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»Und wenn ich einfach gehe? Ich könnte überall hingehen.«

Der Schwertmeister legte die Hand auf seinen Waffengurt.

»Glaubst du, du bist schneller durch das Tor, als mein Messer fliegt, Verräterin?«

»Ich bin eine Magierin. Es wäre mir ein Leichtes, mich vor deiner Klinge zu schützen.« Sie sah ihn herausfordernd an.

»Wollen wir es ausprobieren?«

»Wenn ich sterbe, sitzt du hier fest.« Sie deutete nach Süden. Der Kentaur war nur noch ein kleiner schwarzer Punkt zwischen den verschneiten Hügeln. »Orimedes kann dich nicht mehr sehen. Die Kälte wird dich umbringen, wenn du hier zurückbleibst.«

»Glaubst du, das würde mich von irgendetwas abhalten?« Lyndwyn senkte den Blick. »Und die Königin? Wer holt Emerelle aus dem Land der Menschen, wenn du stirbst?«

»Orimedes weiß, wo Emerelle ist. Er wird sie retten, wenn ich es nicht mehr kann.«

»Deshalb also hat die Königin dich ausgewählt.«

»Wovon redest du?«

»Von dir, Ollowain«, fuhr ihn die Magierin aufgebracht an.

»Es gibt dich gar nicht. Du kennst nur das Ziel, und du opferst alles, um dorthin zu gelangen. Das könnte ich verstehen, wenn du es für dich tun würdest. Aber du bist nur eine leere Hülle. Es gibt eine Sorte Wespen, die legen ihre Eier in andere Insekten. Die Brut zerfrisst diese Wirte langsam von innen heraus. So bist du, Ollowain. Eine leere Hülle, in die Emerelle ihre Eier abgelegt hat. Dich gibt es nicht mehr. Du lebst nur zu ihrem Nutzen.«

»Bist du fertig?«

Sie sah ihn nur wütend an. Oder war da noch etwas anderes in ihrem Blick?

»Bring mich nach Phylangan!«

Sie verbeugte sich wie eine Dienerin. »Wie du befiehlst, mein Gebieter.« Lyndwyn kniete sich neben den abgestorbenen Baum. Ihre linke Hand tastete über den Schnee. Die Rechte legte sie auf ihr Herz. Die Magierin schloss die Augen.

Ollowain trat dicht an sie heran. Sie war hübsch. Davon durfte er sich nicht blenden lassen! Vor allem war sie die Enkelin Shahondins. Sie war eine Verräterin.

Ein Tor aus warmem, rotem Licht erhob sich. Es hatte die Farbe des Abendrots nach einem klaren Sommertag. »Gehen wir!« Er packte Lyndwyn grob am Handgelenk und trat in das Nichts. Fünf Schritte nur auf dem goldenen Pfad, und sie standen vor einem Tor, das in allen Farben des Regenbogens erstrahlte. »Das Ziel«, sagte die Magierin.

Ollowain hielt sie noch immer am Handgelenk. Er war ihr ausgeliefert. Von hier aus war es ihm unmöglich zu sagen, ob sie ihn wirklich nach Phylangan gebracht hatte. Ebenso gut mochte das Tor in den Fürstenpalast von Arkadien führen. Mitten in Shahondins Schlangengrube. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Entschlossen trat er durch das Licht. Ein Abgrund lag vor seinen Füßen. Er stand auf einer Brücke aus milchweißem Stein. Es gab kein Geländer. Der Boden war poliert. Jedes Wasser musste abperlen. Die Shalyn Falah! Das konnte nicht sein! Es gab keinen Albenstern auf der Brücke! Und die Steilklippen dort waren nicht mit Wald bedeckt.

Verwirrt sah der Schwertmeister sich um. Die Brücke ragte nur ein kleines Stück in einen Talkessel hinein, der wohl zwei Meilen oder mehr durchmessen mochte. Die steilen Berghänge waren terrassiert. Die Mauern ahmten Felsstrukturen nach, sodass sie auf den ersten Blick kaum auffielen. Es war ihr eleganter Schwung, der sie verriet. Nach keinem erkennbaren System geordnet, erhoben sich steile Felsnadeln aus dem Tal. Die höchsten schienen bis fast in den Himmel zu reichen. Feine weiße Wasseradern rannen von ihren Spitzen hinab durch gewundene Riefen im blaugrauen Granit. Das ganze Tal wirkte zu harmonisch, um natürlich zu sein. Ollowain kannte es. Fast fünfhundert Jahre waren vergangen, seit er zum letzten Mal hier gewesen war. Die Himmelshalle war damals noch viel kleiner gewesen.

