»Mein Junge! Es ist schön, dich zu sehen!« Lautlos war Landoran in den Pavillon getreten. Er hatte es schon früher geliebt, überraschend zu erscheinen. Und gleich mit den ersten beiden Worten machte er Ollowain klar, dass sich an ihrem Verhältnis zueinander nichts geändert hatte. Für den Fürsten war er noch immer ein Junge. Aller Ruhm vermochte den Makel nicht aufzuheben, der ihm anhaftete. Was dies anging, waren die Gesetze der Normirga klar und gnadenlos. Wer nicht in der Lage war, sich aus eigener Kraft und völlig mühelos gegen die eisige Kälte des Landes zu schützen, der galt als Kind. Ganz gleich, wie alt er war und was er geleistet hatte. Ihm war verboten, die Felsenburgen ohne Begleitung zu verlassen, denn die eisige Kälte des Landes konnte einen binnen Stunden töten. Doch was auf den ersten Blick wie Fürsorglichkeit erscheinen mochte, war ersonnen, um die Herrschaft der Zauberweber zu stärken. Kein anderes Elfenvolk war so stolz auf seine magischen Kräfte wie die Normirga. Und weil jene, denen diese Gabe nicht geschenkt war, kaum einen Weg aus den Felsenburgen fanden, lernten die übrigen Albenkinder meist nur mächtige Zauberer aus dem Volk des Nordens kennen. Auch stammte die bedeutendste aller Zauberweberinnen, Emerelle, von den Normirga.
Dass Ollowain es gelungen war, aus dieser Tyrannei auszubrechen, war vielen seines Volkes unliebsam. Ollowain erinnerte sich, dass auch er die Gabe geerbt hatte. Doch am Tag des Todes seiner Mutter war seine Zauberkraft verloschen. Manchmal dachte der Schwertmeister, dass vielleicht nur der Wille, sich dieser Mächte zu bedienen, in ihm gestorben war. Er sah seinen Vater an, der wie kaum ein anderer das Bild der Normirga unter den Albenkindern verkörperte. Er strahlte Kälte und Macht aus, und es war schwer, seinem Blick standzuhalten. »Du hast dich auch nicht verändert«, entgegnete Ollowain. Er streckte Landoran die Hand entgegen, um ihn auf Distanz zu halten und eine Umarmung zu verhindern.
Landorans Handdruck war fest. Der Fürst hatte silbergraues Haar. Er trug ein langes, fließendes Gewand aus dunkelgrüner Seide. Sein Gesicht wirkte ausgezehrt. Ein dünner, silberner Stirnreif hielt sein langes Haar zurück. Sein Vater war sichtbar gealtert, seit sie einander das letzte Mal begegnet waren. Nur in seinen grauen Augen brannte noch die alte Kraft. Ein Duft nach frischem Grün haftete ihm an, so als habe er eben noch die Zweige eines Rosenbuschs beschnitten.
»Es ist schön zu sehen, dass du nicht zu den Toten gehörst, Junge.« Der Fürst lächelte. »Ich wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn die Nachrichten gestimmt hätten.«
»Ich sehe, du bist im Bilde, Fürst.«
»Schlechte Neuigkeiten haben Flügel.« Landoran rupfte ein paar Trauben ab. »Es heißt, die Königin sei tot. Die Trolle haben sie auf einem Platz ausgestellt und alle Überlebenden gezwungen, an ihr vorüberzugehen.«
»Ich nehme an, die Leiche war in keinem sonderlich ansehnlichen Zustand mehr.«
Der Fürst schob sich eine Traube in den Mund. »Sie trug die Schwanenkrone.«
»So einfach ist das? Eine Krone reicht aus, eine Tote zur Königin zu machen?«
»Du weißt, wie das mit Emerelle ist, Junge. Sie hat nicht nur Freunde.« Er blickte flüchtig zu Lyndwyn. »Für manche Fürstengeschlechter ist es in der Tat so einfach.«
»Gilt das auch für ihre eigene Sippe?«
Landoran hob eine Braue. »Was genau willst du? Warum bist du gekommen, Ollowain? Der Weg hierher ist dir doch sicherlich nicht leicht gefallen.«
»Ich wollte dich vor den Trollen warnen. Du weißt, dass sie hierher kommen werden. Es werden gewiss ein paar tausend sein.«
»Leg in Gedanken noch ein paar tausend drauf, und dann verdoppele diese Zahl.« Landoran schob sich eine weitere Traube in den Mund. »Es heißt, es sind zwanzigtausend.«
Ollowain sah ihn verblüfft an. »Das kann nicht sein! So viele...«
»Glaub mir ruhig. Ein Flüchtling hat es mir erzählt. Vor dem Hafen von Vahan Calyd sollen fast hundert Trollschiffe gelegen haben. Und jedes hatte mehr als zweihundert dieser Blut saufenden Ungeheuer an Bord. Die Zeit in der Welt der Menschen scheint ihnen gut bekommen zu sein. Sie haben sich vermehrt wie die Kobolde.«
»Zwanzigtausend?«, wiederholte der Schwertmeister ungläubig. Er versuchte, sich eine solch ungeheure Menge von Trollkriegern vorzustellen. Das war kein Heer mehr. Das war eine Naturgewalt! »Sie werden hierher kommen«, sagte Ollowain noch einmal nachdrücklich. »Wie willst du sie aufhalten, Landoran?«
»Niemand hat jemals die Wälle von Phylangan überwunden! Ihre Heerscharen werden an unseren Festungsmauern zerschellen, wie auch die mächtigste Welle an einer Steilküste zerbricht. Der steinerne Garten wird niemals erobert werden!«
»Nein, wird er nicht? Man hat niemals davon gehört, dass Trolle auf Schiffen fahren! Auch hat man niemals von einem so großen Trollheer gehört. Das Wort niemals scheint seine Bedeutung für die Trolle verloren zu haben.«
»Verfällst du jetzt nicht ein wenig in Panik, Junge?«
»Ich hätte mir auch niemals vorstellen können, Vahan Calyd brennen zu sehen!«, entgegnete der Schwertmeister schroff.
