Выбрать главу

Sie hatten sich der Insel nun auf fast hundert Schritt genähert. Zwei Trolle mit Fackeln standen am Eingang einer felsigen Bucht. Nahe der Insel war die See zerwühlt. Riffe schienen die Bucht zu schützen wie Mauerringe eine Burg.

Das Boot begann in der unruhigen See zu schaukeln. Gischt sprühte ihnen in die Gesichter. Der Bootsführer riss die Ruderpinne herum und brachte sie auf einen Kurs parallel zu den Riffen. Sie hielten jetzt auf einen Zeugenbaum zu, der wie ein Wachturm am nördlichen Ende der Zufahrt stand.

»Wir kommen hier nicht durch!«, rief der Bootsführer verzweifelt. »Die Ebbe hat bereits begonnen. Das Wasser steht zu niedrig, um noch in die Bucht einfahren zu können. Die Riffe würden uns den Rumpf zerreißen.« Orgrim sah, dass das Fahrwasser dicht beim Baum ruhiger war. »Versuch es dort drüben!«

Der Bootsführer schüttelte den Kopf. »Dort müssen Wurzeldornen sein! Die sind nicht weniger gefährlich als die Korallen.«

»Mamk, überlass Orgrim das Ruder!«, befahl Skanga.

Der Bootsführer sah ihn hasserfüllt an, erhob sich aber von seinem Platz im Heck. Als Orgrim sich an ihm vorbeidrängte, zischte ihn der andere an: »Du hast wohl vor, jetzt jeden Tag ein Boot zu versenken, Klugscheißer! «

Orgrim versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber die Worte hatten ihn tief getroffen. Warum hatte er auch nicht den Mund gehalten? Das war nicht sein Boot. Es ging ihn nichts an, wenn der Bootsführer vor einer schwierigen Passage kniff. Jetzt hatte er den Ärger am Hals. Und er konnte sich keine Niederlage mehr leisten. Er nahm auf der Bank im Heck des Bootes Platz und legte den rechten Arm auf die Pinne des Ruders. Das dunkle Holz schmiegte sich angenehm in seine Hand. Orgrim schloss die Augen und versuchte eins zu werden mit dem Boot und der aufgewühlten See. Er spürte, wie die Wellen den Rumpf sanft hoben.

»Die Ruder flach!«, befahl er mit fester Stimme.

Zwei Dutzend Männer starrten ihn an. Die meisten von ihnen blickten unfreundlich. Offenbar war der Bootsführer beliebt. Zumindest beliebter als irgendein dahergelaufener Fremder, dem der Ruf vorauseilte, dass er auf dumme Art ein Schiff verloren hatte.

Orgrim konzentrierte sich ganz auf die Wellen. In den kalten Meeren des Nordens, die er mit der Donnerer befahren hatte, war es so, dass jede siebte Welle mit größerer Kraft heranrollte. Doch dies hier war eine andere Welt. Ein fremder Ozean, in dem Bäume wuchsen. Hier mochte das Meer einen ganz anderen Rhythmus haben. Jetzt! Das Boot war stärker angehoben worden. Er drehte es in die Welle und begann zu zählen. »Worauf wartet der noch?«, raunte einer der Ruderer.

Nicht aus der Ruhe bringen lassen, dachte Orgrim. Vier. Er spähte auf die enge Durchfahrt. Gerade weil der Mond wie eine Laterne am Himmel erstrahlte, erschienen Orgrim die Schatten der Nacht nur umso tiefer. Er konnte einzelne Wurzeldornen erkennen. Aber sie schienen im Bereich der Durchfahrt keine geschlossenen Kreise zu bilden. Jemand hatte eine Bresche in die Verteidigungswälle des Zeugenbaums geschlagen. Auf irgendeinem Weg mussten doch auch die Elfen in die Bucht gelangt sein. Orgrim konnte sich nicht vorstellen, dass diese Wichte immer bis zum höchsten Stand der Flut warteten. Das passte so gar nicht zu ihrer überheblichen Art. Sie hatten sich einen Weg gebahnt. Ganz bestimmt!

»Alles vor!«, kommandierte er.

Und sicher haben sie auch eine Falle gestellt, meldete sich eine leise Stimme in seinem Hinterkopf. Heimtücke war einer der ausgeprägtesten Wesenszüge dieser Wichtel. Orgrim starrte angespannt in die Finsternis. War da etwas?

»Wagst du die Durchfahrt nicht, nun, da du das Ruder führst?« fragte Skanga.

Orgrim fühlte, wie sich seine Gedärme zusammenzogen. Den Zorn der Schamanin zu erwecken, war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Seine Faust schloss sich fester um die Ruderpinne. »Und los! Pullt!«, befahl er den Männern.

