»Dort wirst du sie nicht finden«, sagte eine leise Stimme.
Alfadas drehte sich überrascht um. Er blinzelte in die Dunkelheit. Nur undeutlich konnte er Silwyna erkennen. In ihrer weißen Jagdkleidung verschwamm sie fast mit der Schneelandschaft. »Ich habe Spuren gefunden. Der Schnee hatte sie zugedeckt. Kufen haben tiefe Kerben in das Eis geschnitten. Dort sind auch Dellen von großen, beschlagenen Hufen. Sie ist mit der Kutsche geflohen.« Silwyna deutete über den Fjord hinaus nach Süden. »Sie sind in Richtung Honnigsvald gezogen.«
»Wer hat das Dorf verwüstet?«
Statt zu antworten, warf die Elfe ihm etwas Dunkles vor die Füße. Alfadas kniete nieder. Vor ihm im Schnee lag ein Stück grob behauener Feuerstein. »Trolle?«
»Ja. Es ist ein Stück von einem Axtblatt. Ich habe es in einem Balken gefunden.«
»Wann waren sie hier?«
Silwyna zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Der Schnee hat alle Spuren verdeckt. Es ist länger als eine Woche her, aber weniger als einen Mond. Ich kann dir auch nicht sagen, wie viele es waren. Aber gewiss ist hier nicht nur ein Jagdtrupp durchgezogen.«
Alfadas blickte über das Ruinenfeld. »Warum?«
»Die Königin. Sie müssen erfahren haben, dass Emerelle hier ist. Wahrscheinlich von einem deiner Männer, die sie in Phylangan gefangen haben. Wir hätten früher daran denken sollen«, fügte sie leise hinzu.
Der Herzog nickte. Emerelle. Das war die einzige Erklärung. Der Krieg war also ins Fjordland gekommen. Er blickte hinauf zum Hartungskliff. Eine feurige Schlange wand sich den verschneiten Hang hinab. Seine Männer hatten Fackeln angezündet. Zwei, vielleicht drei Stunden, dann mussten sie hier sein. Eine kurze Rast, dann würde er sie weiter den Fjord hinabführen. Honnigsvald mit seinen Erdwällen und Holzpalisaden würde sich nicht lange gegen die Trolle halten können. Ein paar Tage, vielleicht eine Woche ... »Du bist sicher, dass der Überfall länger als eine Woche her ist?«
»Ja«, entgegnete die Elfe knapp.
Alfadas blickte wieder auf das Eis hinaus. Wenn er seinen Männern entgegenging und sie dicht unter dem Hartungskliff vorbei nach Süden führte, würden sie mindestens eine Wegstunde nach Honnigsvald einsparen. Das war lächerlich wenig, wenn es darauf ankam, einen Vorsprung von über einer Woche aufzuholen, aber vielleicht war es zuletzt gerade diese eine Stunde, auf die es ankam.
»Was hast du vor?«, fragte Silwyna. Sie hielt leichtfüßig mit ihm Schritt.
»Einen Krieg zu gewinnen«, entgegnete er bitter. Seine Verzweiflung war wie fortgeblasen. Auch schämte er sich dafür, keinen Herzschlag lang an Emerelle gedacht zu haben, bis die Elfe von der Königin gesprochen hatte. »Du wirst mit Lysilla zurück nach Albenmark gehen. Sucht Orimedes und jeden, der ein Schwert führen kann. Allein sind wir vielleicht zu schwach, um die Trolle zu besiegen.«
»Ich werde zu meinem Volk reiten. Sicher kann ich einige Maurawan für diesen Kriegszug gewinnen.«
»Ihr würdet kämpfen, um Emerelle zu retten? Ich dachte, ihr hasst die Königin.«
»Sie würden meinetwegen kommen und für deine Familie.«
Alfadas sah Silwyna eindringlich an. »Du machst dir Sorgen um meine Familie?« Er war ehrlich überrascht und sich nicht ganz sicher, ob die Worte der Elfe vielleicht ironisch gemeint waren.
»Ich bin Teil deiner Familie, Alfadas, und ich werde es immer sein. Ich habe dein Kind unter dem Herzen getragen. Für mich ist das ein stärkeres Band als irgendwelche leicht dahingesagten Treueschwüre.«
»Ich dachte, niemand in deinem Volk weiß von unserem Kind.« Alfadas war verwirrt. Hatte sie ihn belogen? Der plötzliche Gefühlsausbruch passte nicht zu ihr.
