Als ich schon fortfliegen wollte, fühlte ich eine dunkle Kraft, die tiefe Verzagtheit in mir keimen ließ und Gedanken an einen nahen Tod. Schon beim Swelm-Tal hatte ich das gespürt. Hier war es noch drängender. Es hieß, die Schamaninnen der Trolle betrieben Blutmagie.
Damals empfand ich deutlich, dass sie Zauber wirkten, die alle Kräfte der Natur verhöhnten und von tiefer Boshaftigkeit durchdrungen waren. Und ich spürte ihre Zuversicht. Die Trolle waren davon überzeugt, dass sie uns besiegen würden ...
Der Stoss ins Herz
Orgrim schulterte den Ziegenledersack mit den schweren Eisenstangen. Er war auf die Hilfe der Koboldsklaven angewiesen gewesen, um die Stangen schmieden zu lassen. Selbst durch den Ledersack hindurch verursachte das Metall ihm ein unangenehmes Prickeln am Rücken.
Ein frischer Wind wehte über das Eis. Über den Himmel zog das grüne Winterlicht in weiten Wellen. Fünfhundert Krieger standen unter seinem Kommando. Es war eine Streitmacht, wie sie sonst nur ein Herzog befehligte. Seine Tage als Rudelführer waren gezählt, dachte er zuversichtlich. Wenn er diesmal siegte, dann hatte Branbart keine andere Wahl mehr, als ihm den Herzogstitel zuzugestehen. Das Blutbad, das die drei Eissegler inmitten des Trollheeres angerichtet hatten, hatte ihn darin bestärkt, diesen tollkühnen Angriff zu wagen. Und Skangas Geisterhund hatte ihm alles notwendige Wissen verschafft.
Orgrim betrachtete die massive Holzwand mit den beiden Rädern an den Seiten. Drei lange Deichseln erlaubten, die schwere Konstruktion zu schieben. Gleichzeitig stützten sie die Wand ab, sobald man sie absetzte. Rechts und links der Wand ließen sich türgroße Holzschilde herabklappen, um die Holzkonstruktion nach unten zu verlängern. Skangas Geisterhund hatte geschworen, dass es dort, wo sie angreifen würden, keine Katapulte gab. Sieg oder Niederlage hingen davon ab, dass dieses Mistvieh die Wahrheit sagte.
Der Rudelführer sah zu Brud. Die Wunde an seiner Brust war gut verheilt. Beim Angriff der Eissegler hatte der Kundschafter einen tiefen Schnitt davongetragen. Nun sah es so aus, als habe man dem Falken auf seiner Brust den Hals durchgeschnitten. Brud war über alle Maßen erbost über diese verstümmelnde Wunde, und er redete seit Tagen über nichts anderes mehr als darüber, wie man diese Narbe durch weitere Schmucknarben verbergen könne, um seinem Falken wieder die Würde zurückzugeben.
Brud trug eine dicke Taurolle über die linke Schulter geschlungen. Die Hälfte der Trolle war so ausgerüstet. Boltan, Orgrims Geschützmeister, kam zu ihnen herüber.
»Skanga sagt, sie sei so weit.«
Orgrim atmete tief ein. Die Schamanin stand neben dem himmelragenden schwarzen Pfeiler, der hier aus dem Eis ragte. Er markierte einen großen Albenstern, der dicht neben der Felsnadel lag.
»Hast du Angst?«, fragte Orgrim leise.
Der Geschützmeister lächelte nervös. »Wenn wir erst einmal drüben sind, wird sie vorüber sein. Die Elfen fürchte ich nicht. Aber den Weg ...«
»Nur Feiglinge haben Angst«, spottete Gran, der hinter ihnen stand und dem Gespräch gelauscht hatte.
»Kann man wirklich mutig sein, wenn man nie seine Angst bezwingen musste?«, entgegnete Boltan gereizt.
Gran runzelte die Stirn. »Willst du mich einen Feigling nennen?«
»Nein, einen Dummkopf.«
»Genug!«, zischte Orgrim. Dann hob er den Arm und gab Skanga das verabredete Zeichen. Fast im selben Augenblick wuchs ein Bogen aus schillerndem Licht aus dem Eis.
»Du weißt, was du zu tun hast?«, fragte der Rudelführer mit Nachdruck.