Der Schwertmeister legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel über ihren Häuptern war Illusion. Es war durchscheinend blauer Fels, so wie auf der Insel bei Vahan Calyd. Doch hier hatte man alle Metalladern entfernt, um die Illusion noch wirklicher erscheinen zu lassen. Und es gab sogar echte Wolken! Sie hingen unter der durchscheinenden Decke. Die Wolken bewegten sich nur vage, so wie Nebelschleier an einem windstillen Morgen. All das hier war eine riesige Höhle. Das Herz von Phylangan, dem steinernen Garten, der Felsenburg, die am einzigen Pass zur Hochebene von Carandamon wachte. Bei seinem letzten Besuch hatte der Albenstern noch in einer Grotte weit oberhalb der Himmelshalle gelegen. Die Baumeister und Magier der Normirga mussten die Halle gewaltig ausgedehnt haben.

»Bring mich von hier fort«, sagte Lyndwyn leise. Sie zitterte am ganzen Leib. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in den Abgrund.

Ollowain seufzte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie stand nur einen Schritt hinter ihm. »Komm.«

»Ich ... Ich kann nicht.« Lyndwyn ging in die Hocke. Sie presste beide Hände fest auf den Boden. Noch immer blickte sie wie gebannt in den Abgrund. »Es ist, als rufe mich die Tiefe«, stammelte sie. »Ich soll springen. Fliegen wie ein Vogel.«

»Schließ deine Augen«, sagte Ollowain. »Du darfst nicht hinsehen. Ich werde dich hinüberführen. Komm.« Der Schwertmeister ging neben ihr in die Hocke. »Wende deinen Blick ab.«

»Das ... der Abgrund, er hält mich gefangen. Ich ...«

Er griff unter ihr Kinn und zwang sie, ihm ins Antlitz zu sehen. »Siehst du meine Augen? Verlier dich in diesem Abgrund. Sag mir, welche Farbe sie haben.« Sie wollte den Kopf wieder zur Seite neigen, doch er hielt ihr Kinn fest. Ihre Haut war klebrig vor Schweiß. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

»Wie sehen meine Augen aus?«

»Sie sind grün.«

Der Schwertmeister griff sie am Handgelenk. Noch immer presste sie ihre Handflächen auf den Boden. Ihre Finger krümmten sich in dem vergeblichen Versuch, Halt auf dem glatten Stein zu finden.

»Du wirst jetzt aufstehen. Und sieh mir weiter in die Augen! Findest du nicht, dass grün eine unangemessene Beschreibung ist? Was für ein Grün ist es? Sieh genauer hin.« Ollowain erhob sich. Er hielt Lyndwyn mit seinem Blick gefangen. Zögerlich richtete sich die Magierin auf.

»Deine Augen haben die Farbe von Moos, wie man es auf den Steinen des versiegelten Albensterns nahe der Shalyn Falah findet. Deine Iris ist eingefasst von einem dünnen, schwarzen Rand. Das Grün ist nicht ebenmäßig. Feine Lichter und Schatten durchziehen es.«

Ollowain ging langsam rückwärts. Lyndwyn folgte ihm mit unsicheren Schritten. Er hielt nun ihre beiden Hände. Er musste in ihr Antlitz sehen, damit sie ihren Blick nicht abwendete. Unter ihnen ging es mehr als zweihundert Schritt in die Tiefe.

»Wenn der Abgrund deiner Pupillen sich weitet, wandelt sich das Grün. Es wird dichter. Dunkler. Ich sehe mein Spiegelbild in deinen Augen. Verzerrt. Eine groteske Kreatur. So finde ich in deinen Augen wohl ein Abbild dessen, was du in mir siehst.«

Lyndwyn war ihm sehr nahe gekommen. Ihr Atem berührte sanft seine Lippen. Sie war schön ... Begehrenswert. Ollowain räusperte sich. Ging es dieser verfluchten Magierin schon wieder so gut, dass sie versuchte, einen Liebeszauber auf ihn zu legen? Hatte sie die Höhenangst nur vorgetäuscht?

»Es ist die Krümmung meiner Augäpfel, die dein Spiegelbild verzerrt, Lyndwyn. Nicht mehr und nicht weniger steckt dahinter.«

»Deine Augäpfel sind von makellosem Weiß«, fuhr sie fort, ohne auf seinen Einwand einzugehen. »Es gibt keinen Anflug von Gelb, keine geplatzten Adern, die das Weiß mit obszönem Rot beleidigen. Deine Augenwimpern sind dicht. Sie erheben sich in sanftem Schwung. Manche Elfe würde dich um diese Wimpern beneiden. Sie sind makellos, so wie der Ruf des Wächters der Shalyn Falah. Des Schwertmeisters. Des Vertrauten der Königin, der nur seine Pflicht kennt.«

Ihre Stimme war ein wenig zu dunkel für eine Frauenstimme. Doch gerade das ließ sie in Ollowains Ohren umso sinnlicher klingen. Die Stimme stand in starkem Gegensatz zu den schmalen Lippen. Sie wirkten ungeküsst. Was dachte er denn für einen Unsinn! Auch Lyndwyns Augen waren grün. Doch sie waren von einem lichten Grün, durchsetzt mit goldenen Sprenkeln.