»Jeder weiß, dass ich dich geliebt habe. Das genügt. Sie werden kommen, wenn ich um Hilfe für dich und dein Menschenweib bitte. Sie werden uns helfen, weil wir uns lieben. Für die Königin würde niemand den Wald verlassen. Versuch nicht, sie zu verstehen. Wir denken anders über Liebe und Treue als ihr Menschen. Man muss nicht unter einem Dach leben, um zusammen zu gehören. Nicht einmal in derselben Welt. Ich werde zurück sein, wenn du mich am dringendsten brauchst.« Mit diesen Worten verfiel sie in einen leichten Trab. Alfadas war zu erschöpft, um Silwyna folgen zu können. Er sah ihr nach, bis ihre helle Gestalt in der Ferne mit der Winterlandschaft verschmolz.
Der erste Wall
Eine große, knotige Hand legte sich auf die hölzerne Brustwehr. Kalfs Axt fuhr hinab. Zuckende Finger fielen dem Krieger vor die Füße. Ein schriller Schrei erklang und ging unter im Lärm der Schlacht.
Die Palisade erzitterte unter den wütenden Stößen des Rammbocks. Pfeile surrten wie riesige Hornissen von den nahen Hängen hinab. Manche der Trolle steckten zehn Pfeiltreffer weg, bevor sie endlich ihr verfluchtes Leben aushauchten.
Kalf duckte sich hinter die Brustwehr, als eine Salve großer Eisklumpen geflogen kam. Die meisten Geschosse gingen harmlos über die Brustwehr hinweg. Nur wenige zerschellten am Rand der Palisade. Von ihnen sprühten lange Splitter über den Wehrgang. Asla fluchte.
Kalf sah sie aus den Augenwinkeln an. Eine rote Furche zog sich über ihre Wange. Dunkles Blut troff hinab zum Hals. Sie presste eine Hand auf die Wunde. Er hatte alles versucht, um sie davon abzuhalten, hier oben zu sein. Aber sie hörte einfach nicht auf ihn! Und einschüchtern ließ sie sich von ihm schon gar nicht. Vielleicht war es besser, dass Alfadas sie zum Weib bekommen hatte. Kalf lächelte traurig. Nein, es war nicht besser. Sie war genau die Frau, die er in seinem Leben an seiner Seite gewollt hätte.
Vorsichtig hob der Fischer den Kopf und spähte über den Rand der Palisade. Der hölzerne Wall erhob sich vier Schritt. Hoch genug, um für diese grauhäutigen Mistkerle ein ernstes Hindernis zu sein. Trotzdem versuchten sie es immer wieder, über den Rand der Brüstung zu greifen und sich hinaufzuziehen. Besonders, wenn alle Verteidiger durch Salven von Eisklumpen in Deckung gezwungen wurden.
Da war schon wieder einer! »Vorsicht, Sigvald!«, schrie Kaff.
Der Wagenbauer sprang auf und hob seine Axt. Eine riesige Faust schnellte vor und ließ ihn rücklings vom Wehrgang taumeln. Einen Herzschlag später war der Troll über die Brustwehr gelangt. Er stieß einen schrillen Triumphschrei aus und zerschmetterte mit einem lässigen Keulenhieb den Bauern, der das Pech hatte, an Sigvalds Seite gesessen zu haben.
»Für Firnstayn!«, schrie Kalf und sprang auf. Sie mussten den Troll schnell töten. Wenn diese Bestie es schaffte, einen Teil des Wehrgangs freizukämpfen, sodass sich noch zwei oder drei seiner Artgenossen hinaufziehen konnten, dann war die Palisade verloren.
Einer von Horsas Kriegern ging das Ungeheuer an. Sein Schwert schnellte vor und zog eine klaffende Wunde in die granitfarbene Haut des Trolls. Doch der Hüne beachtete die Verletzung kaum. Seine Keule sauste hinab. Der Krieger riss im Reflex seinen Schild hoch. Kalf biss die Zähne zusammen. Er hatte es den Männern eingeschärft! Hundert Mal und öfter. Wegducken oder zur Seite springen. Zur Not sollten sie von der Brustwehr springen.
Aber auf keinen Fall den Hieb eines Trolls parieren! Es waren ausgerechnet die Krieger, die sich immer wieder zu diesem Fehler hinreißen ließen. Ein Leben lang hatte man sie im Kampf mit der Axt oder dem Schwert und einem Schild gedrillt. Es war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, die Hiebe ihrer Gegner zu parieren. Die Keule des Trolls zerschmetterte den Schild, den Arm dahinter, den Helm und den Schädel. Das Blut spritzte bis zu Asla. Ihr Gesicht war schneeweiß. Kalf drängte sich an ihr vorbei, bevor sie eine Dummheit begehen konnte.