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Vorsichtig tastete er sich voran. Es bestand keine Gefahr. Der Eispanzer knarrte nicht einmal unter seinen Schritten. Wieder begann er zu laufen. Seine Lungen brannten, sein Herz schmerzte bei jedem Schlag. Doch seine Angst peitschte ihn vorwärts.

Als der Mond zwischen den Wolken hervortrat, sah Alfadas in der Ferne den eingestürzten Bootssteg. Dunkel ragten die Trümmer aus Schnee und Eis. Dahinter gab es keine steilen Giebel mehr. Er hätte das windschiefe Bootshaus sehen müssen und Kalfs Hütte. Auch das kleine Haus von Erek, mit der hölzernen Wetterfahne auf dem Dach, lag dicht am Ufer. Doch es war verschwunden. Ebenso das Langhaus auf dem Hügel etwas abseits vom Dorf.

Alfadas wollte schreien, doch er hatte keine Kraft mehr. Sein Atem ging keuchend. Er sank nach vorn, als habe man ihm mit einem schweren Knüppel in die Kniekehlen geschlagen. Alle Stärke war aus seinen Gliedern gewichen. Sein Blick wanderte über die unregelmäßigen Hügel aus Schnee, dort, wo einmal Häuser gestanden hatten. Das kalte Mondlicht zeigte nun alles in unbarmherziger Deutlichkeit. Schwarze Dachbalken, die wie Rippen verrotteter Riesenleiber aus dem Schnee stachen. Halb eingestürzte Wände.

Kälte fraß sich in die Knochen des Herzogs. Leichter Wind strich über den Fjord. Feine Eiskristalle streichelten Alfadas‘ Wangen. Stöhnend wie ein Greis, kämpfte er sich auf die Beine. Es waren nur verbrannte Häuser, ermahnte er sich. Firnstayn gab es nicht mehr. Aber seine Familie ... Vielleicht waren sie ja geflohen. Schließlich hatte oben auf dem Hartungskliff das Signalfeuer gebrannt. Jemand hatte das Dorf also gewarnt! Er blickte zu dem Hügel, auf dem einst sein Langhaus gestanden hatte. Dort würde er die Antwort finden. Jetzt hielten sich Angst und Hoffnung wieder die Waage. Ja, dort oben würde er die Antwort finden.

Müde stieg er das flache Ufer hinauf. Er machte einen Schlenker an Kalfs Hütte vorbei. Zwischen den Trümmern sah er das runde Gestänge einer Fischreuse. Zerbrochene Angelruten lagen zerstreut im Schnee. Der Winter trieb ein eigenwilliges Spiel. An manchen Stellen, entlang eingebrochener Holzwände, gab es mannshohe Verwehungen. Anderswo war die Schneedecke dünn wie ein Leinentuch und vermochte kaum zu verbergen, was auf dem Boden verstreut lag.

Alfadas ging an Svenjas Hütte vorbei. Sein Fuß stieß gegen einen rußgeschwärzten, kleinen Kupferkessel, der leise klirrend davonrollte. Der Herzog hatte Angst davor, den Hügel hinaufzusteigen. Angst vor der Gewissheit, die er dort vielleicht finden würde. Solange er durch das Dorf strich, blieb ihm die Hoffnung.

In keinem der zerstörten Häuser fand er Tote. Langsam wuchs sein Mut. Sie waren rechtzeitig gewarnt gewesen! Aber wer, in Luths Namen, hatte Firnstayn angegriffen? Wer führte Krieg mitten im Winter? Und so wie es aussah, hatten die Angreifer nicht geplündert, sondern die Häuser mit allem, was darinnen war, in Brand gesetzt. Es ging ihnen nur um Zerstörung. Welchen Nutzen hatte solch ein Krieg?

Wieder blickte er zu dem Hügel. Er konnte es nicht endlos hinauszögern. Allein dort würde er eine Antwort auf seine drängendste Frage finden. Waren Asla und die Kinder entkommen?

Schweren Herzens machte er sich auf den Weg. Unzählige Male war er diesen Hügel schon hinaufgestiegen. Und so oft hatte ihn Asla zwischen den Türpfosten stehend erwartet. Oder Ulric war ihm mit Freudenschreien durch die offene Tür entgegengelaufen, um ihm in die Arme zu springen und ihn dabei fast umzuwerfen. Jetzt stand das narbige Antlitz des Mondes zwischen den verkohlten Türpfosten, und Stille empfing Alfadas. Zögerlich trat er in die Ruine, die einmal sein Zuhause gewesen war. Der lange Dachbalken beherrschte das Trümmerfeld auf dem Boden. Umgeben von verkohlten Dachsparren und zersplitterten Möbeln hatte das Feuer ihn nicht vernichten können. Alfadas erinnerte sich noch, wie sie die riesige Eiche in einem alten Waldstück auf der anderen Seite des Fjordes gefällt hatten. Es war eine elende Plackerei gewesen, sie zum Ufer zu ziehen. Von dort hatte man sie mit Booten über den Fjord geschleppt. Erst oben auf dem Hügel hatten sie den mächtigen Balken, der einmal das Dach des Langhauses tragen sollte, aus dem alten Baumstamm geschnitten.

