Orgrim versuchte sich die Karten der Nordlande in Erinnerung zu rufen, die er vor ihrem Aufbruch nach Albenmark studiert hatte. Phylangan lag am Ende eines langen, vereisten Passes. Von Osten führte nur dieser eine Weg zum steinernen Garten.
»Nun, Welpe, hat es dir die Sprache verschlagen?«, spottete der König. »Ist das alles, was in dir steckt? Schweigen?«
»Zwischen der Walbucht und dem Pass hinauf nach Phylangan liegt ödes Land. Die Elfen glauben, dass wir hier gebunden sind. Wenn vier oder fünf Schiffe die Flotte verlassen und nach Norden zur Walbucht segeln, wird es nicht auffallen. Ich glaube, wir werden sie überraschen können. Mit tausend Kriegern kann ich den Nachschubweg nach Osten abschneiden, bis du mit dem Hauptheer kommst, Branbart.«
»Du willst also den Nachschub abschneiden. Und tausend Krieger würden dir genügen.« Der König zog die Nase hoch und spuckte aus. »Eine solche Streitmacht müsste von einem Herzog angeführt werden. Ist es das, woran du gedacht hast, du heimtückischer Hund?«
»Du hast mich gefragt, was ich tun würde ...«
»Schweig, Orgrim! Ich kenne dich! Du willst also fort von hier und deinen eigenen Krieg führen. Das kannst du haben! Ich gebe dir ein Schiff. Zweihundertfünfzig Kämpfer!«
»Das sind zu wenige, mein König!«, warf Mandrag ein.
»Wenn die Elfen entdecken, wie schwach seine Streitmacht ist, dann werden sie ihn aufreiben.«
»Noch ein ungefragter Rat, alter Mann.« Branbart fuhr zu dem Greis herum. »Du solltest den Welpen begleiten. Er scheint dir ja sehr am Herzen zu liegen.«
»Mir liegen all unsere Männer am Herzen«, entgegnete Mandrag eisig. »Nur ein Tor verschwendet die Leben von Kriegern.«
»Na, dann steckt eure beiden Schlauköpfe zusammen und seht zu, wie ihr eure Aufgabe erledigt. Brücken an Masten zu nageln, wird diesmal nicht genügen, fürchte ich.«
Orgrim war aufgewühlt. Seine Gefühle schwankten zwischen Zorn und Stolz. Der König verlangte schier Unmögliches. Aber hatte es vor ein paar Tagen nicht auch so ausgesehen, als sei es unmöglich, die Seemauer Reilimees von Schiffen aus zu erstürmen? Jetzt hatte er ein eigenes Kommando weit ab vom Heer. Wenn er seine Aufgabe gut machte, dann würde ihm nicht einmal Branbart den Herzogstitel verwehren können.
»Er wird die Geisterwind nehmen«, entschied Skanga in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Und Birga soll ihn begleiten. Sie wird herausfinden, wie man sich in Phylangan auf die Schlacht vorbereitet.«
Birga galt als Ziehtochter Skangas, und ihr Ruf war fast so übel wie der der Schamanin. Birga war so hässlich, dass sie angeblich noch nie ein Mann berührt hatte. Und das, obwohl manche Krieger sogar mit hohlen Baumstämmen rammelten, um sich ihrer überschüssigen Säfte zu entledigen.
Die Vorstellung, dass diese Vettel künftig immer in seiner Nähe wäre, ließ Orgrim erschaudern.
Leidenschaft
Ollowain trat in blendendes Weiß. Sanft glitt die stoffbespannte Tür hinter ihm zu. Das Gemach, das man ihm in der Felsenburg zugewiesen hatte, verwirrte das Auge. Alles hier war weiß. Die Wände, das große Lager. Selbst die Bannsteine, die in den Fels eingelassen waren, spendeten weißes Licht. Sie waren so geschickt angebracht, dass er keinen Schatten warf.
Im ganzen Raum gab es keine scharfen Kanten. Die Wände gingen in sanftem Schwung in die Decken über. Das Bett war ein langes Oval. Selbst die Tür, durch die Ollowain eingetreten war, war rund. Das milchig weiße Licht trug dazu bei, die Konturen zu verwischen.
