»Jag sie davon, oder sieh zu, dass sie das Boot nicht mehr verlassen können, wenn die Verwundeten auf die Barke gelegt werden.«
Orimedes blickte ihn fragend an.
»Los, du hast meine Anweisungen doch verstanden!« Ohne abzuwarten, wie der Kentaurenfürst auf seinen schroffen Ton reagierte, wandte sich Ollowain um und eilte den Landungssteg hinauf. Je weniger Albenkinder wussten, was hier geschah, desto besser. Sie mussten bis zum Palastturm gelangen. Dort konnten sie sich leicht gegen eine große Übermacht verteidigen.
Der Schwertmeister duckte sich, als eine Feuerkugel fauchend über ihn hinwegzog. Inzwischen stand der Großteil der Schiffe im Hafen in Flammen. Wind war aufgekommen und strich wie heißer Atem über sein Gesicht. Feine Ascheflocken tanzten gleich schwarzem Schnee über den Kai.
Emerelle war zum Landungssteg heruntergetragen worden. Man hatte sie auf den Langschild eines Kriegers gebettet. Eine Seidendecke verbarg ihr verbranntes Kleid. Ihr Gesicht war geschwollen und von den Wunden so entstellt, dass man sie kaum wieder erkennen konnte. Voller Sorge sah Ollowain den großen Blutfleck, der sich immer weiter auf der Decke ausbreitete.
Lyndwyn kniete neben der Königin. Sie hielt die Hand der Herrscherin und hatte die Augen geschlossen. Half sie Emerelle? Oder war sie fanatisch genug, einfach nur dort zu sitzen und darauf zu warten, dass die Königin starb, wohl wissend, dass dies auch ihren eigenen Tod bedeuten würde? Auch sie trug jetzt einen schlichten grünen Waffenrock der königlichen Wache.
Verzweifelt sah sich der Schwertmeister um. Der Kai hatte sich inzwischen geleert. Die Flüchtlingsströme verstopften nun die Straßen der Stadt. Hier gab es keine andere Heilerin. Ihm blieb keine Wahl, als jener Frau zu trauen, die in seinen Augen eine Verräterin war.
Noch zwei weitere Verwundete lagen auf ihre Schilde gebettet neben der Königin, junge Krieger mit blassen Gesichtern. Ollowain kannte sie beide. Einer war ein viel versprechender Fechtschüler gewesen.
Der Schwertmeister blickte zu den beiden Türmen an der Hafeneinfahrt, zu jener Grenze, hinter der die Mondschatten in der Dunkelheit verschwunden war. Er dachte an Sanhardin, den Krieger, mit dem er unter Deck die Kleider getauscht hatte. Sanhardin hatte sich Ruß ins Gesicht geschmiert. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen war nicht sehr groß, aber der Krieger war ein ausgezeichneter Schwertkämpfer. Zuletzt würde das mehr als alles andere zählen. Sanhardins Schwester hatte Lyndwyns Kleider angelegt. Sie beide wussten, dass Hallandan den Befehl hatte, nicht zu entkommen. Der Fürst würde dafür sorgen, dass die Liburne der Königin gestellt wurde und ihre Feinde die falschen Schlüsse zogen. Ob der Totentanz der Mondschatten schon begonnen hatte?
Ollowain sah sich um. Einige Türme der Stadt waren noch immer von Lichtzaubern umspielt. Schwarze Rauchsäulen stiegen fast senkrecht in den Himmel. Es war noch immer windstill. Eine große Galeere versuchte aus dem Hafen zu entkommen. Ihre Ruder wurden ausgerannt. Das dunkle Wasser schäumte auf, als das schlanke Schiff rückwärts vom Kai hinaus ins Hafenbecken glitt. Eine plötzliche Bö strich von den Mangroven her über die Stadt. Einige der brennenden Schiffe lösten sich von ihren Ankerplätzen. Verzweifelt versuchte der Steuermann an Bord der Galeere auszuweichen. Der massige Rumpf eines arkadischen Rundschiffs zersplitterte die Backbordruder. Ein Holk trieb quer zur Hafeneinfahrt. Schon sprangen die ersten Ruderer von Bord der Galeere. Ihr Schiff saß rettungslos gefangen. Im Hafenbecken schwammen tausende Kerzen auf Korkstücken, und daneben trieben festlich gewandete Leichen.
Der hölzerne Landungssteg erzitterte unter den Hufen der Kentauren.
»Setzt die Sänfte dort ab«, befahl Yilvina. Sie sollte das Kommando führen, damit Ollowains Tarnung nicht aufgedeckt wurde. Bisher beachtete niemand die schwer verletzte Königin, die zwischen den anderen Verwundeten lag. Aber wenn Ollowain erkannt wurde, wäre auch die List bald durchschaut. Jedes Kind in Albenmark wusste, dass der Schwertmeister in Zeiten der Not immer bei der Königin blieb. Solange aber nicht sicher war, wie viele Verräter es außer Lyndwyn und dem Bogenschützen, der auf Emerelle geschossen hatte, noch gab, war es besser, wenn es hieß, die Königin sei an Bord der Mondschatten geflüchtet.
