Die Elfe reichte ihm ihren Bogen, den Köcher und die Jagdtasche, die sie über die Schulter geschlungen trug. Voller Begeisterung kletterte Ulric auf ihren Rücken. Er schlang seine Beine um ihre Hüften und legte ihr die Arme um den Hals.
»Du solltest deiner Mutter nichts von diesem Ausflug erzählen«, ermahnte ihn Alfadas.
Ulric grinste verschwörerisch.
»Mach dir keine Sorgen, ihm wird nichts geschehen«, sagte Silwyna in der Sprache ihres Volkes. »Ich bringe ihn dir wohlbehalten zurück.«
Es war ein seltsames Gefühl, Ulric mit der Elfe ziehen zu sehen. Mit jener Frau, die Alfadas einmal bis zum Wahnsinn geliebt hatte. Sie lief mit dem Jungen in den Wald hinein und war binnen Augenblicken verschwunden.
Langsam lenkte der Jarl seinen Grauen den Hang abwärts, dem Fjordufer entgegen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er das Wasser erreichte. Ulric und Silwyna erwarteten ihn schon. Sein Sohn kam ihm strahlend entgegengelaufen. Er wirkte jedoch ein wenig blass. »Wir haben ein Eichhörnchen überholt«, jubelte er. »Und jede Menge Nester haben wir gesehen. Silwyna hat mit einem Raben gesprochen.«
Alfadas zog seinen Sohn vor sich in den Sattel und gab der Elfe ihre Waffen zurück. Silwyna wirkte bedrückt. »Einen guten Jungen hast du da großgezogen«, sagte sie, sonst nichts.
Eine Stunde später erreichten sie die Fähre und ließen sich nach Honnigsvald übersetzen. Die drei Brüder, denen Alfadas beim letzten Mal begegnet war, waren verschwunden. Eine geschwätzige Alte ruderte sie in einem flachen Nachen über den Fjord. Verstohlen blickte Alfadas in die dunklen Fluten. Tief unter dem Kiel des Bootes schimmerte es silbern. Hunderte Fische schwammen nach Norden.
Am anderen Ufer hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Ein großer, vierschrötiger Krieger mit kurz geschorenem Haar stand auf einem Felsblock und sprach zu denen, die dem Ruf des Königs gefolgt waren. Der Jarl kannte den Mann. Es war Ragni, einer der Leibwächter des Königs. Der Krieger winkte ihm zu. »Dort kommt der Herzog! Seht ihn euch an! So sieht ein Sieger aus!«
Alle drehten sich um. Alfadas erkannte einige altgediente Kämpen in der Menge, Gefährten vergangener Kriegszüge. Doch es waren auch viele Männer dabei, die als Waffen nur umgeschmiedete Sensen, Hämmer oder Äxte trugen. Verarmte Bauern, Tagelöhner, Handwerker, die ihre Geschäfte verloren hatten. Junge Männer, die das Abenteuer suchten, Laufburschen. Auch die drei Brüder von der Fähre waren unter ihnen. Das war kein Heer. Es war eine Versammlung der Hoffnungslosen, jener, die im Fjordland unter dem alternden König Horsa nichts mehr zu gewinnen hatten.
»Werden die alle auf dich hören, Vater?«
»Das hoffe ich doch.« Alfadas schwang sich aus dem Sattel, gab Silwyna die Zügel und sagte dann in ihrer Sprache:
»Geh mit dem Kleinen zum Wald dort drüben. Ich möchte nicht, dass er hört, was ich den Männern zu sagen habe.«
Die Elfe nickte. Alfadas musterte sein Heer. Kaum siebenhundert Mann hatten sich hier versammelt, schätzte er. Ihm fiel eine Gruppe von Kriegern auf, die in Ketten gelegt war. Ein schwarzhaariger Kerl, dem ein Schwertstreich die Nase zerschnitten hatte, war die auffälligste Gestalt unter ihnen. Noch ein alter Bekannter, dachte der Jarl. »Na, Lambi. Hattest du wieder einmal Ärger mit den Weibern?« Die Männer ringsherum grinsten.
