»Beweise mir, dass du mein Großvater bist! Erzähl mir etwas, das nur er wissen kann.«
»Kluges Mädchen! Warum solltest du einer fremden Stimme auch trauen. Klug warst du immer schon. Erinnerst du dich, als wir im Pavillon am Meer den Lichtvogel ersonnen haben? Der Mond stand tief über der Bucht, als du zum allerersten Mal den Vogel hast fliegen lassen. Du warst noch ein kleines Mädchen. Er sah ein wenig unförmig aus, dein erster Vogel. Seine Schwingen waren wie Pergamentbögen und der Kopf nur eine Kugel.«
Lyndwyn musste lächeln. Ja, sie erinnerte sich an diesen ersten Vogel. Sie war noch ein Kind gewesen. Shahondin hatte sie danach gelehrt, wie wichtig es war, genau hinzusehen, und dass nichts Lebendiges eine zufällige Form hatte. »Zeige dich, Großvater.«
»Bitte, Kind, lass dich nicht von meinem Aussehen blenden. Die Trolle haben Ungeheuerliches an mir verbrochen. Aber ich spüre die Macht, die dich umgibt. Eine Macht, die alles zu ändern vermag. Du kannst mich zurückholen.«
Lyndwyn hatte sich für alles Erdenkliche gewappnet, doch das, was sich aus dem Schnee erhob, war etwas, worauf man nicht vorbereitet sein konnte. Der riesige geisterhafte Hund mit dem einen blutroten Auge hatte gar nichts mehr mit ihrem Großvater gemein außer dessen Erinnerungen.
»Erschrick nicht, mein Kind. Taste nach meinem Geist. Fühle, dass ich es bin!« Die Kreatur öffnete sich ihr, und was die Zauberweberin fand, war ihr wohl vertraut. Auch die Düsternis in Shahondins Seele! Dies war das Einzige, was er vor ihr abschirmte. Seine dunkle Seite. Und sie wollte sie auch nicht sehen.
»Ruf mich zurück! Erinnere dich an den Mann, der ich war. Du kannst mir allein Kraft deiner Gedanken all das zurückgeben, was die Trolle mir gestohlen haben. Denk an den Großvater, mit dem du so viele Stunden gemeinsamer Studien verbrachtest. Nutze den Albenstein! Er hat die Macht, mich zurückzuholen.«
Lyndwyn dachte fest an die fernen Tage in Arkadien, an die gemeinsamen Reisen mit dem gestrengen und so gelehrten Großvater. Daran, wie er die Stirn runzelte, wenn sie seinen Gedanken nicht zu folgen vermochte, an sein glockenhelles Lachen, wenn sie sich beim Zaubern gar zu unbedarft angestellt hatte. Sein Lachen war vergangen mit den Jahren. Zuletzt hatte sie sich gar Geheimnisse erschlossen, die ihm immer verborgen geblieben waren.
Die Zauberweberin spürte, wie sich der Albenstein auf ihrer Brust erwärmte. In Gedanken erschuf sie einen Funken aus hellem Licht und ließ ihn tanzen. So wie damals, in Vahan Calyd, als sie den Lichtvogel erschaffen hatte. Zunächst zog er nur grobe Konturen. Dann wob er Faden um Faden und zog dabei an der Essenz des Geisterhundes. Lyndwyn stahl ihm schließlich das Lebenslicht und verwob es mit der neu erschaffenen Gestalt ihres Großvaters.
Als sie ihr Werk vollendet hatte, verblasste das Licht. Nackt stand Shahondin vor ihr im Schnee. Er hob die Hände, tastete ungläubig über seinen Leib. »Welch ein Wunder!« Seine Stimme klang fremd, dunkler. Und die Worte waren verwaschen, wie von einem Betrunkenen gelallt. »Ich muss wohl erst wieder lernen zu sprechen.« Er streckte die Hand aus. »Welch eine Macht! Nun gib mir den Albenstein. Wir werden ihn nutzen, um die Trolle zu vertreiben.«
Sie wich einen Schritt zurück. Die dunkle, fordernde Stimme war ihr unheimlich. Etwas an ihrem Zauber schien missglückt zu sein.
»Du wirst dich doch nicht deinem Großvater widersetzen! Den Stein! Wir wollten ihn schon in Vahan Calyd haben. Oder hast du das vergessen? Er gehört in die Hände eines richtigen Zauberwebers. Nicht in die eines Mädchens! Du ...« Er fasste sich an die Brust. Etwas in seinem Leib war in Bewegung geraten. Seine Rippen wölbten sich vor. Unter der Haut seines Bauchs malte sich etwas ab wie ein Gesicht, das gegen dünnen Seidenstoff drückte.
Shahondin schrie. Er drückte beide Hände auf seinen Bauch. Blut war auf seinen Lippen. Etwas Dunkles zwang sich aus seinem Leib. Knirschend bogen sich die Rippen auseinander. Sie zerrissen Muskeln und Haut. Ein dunkler Hundekopf, bedeckt mit schwarz schillernden Schuppen, schob sich aus seiner Mitte. Shahondin stürzte in den Schnee. Pfoten mit langen Krallen zerrissen den Leib, den Lyndwyn erschaffen hatte. Eisige Kälte wehte von der Hundegestalt. Eine Kälte, die selbst den Winter zittern machte.