Vorsichtig wurden die Verletzten auf die seltsame Sänfte gebettet. Gondoran, der Anführer der Holden, hüpfte zwischen den Elfen umher und gab selbstbewusst Anweisungen. Ollowain war mit drei anderen Leibwachen von Bord gegangen. Bisher hatte keiner von ihnen besonders auf ihn geachtet. Wie beiläufig zog er die seidene Decke der Königin ein wenig höher, sodass sie einen Teil ihres Gesichts bedeckte. Ihr Antlitz war kalt wie das einer Toten. Ihn schauderte. Die Königin durfte nicht sterben!
Er stieg aus der Sänfte und stellte sich zu den anderen Wachen unter Yilvinas Kommando. Nur Lyndwyn blieb bei den Verwundeten. Sie hatte jetzt eine Hand auf Emerelles Brust gelegt. Die Lippen der Magierin bewegten sich lautlos.
Ollowain blickte verstohlen zu dem Blutfleck auf dem Seidentuch.
Auf ein Zeichen Yilvinas wurde die Sänfte vorsichtig angehoben. Einer der Verwundeten stöhnte leise. Im Schritt machten die Kentauren sich auf den Weg. Ollowain musste fast laufen, um mit ihnen mithalten zu können.
Inzwischen standen auch viele der Lagerhallen am Hafen in Brand, und der Schwertmeister konnte sehen, wie die Flammen weiter auf die Stadt übergriffen. Die Luft war so heiß, dass jeder Atemzug schmerzte. Yilvina führte sie an der Uferstraße entlang. Der direkte Weg zum Palast war versperrt. Dort, wo die Feuerkugeln in die dicht gedrängten Reihen der Flüchtlinge geschlagen waren, lagen nun Tote und Verletzte. Niemand kümmerte sich um sie oder versuchte, die Lagerhäuser zu löschen.
Eine Gestalt in brennenden Gewändern kam schreiend aus einer der Seitengassen gelaufen und stürzte sich ins Hafenbecken. Bald waren sie hilflos eingekeilt zwischen Kobolden, Elfen und einer kleinen Gruppe Minotauren, die sich mit gesenkten Hörnern Platz verschafften. Auenfeen stürzten mit versengten Flügeln aus dem Himmel und versuchten sich in Haaren und Gewändern der Flüchtlinge festzukrallen. Die meisten von ihnen wurden zu Tode getrampelt.
Der Wind wurde immer stärker. Sengend heiß zerrte er an Ollowains Waffenrock. Der Schwertmeister riss sich den Helm vom Kopf. Seine Wangenklappen waren so warm geworden, dass sie ihm die Haut verbrannten. Auch die anderen drei Elfen taten es ihm gleich. Ihre Gesichter waren gerötet und von Brandblasen entstellt. Funken erfüllten wie glühender Hagelschlag die Luft. Fauchend fuhr der Wind durch die engen Gassen des Hafenviertels und fachte die Flammen immer weiter an.
Gondoran hüpfte an Bord des Nachens hin und her und erstickte die Funken, die auf die Verletzten niedergingen. Winkend scherte Yilvina aus dem Strom der Flüchtlinge aus und brachte sie auf einen leeren Kai. »Wir brauchen Wasser«, keuchte sie. Ihre Lippen waren aufgesprungen, die Augen rot. »Dort vorne stehen Eimer. Tränkt eure Kleider mit Wasser!«
Ollowain gehorchte. Er eilte eine steinerne Treppe hinab, die vom Kai nach unten führte, und bildete den Anfang einer Eimerkette. Selbst das brackige Hafenwasser war schon unangenehm warm. Der Sturmwind hatte so sehr zugenommen, dass aus den brennenden Schiffen meterlange Flammen fast waagerecht über das Wasser schossen. Ein Stück entfernt sah er eine Auenfee, die sich verzweifelt an einem Hafenpolier festklammerte. Ihre hauchzarten Flügel waren in der Hitze zu gallertartigen Klumpen zerschmolzen. Flehend sah sie zu Ollowain. Dann wurde sie fortgerissen, so als habe eine unsichtbare Faust sie ergriffen, um sie auf den Scheiterhaufen der brennenden Schiffe zu schleudern.
Der Krieger vor Ollowain schüttete sich einen Eimer Wasser über den Kopf. »Nur du noch«, rief er dem Schwertmeister entgegen.
Ollowain tat es ihm gleich und beeilte sich, den Anschluss an die anderen nicht zu verlieren.