition seines Volkes. Nur mit einem Lendenschurz und einem golddurchwirkten Stirnband angetan, wirkte er befremdlich, ja fast lächerlich in der weiten Ratshalle aus Gold und Marmor. Alle starrten ihn an.
Nur Landoran erhob sich von seinem Platz, ging ihm entgegen und verbeugte sich zu unserer Verwunderung vor dem Holden.
»Ich grüße dich, Gondoran, aus dem Geschlecht der Bragan, Herr der Wasser in Vahan Calyd.« Wie sich zeigte, kannten auch Ollowain und Orimedes den Holden, doch hatte er vor ihnen seinen wahren Rang verborgen gehalten. Landoran bot dem Herrn der Wasser einen Sitz im Kriegsrat, doch der Holde entgegnete hintersinnig, dass Phylangan in seinen Augen nicht noch einen weiteren Streiter benötige. Stattdessen bat er um die Pläne der Zisternen, Wassertunnel und verborgenen Quellen. Er erläuterte, dass seiner Meinung nach das steinerne Herz der Felsenburg erkrankt sei, und er wolle alles in seiner Kraft Stehende tun, um es zu heilen. So könne er der Sache Phylangans besser dienen als mit einem Schwert in der Hand. Damals lächelte ich über das Ansinnen des Holden. Landoran erfüllte ihm bereitwillig seine Wünsche und lieh ihm das Auge des Felsformers, eines unserer kostbarsten Artefakte. Es war ein Rubin, der auf solche Weise in einen Goldreif eingelassen war, dass er inmitten der Stirn ruhte, wenn man sich mit dem kostbaren Schmuckstück krönte. Und er verlieh seinem Träger die Gabe, Felsen zu formen, als knete er feuchten Ton. Ich habe Gondoran nach seinem Besuch im Ratssaal nicht mehr wieder gesehen, doch er sollte uns alle noch lehren, dass er kein verschrobener Narr war, sondern dass in seiner Brust das Herz eines Kämpfers schlug.
So ward Gondoran aus dem Geschlecht der Bragan mir zum Spiegel meines Hochmuts, und die Erinnerung an ihn mahnt mich, das Augenscheinliche nicht mit dem Wahrhaftigen zu verwechseln.
Als die Trolle schließlich nahten, gehörte es zu meinen Pflichten, dem Steinernen Garten als Kundschafter zu dienen. Einmal flog ich mit Schneeschwinge über ihr Lager. Sie hatten viel Holz mitgebracht. Daraus zimmerten sie grobschlächtige Schutzwände und Dächer für drei riesige Rammböcke. Die Trolle schienen genau zu wissen, was sie erwartete, wenn sie den weiten Pass hinauf zum Schneehafen stürmten. Sollten sie sich nur vorbereiten, dachte ich damals voller Hochmut. Vor Pfeilen mochten sie sich damit schützen, aber ich wusste ja, wie viele Geschütze auf den Passweg wiesen und was die Trolle außer Pfeilen und Kugeln noch erwartete. Dagegen würden ihre Holzwände nicht helfen.