»Erschrick nicht, mein Kind.«
Wieder war diese Stimme in ihrem Kopf. Sie klang lüstern und falsch! »Ein Unfall. Ein kleines Missgeschick nur. Dein Zauber war unvollkommen, wie damals bei dem ersten Vogel, den du erschufst. Gib mir den Stein! Wir können das ändern. Alles können wir ändern.«
Lyndwyn rief ein Wort der Macht. Ein flammender Bannkreis brannte im Schnee. Sie hatte sich täuschen lassen. Was immer dort aus dem Leib des Großvaters geboren wurde, es war nicht mehr Shahondin. Diese Kreatur durfte nicht sein!
Die Zauberweberin dachte an ihren Tanz über dem Feuer. Den Traum. Den Chor der Magie. An die Hitze. Den Gedanken an die Hitze wob sie in den Leib, den sie erschaffen hatte.
Der Hundekopf bog sich zurück.
»Du kannst mich nicht... «
Lyndwyn verschloss sich vor der Stimme in ihr. Sie trug den Albenstein! Sie vermochte jeden Zauber zu meistern, dachte sie zornig.
Die schwarze Gestalt schien in Shahondins zerrissenen Leib zurückkriechen zu wollen. Sie winselte wie ein junger Welpe. Plötzlich schien sie von innen heraus zu leuchten, einem dunklen Seidenlampion gleich, in den man eine Kerze stellte. Flammen schlugen aus der Schnauze.
Der Leib, den Lyndwyn erschaffen hatte, verging in blendendem Licht. Nur ein paar Ascheflocken blieben, die vom Wind den verschneiten Hang hinabgetragen wurden.
Erschöpft sank sie in den Schnee. War diese Kreatur wirklich ihr Großvater gewesen? Sie hatte so viel über sie gewusst... Doch sie war nicht der Shahondin gewesen, mit dem sie ihre Kindheit verlebt hatte! Sie sah den Ascheflocken nach. Weit unter ihr am Hang bewegte sich etwas. Trolle! Sie mussten das Licht gesehen haben. Lyndwyn blickte zu ihrem Geliebten. Es würde noch Stunden dauern, bis Ollowain erwachte. Und auch dann wäre er zu geschwächt. Sie hatte nicht die Kraft, ihn zu tragen. Und es gab kein Versteck. Zwei Stunden vielleicht, dann wären die Trolle hier. Es sei denn ...
Traurig beugte sie sich über Ollowain und hauchte einen Kuss auf seine Lippen. »Du bist gekommen, um mich aus dem Feuer zu holen, mein weißer Ritter. Nun werde ich dich retten.« Sie drückte ihm den Albenstein in die Rechte. Um zu zaubern, fehlte es ihr an Kraft, nachdem sie ihrem Großvater einen Leib erschaffen und ihn dann wieder vernichtet hatte. Aber es gab noch einen anderen Weg, ihren Geliebten zu retten.
Sie erhob sich. Ein letztes Mal sah sie wehmütig zu Ollowain zurück. Dann ging sie den Trollen entgegen.
»Ich heisse Birga«
Lyndwyn war auf einen großen Schild gebunden. Eine enge Lederschlinge lag um ihren Hals, Arme und Beine waren weit abgespreizt und ebenfalls mit Schlingen gefesselt. Der Schild stank nach Blut und Exkrementen. Ein Auge war der Elfe zugeschwollen, und dennoch war sie bisher glimpflich davongekommen. Bisher ... Ein Stück neben dem Brett lag eine helle Haut im Schnee ausgebreitet. Darauf waren allerlei kleine Messer verstreut. Primitive Klingen aus Knochen und Feuerstein. Dunkle Flecken verrieten ihren Gebrauch. Ein zweiter Schild war Lyndwyn gegenüber in den Schnee gerammt. Die Schamanin stand dort und redete auf ein gebeugtes altes Weib ein, das sich auf einen Stab stützte.
»Ich sage dir, sie ist anders als die anderen, die man mir bisher gebracht hat, Skanga. Ich spüre ihre Macht, wenn ich sie berühre. Sie war erschöpft, sonst hätten drei einfache Kundschafter sie niemals fangen können.« Das Trollweib mit der widerlichen Maske sah zu ihr hinüber. Lyndwyn war sich sicher, dass es die Absicht der Schamanin war, dass sie mithörte, was besprochen wurde.
Die alte Vettel ließ sich durch die Einwände nicht beeindrucken. Lyndwyn hatte das Gefühl, dass dieses alte Weib das Sagen hatte.
»Du wirst heute bei Einbruch der Dämmerung gehen, Birga. Orgrim erreicht nun bald ein Dorf nahe einem großen Albenstern. So kannst du leicht zu ihm stoßen. Er braucht dich an seiner Seite. Er darf keine Dummheiten machen, wenn er mit diesem aufgeblasenen Wichtigtuer vom Mordstein zusammentrifft. Du wirst mir auf ihn aufpassen!«