Boltan nickte knapp. »Ich singe das Lied von König Slangaman mit allen seinen Strophen. Erst dann folgen wir dir in Gruppen von jeweils fünf Kriegern.«
»Wir brauchen drüben die Zeit. Du weißt, wie wenig Platz dort ist, wo wir herauskommen.« Boltan packte sein Handgelenk im Kriegergruß. »Viel Glück, Rudelführer. Wenn wir diesmal siegen, dann wird man schon bald ein Lied von Herzog Orgrim singen.«
»Hoffen wir, dass Skangas Hund uns nicht belogen hat.« Der Rudelführer wandte sich ab und packte die mittlere Deichsel der Holzwand. Einige Krieger eilten herbei und halfen ihm. Brud und Gran waren an seiner Seite. Mit einem mulmigen Gefühl schob er das schwere Holzgestell dem Tor aus Licht entgegen. Skanga stieg über die Deichseln hinweg.
»Ich führe euch«, sagte sie mit krächzender Stimme. Sie strich Orgrim mit ihren dürren Fingern über die Stirn.
Ihre Berührung fühlte sich an, als kratze ein toter Ast über seine Haut. »Wenn du gesiegt hast, müssen wir miteinander reden, Rudelführer. Es gibt etwas, das du wissen solltest.« Ihre blinden Augen sahen zu ihm auf. »Du musst heute siegen!«
»Was willst du?«
Die Schamanin schüttelte den Kopf. »Erst siegst du. Dann rede ich mit dem König und mit dir! Vorwärts jetzt!« Orgrim fügte sich stumm. Seine Hände waren schweißnass. Er hatte keine Angst vor den Kämpfen, aber auch er fürchtete den Weg durch das Nichts.
»Lasst los und bleibt hinter mir!«, befahl er den Kriegern, die rechts und links von ihm gingen. Orgrim biss die Zähne zusammen und stemmte sich mit der Schulter gegen die hölzerne Schutzwand. Gran packte hinter ihm die Deichsel und half mit zu schieben. Der Weg durch das Nichts war nur ein schmaler Pfad. Die Holzwand würde darüber hinausjagen. Und alles, was nicht auf dem Pfad war, konnte angegriffen werden. Deshalb hatten sie so viele Schiffe verloren, als sie nach Albenmark gekommen waren.
Flimmerndes Licht tanzte über der Holzwand. Der Nordwind strich Orgrim über die Schultern. Dann tat er den Schritt. Er stand im Dunkel. Hier gab es keinen Wind. Zu seinen Füßen leuchtete der goldene Pfad. Die Holzwand verdeckte den Blick nach vorn. Der Rudelführer konnte nur das Stück Weg unmittelbar vor seinen Füßen sehen. Aber er spürte die Schatten, die jenseits des Lichtes waren. Er fühlte ihre gierigen Blicke. Weitergehen, befahl er sich in Gedanken. Nur den Blick nicht vom Pfad abwenden. Ein gellender Schrei erklang hinter ihm und riss abrupt ab. Nicht den Weg verlassen!
Die Schulter gegen die Holzwand gedrückt, den Kopf geneigt, starrte er auf den Boden. Skanga würde sie schützen! Sie mussten einfach nur geradeaus gehen. Etwas zerrte an der Holzwand, als griffe eine Windbö danach. Doch hier gab es keinen Wind.
Orgrim stemmte sich mit aller Kraft vorwärts. Nicht nachgeben! Plötzlich leuchtete weißer Stein unter seinen Füßen. Schwüle Hitze schlug über ihm zusammen. Der Rudelführer blickte auf. Weit über ihm spannte sich eine seltsam durchscheinende Höhlendecke in der Farbe des Sommerhimmels. Dicke Wolken trieben darunter. Die Himmelshalle!
Jubelrufe erklangen hinter Orgrim, als immer mehr der ersten fünfzig Krieger aus dem Tor traten. Die Höhle sah atemberaubend aus. Skangas Hund hatte Orgrim von ihr erzählt. Von der Weite und der Pracht. Doch alle Worte hatten ihn nicht auf das vorbereiten können, was er nun sah.
Es war großartig und zugleich falsch und verdreht. So wie alle Dinge, die die Elfen taten! Der Rudelführer wusste, dass er inmitten eines Berges war. Doch hier fühlte man sich, als blicke man in ein weites Tal. Die Elfen hatten der Berghöhle ihre feierliche Düsternis geraubt. Das hier war falsch! So sollten Höhlen nicht aussehen! Die Elfen hatten dem Berg sein Herz gestohlen! Ihn ausgehöhlt wie Würmer, die sich in einen Apfel fraßen. Dieser Berg war einmal der Königsstein gewesen! Die Felsenburg des Trollkönigs. Wie sollte er das je wieder sein nach dem, was die Elfen ihm angetan hatten? Ein Berg ohne Herz und ohne Würde konnte doch nicht mehr der Sitz des Herrschers sein!