Der Schwertmeister hörte gleichmäßig Wasser plätschern. Müde sah er sich um. Sein Gemach war groß, und es war offensichtlich ganz darauf angelegt, die Sinne zu verwirren. Er schnallte seinen Schwertgurt ab und legte ihn auf sein Lager. Dann sah er sich aufmerksam um. Es dauerte eine Weile, bis er einen weißen Vorhang in einer Wandnische fand. Dahinter lag ein Bad. Auch dieser Raum war ganz in Weiß gehalten. Auf dem Wasser trieben Lotusblüten und Rosenblätter. Das Becken war in den Fels eingelassen und schien nicht sehr tief zu sein. Blasser Dampf stieg vom Wasser auf und strich Ollowain sanft über das Gesicht. Der Grund des Beckens war unregelmäßig gestaltet und forderte dazu auf, sich lang hinzustrecken. Neben dem Bassin stand ein niedriger, marmorner Massagetisch. Eine mit Leder gepolsterte ovale Öffnung lud dazu ein, den Kopf hineinzubetten. Die feuchtwarme Luft des Bades war vom Geruch exotischer Blüten geschwängert. Der Duft machte träge und schläfrig.
Ollowain kehrte zu dem Lager zurück. Er streifte die grob gewobenen Kleider ab, die ihm Alfadas geschenkt hatte, und streckte sich auf der Decke aus Schneehasenfellen aus. Wunderbar zart streichelten die Pelze seine Haut.
Nach dem Treffen im Pavillon hatte Landoran darauf bestanden, sie vor den Rat der Ältesten zu führen. Auch diese hatten ohne Umschweife zugestimmt, als es darum ging, Lyndwyn die Befehlsgewalt über Phylangan zu übertragen. Dieses Übermaß an Vertrauen passte so gar nicht zu seinem Volk, dachte Ollowain. Nie zuvor hatten sie sich jemandem unterworfen. Sie lehnten es auch seit Jahrhunderten ab, zum Fest der Lichter zu kommen, um dort Emerelle als Königin zu huldigen. Und nun beugten sie sich dem vermeintlichen Befehl der Herrscherin. Etwas stimmte hier nicht!
Selbst darüber, ein kleines Heer aus der Welt der Menschen als Waffenbrüder im Kampf gegen die Trolle zu dulden, war nicht lange polemisiert worden. In der Debatte war es allein um Nebensächlichkeiten gegangen wie etwa, was Menschen denn aßen oder wie man genügend Amulette aufbieten könnte, um sie vor der tödlichen Kälte der Snaiwamark zu schützen. Allerdings hatte Landoran es rundheraus abgelehnt, dass die Fjordländer Phylangan durch den Albenstern in der Himmelshalle betraten. Er wollte, dass sie ein Tor, etwa dreihundert Meilen entfernt, in den Ausläufern der Slanga-Berge nutzten. Ein kleiner Trupp Elfen sollte sie dort erwarten und hinauf auf die Eisebene führen, von wo aus sie nach Phylangan segeln würden. Landoran erläuterte, es sei klüger, wenn die Menschen zunächst nur wenige Elfen sahen, um sich an sie zu gewöhnen. Und sie sollten das Land kennen lernen, in dem sie Krieg führen würden. Auch wollte man versuchen, sich schon auf der Eisebene mit den Kentauren zu vereinen. All dies klang sinnvoll, und doch hatte Ollowain das Gefühl, dass der Fürst nur Vorwände suchte, um sie möglichst lange von Phylangan fern zu halten. Und der ganze Rat hatte Lyndwyn hofiert. Immer wieder musste sie den Albenstein zeigen. Und sie hatte drei oder vier Mal die erlogene Geschichte erzählt, wie Emerelle ihr den Stein anvertraut hatte. Waren sie alle blind? Oder vertrauten sie Lyndwyn, weil sie mit ihm gekommen war, dem aufrichtigen Krieger? Wieder und wieder kreisten seine Gedanken um diese Fragen.
Etwas drückte sanft auf seine Schläfen. Er war eingeschlafen. Hände legten sich zärtlich auf seine Wangen, glitten in seinen Nacken und begannen die verspannten Muskeln zu kneten.
Ollowain schlug die Augen auf. Über ihn beugte sich ein blasses Frauengesicht. Die Iris ihrer Augen war rot wie Blut. Das Haar streng zurückgesteckt, schneeweiß. Auch ihre Haut war von makellosem Weiß, sah man von den dünnen blauen Adern ab, die sich darunter abzeichneten. Ollowain hatte die Elfe noch nie zuvor gesehen. »Wer bist du?«
»Lysilla, aus dem Volk der Normirga«, sagte sie ruhig, während sie weiter seinen Nacken massierte. Träumte er noch? Ollowain sah sich unsicher um. Die weiße Kammer war wie für ihn geschaffen. Zu vollkommen, um Wirklichkeit zu sein? Obwohl ... Landoran wusste vielleicht noch, mit welcher Besessenheit er als Kind die Farbe Weiß verehrt hatte. Eine Zeit lang wollte er sogar nur weiße Nahrung zu sich nehmen.