Der Schwertmeister versuchte sich ganz auf seine Schritte zu konzentrieren. Er senkte seinen Blick nicht, doch er verschloss sein Herz vor dem, was er sah. Lyndwyn hatte etwas an sich, das ihn tief berührte und seine Gefühle verwirrte. Sie wusste, wie es war, sich einer Idee zu opfern. Die Vollkommenheit anzustreben. Alle anderen zu überflügeln. Welche Schwäche wollte sie wohl hinter ihrem Ehrgeiz verstecken?
Nein, schon wieder waren seine Gedanken ihr viel zu nah! Sie war eine Verräterin! Achte nur auf die Schritte, ermahnte er sich. Er spürte den festen Stein durch die weiche Sohle seiner Stiefel. Glatt, rutschig war er. Und doch war diese Brücke nicht so tückisch wie die wirkliche Shalyn Falah. Es gab kein Sprühwasser, das den Stein benetzte. Keine böigen Winde, die an den Kleidern zerrten.
»Glaubst du, dass Augen das Fenster zur Seele sein können?«, fragte Lyndwyn.
»Fände ich Gold in deiner Seele?«
»Da du mich für eine Lügnerin und Verräterin hältst, wirst du dir diese Frage wohl selbst beantworten müssen, denn welchen Wert hätten meine Worte für dich?«
Ollowain war überrascht. Sie sagte das nicht vorwurfsvoll. Im Gegenteil. Ihre Stimme klang eher traurig. Sei auf der Hut, ermahnte sich der Schwertmeister. Sie treibt nur ihr Spiel mit dir. Sie will dich einfangen! Dein Misstrauen mit sanften Worten einlullen.
Der Boden knirschte unter Ollowains Schritt. Der Stein war nicht mehr poliert. Er hatte eine raue Oberfläche, auf der die Sohle besseren Halt fand. Der Schwertmeister blickte über die Schulter. Sie hatten die Brücke verlassen. Jemand klatschte.
»Seit mehr als hundert Jahren bin ich der Wächter der Mandan Falah, und noch nie habe ich jemanden auf diese Weise über die Brücke schreiten sehen.«
Ein Elfenkrieger trat hinter einem Rosenbusch hervor. Er trug einen blassgrauen Waffenrock, dessen Säume mit einer dünnen, silbernen Borte abgesetzt waren. Von seinen Schultern wallte ein langer Umhang in dunklem Rot. Er wurde von einer ringförmigen Fibel gehalten, die eine Schlange zeigte, welche sich selbst in den Schwanz biss. Der Schwertgurt und die Lederscheide der Waffe waren vom gleichen Rot wie der Umhang. Ebenso der Pferdeschweif, der den hohen, spitz zulaufenden Helm schmückte, den der Wächter lässig unter seinen Arm geklemmt hatte.
Der Elf hatte langes, fast platinblondes Haar, das ihm in Locken auf die Schultern herabfiel. Seine blasse Haut und die ebenmäßigen Züge gaben seinem Antlitz etwas Puppenhaftes.
»Ihr seid der Glanz dieses Mondes«, sprach der Wächter mit weicher, einschmeichelnder Stimme. »Es geschieht nur sehr selten, dass jemand durch den Albenstern in die Himmelshalle tritt. Hättet ihr die Freundlichkeit, euch vorzustellen?«
»Ich bin Ollowain, Schwertmeister der Königin Emerelle, und dies ist Lyndwyn, Magierin an Emerelles Hof.« Der Wächter schürzte die Lippen. »Eure Antwort ist so spröde, wie euer Erscheinungsbild abenteuerlich ist. So sagt mir nun, was euer Begehr ist.«
Obwohl der Krieger mit seinen Worten die größtmögliche Distanz hielt, bemerkte Ollowain in seinem Blick eine kaum verhohlene Neugier. Er war sich sicher, dass der Krieger seinen Namen schon gehört hatte. Wer an dieser makaberen Kopie der Shalyn Falah wachte, wusste mit Sicherheit, wer über viele Jahrzehnte das Kommando an jener Brücke geführt hatte, die das Vorbild für die Mandan Falah war. »Wir wünschen Landoran zu sprechen, den Fürsten der Snaiwamark und der Hochebene von Carandamon. Wir reisen im Dienst unserer Herrin, der Königin Emerelle. Und unser Begehr duldet keinen Aufschub.«
»Gestatte mir, euch darauf hinzuweisen, dass es an mir liegt, über die Dringlichkeit des Begehrens nicht geladener Gäste zu entscheiden. So sehr es dem Fürsten gefällt, mit weit gereisten Gästen zu plaudern, so sehr nehmen ihn auch seine Pflichten in Anspruch. Ich werde ihm einen Boten schicken. Darf ich euch in den Gästepavillon bitten, bis uns eine Antwort erreicht?«
Der Wächter klatschte in die Hände, und hinter dem Rosenbusch trat ein Kobold hervor. Der kleine Kerl trug eine graue Livree und schwarze Stiefel, die mit silbernen Knöpfen verziert waren. Die Farben harmonisierten mit seiner dunklen, olivfarbenen Haut. Das Grau der Livree war gedeckter als jenes, das der Elfenkrieger trug.