Die Finger des Herzogs strichen gedankenverloren über das Holz. An manchen Stellen bröckelte es verkohlt. Doch nirgends hatte sich das Feuer bis zum Herzen des Stamms fressen können. Selbst der größte Teil des verschlungenen Musters, das er im Winter vor drei Jahren in den Balken geschnitzt hatte, war noch zu erkennen. Sein Blick schweifte über Schnee und Asche. Nichts sonst hatte den Brand so gut überstanden. Von den Schlafnischen waren nur Umrisse geblieben.

Alfadas zog sein Schwert und stocherte zwischen den ausgeglühten Töpfen und Pfannen herum. Sie standen noch dort, wo Asla einst ihre Feuergrube gehabt hatte. Unter einer umgestürzten Bank fand er das Holzpferd, das er einmal für Ulric geschnitzt hatte. Die Beine und der Schweif waren verschwunden. Nur der Rumpf und ein Teil des Kopfes hatten den Brand überstanden.

Alfadas säuberte die Klinge seiner Waffe und schob sie zurück in die Scheide. Hier gab es keine verkohlten Leichen. Asla und die Kinder waren nicht hier gewesen, als das Haus gebrannt hatte. Seltsamerweise verschaffte ihm diese Gewissheit nicht die Erleichterung, die er sich erhofft hatte.

Dicht neben einem Stützbalken sah er eine von Aslas Truhen. Sie war ganz verkohlt, aber nicht auseinander gebrochen. Er ging hinüber. Mit einiger Mühe ließ sich der Deckel öffnen. Zuoberst lag ein kleines blaues Kleidchen. Tränen schossen Alfadas in die Augen. Ungelenk holte er mit seinen frostroten Fingern das Kleidchen hervor. Kadlin hatte es oft gegen Ende des Sommers getragen, in dem sie gerade laufen gelernt hatte. Zärtlich strich der Herzog über den feinen Stoff. Er fand einen dunklen Blutfleck und erinnerte sich an den Tag, an dem sich Kadlin auf den Steinen am Ufer die Knie aufgeschürft hatte. Die Kleine hatte damals kaum geweint. Sie war einfach weitergelaufen, um all den Wundern nachzujagen, die nur Kinder an einem öden Steinstrand zu finden vermochten. Alfadas dachte daran, wie Asla geflucht hatte, weil sich der Blutfleck einfach nicht aus dem blauen Leinen waschen ließ. Wegen Kadlins Knie hatte sie ihn nicht getadelt. Verschorfte Kinderknie waren unvermeidlich. Aber nur ein Nichtsnutz und Tagträumer konnte ihrer Meinung nach auf die Idee kommen, seine Tochter in ihrem besten Kleid mit hinunter zum Kiesstrand zu nehmen. Alfadas legte das Kleid zurück und verschloss dann sorgsam den Truhendeckel. Ein letztes Mal sah er sich um, dann verließ er die Ruine, in der nur mehr der Wind und Erinnerungen hausten. Er stieg an der Rückseite des Hügels hinab und ging zu dem Gräberfeld. Dort sah er all die neuen Steine, und die Angst, die sich für kurze Zeit in einen verborgenen Winkel seiner Seele zurückgezogen hatte, sprang ihn erneut an.

In fliegender Eile hastete er von Stein zu Stein und wischte den Schnee zur Seite. Die meisten der neuen Steine trugen kein Zeichen. Auf einem fand er einen Tierkopf. Er war nur grob und ohne großes Geschick in den Stein geritzt. Es sollte wohl ein Hund oder Wolf sein. Lag hier Ole?

Auf dem letzten Stein fand er eine Spinne. Sie war mit großer Sorgfalt gemeißelt worden. Das Wappentier des Schicksalswebers. Die Wächterinnen der Fäden. Stöcke mit bunten Stoffbändern waren rings um das Grab in die Erde gesteckt.

Traurig kauerte sich Alfadas neben den schneebedeckten Hügel. »Gundar, alter Freund. Haben die Festtafeln Firnstayns nicht mehr genügt, deinen Hunger zu bändigen?« Er riss sich einen Streifen Stoff vom Umhang und knotete ihn an einen der Stecken. »Ich werde es vermissen, mich mit dir über deine Götter zu streiten. Vielleicht hättest du mich ja doch noch als einen Gläubigen gewinnen können.«

Leise murmelte er ein Gebet und wünschte dem Priester eine gute Reise durch die Finsternis. Dann erhob er sich und blickte über die frischen Grabhügel. Lagen auch Asla und die Kinder hier? Nein, bestimmt nicht! Zumindest in Aslas Grabstein hätte man gewiss ein Zeichen geschnitten. Vielleicht eine Ähre in Erinnerung an ihr weizenblondes Haar. Oder eine Eiche als Zeichen für ihre ruhige Kraft. Sie wäre niemals einfach nur unter einem Feldstein begraben worden! Es sei denn ... Vielleicht hatte die Not den Überlebenden keine Zeit mehr gelassen!