Die Trolle legten sich so kräftig in die Riemen, dass das Boot einen regelrechten Satz nach vorn machte. Orgrim steuerte an einigen Wurzeldornen vorbei. Sie waren dem felsigen Ufer sehr nahe gekommen. Wieder spritzte Gischt ins Boot. Wie eine riesige Hand zerrte die Macht der Gezeiten an dem zerbrechlichen Gefährt. Sie hatten das ruhige Fahrwasser in der Bucht fast erreicht, als Orgrim entdeckte, was er befürchtet hatte. Eine letzte Reihe Dornen. Bis zu diesem Hindernis war eine Gasse durch die Dornenkränze des Zeugenbaums geschlagen. Die ganze Zeit über hatte Orgrim stumm den Rhythmus der Wellen mitgezählt. Würde die siebente Welle das Boot hoch genug anheben, um es über die Dornen zu bringen?

»Die Ruder halt! Alles zurück!«, befahl er den Trollen. Sie durften es nicht zu früh versuchen. Die Ruderer stemmten sich in die Riemen. Langsam zog der Gezeitensog sie in den Kanal zurück. Orgrim blickte hinaus aufs Meer. Da war sie. Eine feine Linie, die über die See auf sie zueilte. Einen Augenblick noch ... Sie durften nicht zu weit vom Hindernis entfernt sein, wenn die Welle sie packte.

»Und vor! Jetzt!« Die Ruderer kämpften ein weiteres Mal gegen die Gewalt der Ebbe an. Das Boot wurde von der Dünung angehoben. Sie ritten auf dem Wellenkamm. Orgrim wusste, dass dies nur für ein oder zwei Herzschläge gut gehen konnte. Ihr Boot war zu schwer und zu lang, um sich lange auf dem Wellenkamm zu halten.

Orgrim hielte den Atem an. Sie setzten über die Dornenbarriere hinweg. Da erklang ein nervenzerreißendes Knirschen. Orgrim konnte fühlen, wie das hintere Drittel des Rumpfes auf den Dornen aufsetzte. Einen Augenblick lang schien es, als wolle der Gezeitenstrom sie zurück aufs Meer ziehen. Dann schob sie eine neue Welle voran. Knirschend kam das Boot frei. Orgrim rechnete damit, dass die harten Holzdornen den Rumpf der Länge nach aufschlitzten. Ein trockenes Krachen kündete von einer gesplitterten Planke. Sie glitten in das ruhige Fahrwasser der Bucht. Ein paar Ruderschläge, und das Boot lief auf dem schmalen Sandstrand auf.

Eine Gruppe von Kundschaftern kam ihnen entgegen. Sie hoben Skanga auf ihre Schultern und trugen sie den Strand hinauf.

»Das hast du gut gemacht, Welpe!«, lobte ihn die Schamanin, als sie wieder auf eigenen Füßen stand.

»Dein Bootsführer hätte es gewiss nicht schlechter gemacht.« Orgrim war nicht im Geringsten daran gelegen, sich in Skangas Gunst einzuschleimen. »Er kennt das Boot besser. Wahrscheinlich wäre er nicht einmal auf den Wurzeln aufgesetzt.«

»Schmälere deine Taten nicht. Das erledigen deine Neider schon. Spiel ihnen nicht in die Hände, Welpe. Und jetzt komm mit! Du wirst genau tun, was ich dir sage, und keine dummen Fragen stellen.«

Der Anführer der Kundschafter gesellte sich zu ihnen. Er war ein bulliger Kerl. Ein wenig kleiner als Orgrim, hatte er eine breite Brust, die mit wulstigen Schmucknarben bedeckt war. Sie zeigten das Abbild eines Falken. Bis auf drei Zöpfe hatte der Kundschafter seinen Schädel kahl rasiert. Sie hingen ihm über die rechte Schulter hinab und waren mit Falkenfedern geschmückt. Seine Haut erschien im Mondlicht graugrün und hatte helle Einsprengsel.

Der Blick des Fährtenlesers wirkte seltsam. Seine Augen strahlten eine wohlwollende Wärme aus, wie Orgrim es bei den Weibern erlebt hatte. Gewiss hatte sein Gegenüber dafür schon manchen Spott in seinem Leben geerntet. Helle Narben auf Armen und Beinen zeigten, dass er Streit nicht aus dem Weg ging. Am rechten Oberarm, halb unter den Zöpfen verborgen, zeugten vier helle Striemen vom Kampf mit einem Höhlenbären. Nein, dachte Orgrim, ganz gleich wie seine Augen aussahen, der Kerl hatte nicht viel mit ihren wohl behüteten Weibchen gemein. Selbst wenn eine von ihnen aus einer Laune heraus darauf bestand, auf die Jagd zu gehen, wurde sie stets von so vielen Kriegern abgeschirmt, dass ihr nichts geschehen konnte. Der Kundschafter war anders. Orgrim schätzte ihn als einen Mann ein, der gern allein in die Wildnis zog.