»Dolmon, du hast gehört, was unsere Gäste vorgetragen haben. Berichte dem Fürsten bitte davon. Ach ...« Der Krieger wandte sich wieder an Ollowain. »Du hast nicht zufällig ein Schreiben, das dich als einen Gefolgsmann der Königin ausweist?«
»Nein. Ehrlich gesagt, ist es das erste Mal, dass man mich aufhält, wenn ich in Diensten der Königin reise. Aber ich sehe ein, dass man Zugeständnisse an die Abgelegenheit von Phylangan machen muss. Inmitten der Wildnis ist natürlich nicht bekannt, wer ein Vertrauter der Königin ist.« Ollowain bemerkte, wie der Kobold hinter dem Rücken seines Herrn grinste.
»Du darfst gehen, Dolmon«, sagte der Wächter. »Und trödele nicht herum!«
»Darf ich auch deinen Namen erfahren?«, fragte Ollowain.
»Nur für den Bericht, den ich meiner Königin über meine Reise vorlegen muss. Du wärst erstaunt, wenn du wüsstest, wie buchhalterisch Emerelle in manchen Angelegenheiten ist.«
Der Wächter straffte sich. »Ronardin heiße ich.«
»Sehr schön, Ronardin. Dann geleite uns nun in den Gästepavillon, und sei bitte so diskret, meine Reisegefährtin nicht durch deine Blicke zu brüskieren.« Der Krieger hatte gar nicht in Lyndwyns Richtung geschaut, dennoch erblasste er. Er beeilte sich, ihnen voranzugehen und sie zu einem kleinen Marmorpavillon zu bringen. Von dort aus hatte man einen wunderbaren Blick auf die Himmelshalle und die Mandan Falah. Die Brücke war der Shalyn Falah in allen Einzelheiten nachempfunden. Nur, dass sie mitten im Schwung im leeren Raum endete. Vom Pavillon aus gesehen, waren ihre weiten Bögen wie Fenster, die die Landschaft zergliederten. Diese Gartenlandschaft zu pflegen, musste unendliche Mühen kosten. Mühen, die vermutlich auf den Schultern unzähliger Kobolde lagen. Die Himmelshalle mochte größer geworden sein, aber an den wesentlichen Dingen, die die Gesellschaft der Normirga ausmachten, hatte sich nichts verändert. Und Ollowain war erschrocken, wie schnell er zu dem überheblichen Tonfall seines Volkes zurückgefunden hatte. Oder hatte er ihn niemals abgestreift?
Auf einem schmalen Tisch waren auf einer Silberplatte Trauben, Birnen, Äpfel und Nüsse zu einem malerischen Stillleben arrangiert. Eine Kristallkaraffe mit rotem Wein und vier kostbare Gläser rundeten das Bild ab. Ollowain nahm sich eine große Weintraube und aß sie. Ronardin stand am Eingang des Pavillons und wich jedem Blick aus. Den verleumderischen Vorwurf, Lyndwyn anzüglich angesehen zu haben, hatte er offensichtlich noch nicht verwunden. Er achtete nun peinlich darauf, ihr stets den Rücken zuzuwenden. Der Schwertmeister lächelte. Ronardin musste noch sehr jung sein, sonst wäre ihm bewusst, dass er mit diesem Verhalten den Vorwurf herausforderte, einen Gast nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu behandeln.
Der Ausblick in die riesige Höhle mit ihren künstlichen Terrassenwäldern hatte etwas Beruhigendes. Ollowain genoss die süßen Trauben und den mit Honig, Zimt und Nelken veredelten Wein. Es war leicht, sich in Phylangan wohl zu fühlen, wenn man sich den Gesetzen der Normirga fügte.
Lyndwyn hatte sich auf einer Bank niedergelassen. Die Beine weit gespreizt, saß sie in wenig damenhafter Haltung da. Sie hatte sich weit zurückgelehnt. Ihr Gesicht spiegelte Langeweile und Müdigkeit. Auch sie hatte sich eine Traube genommen. In Gedanken verloren, rieb sie eine der Früchte zwischen den Fingern.
Der Pavillon war ein guter Ort, um zu warten. Ollowains Blick wanderte über die Waldterrassen. Er könnte hier Stunden sitzen, ohne des Schauens müde zu werden. Der Anblick der Natur vermag die Seele zu heilen, hatte ihm seine Mutter vor Jahrhunderten erzählt. Damals war er zu ungeduldig gewesen, um sich dieser Wahrheit zu öffnen. Und er war auch zu jung gewesen, um an einer verletzten Seele zu leiden. Erst die Zeit hatte ihn von der Weisheit in den Worten seiner Mutter überzeugt.