»Und doch ist es geschehen. Mach nicht den Fehler, in blinder Zuversicht vor dem, was kommen wird, die Augen zu verschließen.«
»Ich war in der Tat ernsthaft beunruhigt, bevor ihr eingetroffen seid«, gab Landoran zu. »Aber ihr habt ja freundlicherweise die Lösung aller Probleme mitgebracht.« Er wandte sich lächelnd an Lyndwyn. »Diese junge, ein wenig unpassend gekleidete Dame, die offensichtlich keine höfische Erziehung genossen hat, wird uns eine unermessliche Hilfe sein. Vor allem das, was sie – für neugierige Blicke so wohl verborgen – um ihren Hals trägt. Als Ronardin dich nach einem Beweis dafür gefragt hat, dass ihr tatsächlich Boten der Königin seid, hättet ihr ihm ruhig eingestehen können, dass Emerelle euch mit ihrem Albenstein geschickt hat. Hast du vielleicht geglaubt, ich würde die Aura seiner Macht nicht spüren? Mit seiner Kraft wird es uns gelingen, alle Bedrohungen zu überwinden.«
Ollowain hätte Lyndwyn ohrfeigen können. Sie hatte der bewusstlosen Königin das kostbarste Artefakt des Elfenvolkes gestohlen. Jenen Stein, der ihnen einst von den Alben geschenkt wurde, bevor die rätselhaften Alten für immer verschwanden. Es hieß, jedes ihrer Völker habe einen solchen Stein erhalten. In ihnen wohnten ungeheure Kräfte. Wer sie weise einsetzte, konnte mit ihrer Hilfe die Welt verändern.
Landoran durfte auf keinen Fall wissen, dass Lyndwyn den Stein gestohlen hatte. Andernfalls hätte er wohl keine Skrupel, sich seinerseits das kostbare Artefakt anzueignen. »Erkennst du nun die Bedeutung unserer Mission?«, fragte Ollowain herausfordernd. »Emerelle hat Lyndwyn ermächtigt, die Kraft des Albensteins im Sinne der Verteidigung von Phylangan zu nutzen. Die Königin möchte um jeden Preis verhindern, dass sich ein Massaker wie in Vahan Calyd wiederholt.«
»Wo ist Emerelle jetzt?«, fragte der Elfenfürst in beiläufigem Ton.
»An einem Ort, von dem aus sie die Verteidigung Albenmarks vorbereitet.«
»Wäre der beste Ort dafür nicht unsere Festung?«
Schwang eine Unsicherheit in der Stimme des Fürsten mit? Sein Gesicht verriet keinerlei Gefühle. Aber er wirkte angespannt. Er drückte mit Daumen und Zeigefinger auf die letzte Traube in seiner Hand, sodass sie jeden Moment zerplatzen mochte. Als Landoran Ollowains Blick bemerkte, schob er die Frucht in den Mund.
»Emerelle ist keine Kriegerin«, antwortete der Schwertmeister entschieden. Er wusste nicht, was den Fürsten verunsicherte, doch er spürte deutlich, dass er dieses eine Mal die Oberhand gewinnen konnte. Er – der gedemütigte Junge, der vor Jahrhunderten Carandamon verlassen hatte, weil es ihm nicht gelungen war, den Schutzzauber gegen die Kälte zu erlernen – war zurückgekehrt, und er würde dem Fürsten, seinem Vater, seinen Willen aufzwingen! »Der Platz der Königin ist nicht innerhalb der Mauern einer Festung, die bald von zwanzigtausend Trollen bestürmt werden wird. Sie wird versuchen, die Völker Albenmarks im Kampf gegen die alten Feinde zu vereinen. Überall anders wird sie mehr bewirken als hier. An ihrer Stelle hat sie mich geschickt. Ihr Schwert! Ihren ersten Krieger. Im Namen Emerelles fordere ich hiermit das Kommando über Phylangan und alle Truppen, die bis zur Belagerung aus den Felsschlössern von Carandamon herangeführt werden können.«