»Wenn der König Weiber geschickt hätte, um mich herzubitten, dann wäre das hier nicht nötig gewesen.« Er hob die Hände, sodass man die schweren Eisenringe sehen konnte, mit denen er gefesselt war. »Lass mich laufen, Alfadas. Dann werde ich den grünen Jungs hier auch nicht erzählen, was ein Winterfeldzug bedeutet.«
»Wenn ich dich gehen ließe, hätte ich die Kampfkraft meines Heers halbiert«, entgegnete der Jarl leichthin. »Wir wollen doch nicht, dass es dieser prächtigen Truppe so ergeht wie deiner Nase. Wie konnte das nur passieren?«
»Die Bastarde des Königs haben mich im Schlaf erwischt!« Er deutete auf Ragni. »Und diese schwanzlose Memme hat sie angeführt.«
»Er hat sich einem Befehl des Königs widersetzt!«, entgegnete Ragni. »Er hat es herausgefordert. Seine Güter sind eingezogen. Wenn er hier bleibt, wird er gehängt. Er sollte Horsa dankbar sein, dass er mit dir gehen darf.«
»Und was machst du hier, Ragni?«
»Horsa hat mich zum Kriegsjarl berufen. Wenn ich wiederkehre, werde ich einen großen Hof bekommen. Ich soll dir als Unterführer zur Seite stehen.«
»So sei es!« Dich hat das alte Schlitzohr billig bekommen, dachte Alfadas bei sich. Er stieg auf den Felsklotz, damit alle Männer ihn sehen konnten.
»Jeder von euch, der schon einmal in einer Schlacht gekämpft hat, hebe jetzt den Schwertarm.« Das Ergebnis war niederschmetternd. Nicht einmal jeder Zehnte meldete sich. Und ein großer Teil der erfahrenen Krieger war in Ketten hierher gebracht worden. Die Angeketteten würden niemals auf Ragni hören. Auch die Habenichtse würden dem Leibwächter, den man mit einem Titel und dem Versprechen auf Land eingefangen hatte, nur mit halbem Herzen folgen. Er brauchte noch mehr Unterführer, und er musste ein Zeichen setzen, um der Truppe mehr Zusammenhalt zu geben.
»Schaffst du es, mit einer halben Nase auf diesen Felsen zu klettern, Lambi?«
»Ich schaffe es sogar, dir dort oben in den Arsch zu treten, wenn du noch ein Wort über meine Nase verlierst, Herzog!«
Alfadas streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn auf den Stein. »Darf ich euch Lambi, über dessen Nase man nicht spricht, einen eurer Kriegsjarls vorstellen! Ich kenne ihn als guten Kämpfer und klugen Anführer. Hört auf das, was er herausbringt, wenn er gerade mal nicht flucht. Das könnte eines Tages euer Leben retten.«
»Ich glaube nicht, dass ich eine gute Wahl bin.« Lambi machte sich nicht die Umstände, leiser als sonst zu reden. »Ihr könnt es alle gerne hören: Ich verspreche unserem Herzog, dass ich abhauen werde, sobald ich Gelegenheit dazu habe. Wer freiwillig nach Albenmark geht, um dort gegen riesenhafte Trolle zu kämpfen, der muss wahnsinnig sein!«
Alfadas klopfte ihm auf die Schulter. »Wie ihr hört, ist unser neuer Kriegsjarl ein Freund des offenen Wortes. Deshalb hat er auch eine offene Antwort verdient. Du wirst als der erste Kriegsjarl in die Geschichte des Fjordlands eingehen, der seine Männer in Ketten ausbildet und in Ketten zum Schlachtfeld geführt wird. Aber glaubt mir, davon abgesehen ist Lambi ein zuverlässiger Mann, wenn ihr ihm kein Geld leiht, ihn nicht mit der Frau, die ihr begehrt, allein lasst, oder ihm dummerweise den Rücken zudreht.«
Ein Teil der Männer lachte. Vermutlich jene, die Lambi noch nicht kannten und glaubten, er habe gerade einen Scherz gemacht, dachte Alfadas. »Mag von Honnigsvald, komm herauf zu uns. Auch du wirst einer meiner Kriegsjarls sein.«
Der junge Fährmann war offensichtlich nicht begeistert von seiner Beförderung. Seine beiden Brüder schoben ihn nach vorne. Als er endlich auf dem Fels neben Alfadas stand, hatte Mag einen hochroten Kopf. Wie eine Maus die Katze, so starrte er die Menge an.
»Wie ihr seht, ist Mag kein großer Redner. Manche von euch mögen sich auch fragen: Was hat dieser junge Kerl, dass wir uns von ihm etwas sagen lassen sollen? Die Antwort darauf ist einfach. Seht in sein Gesicht. Seht den Halbmond dort!«
Mag fuhr zu Alfadas herum. Blanker Zorn stand ihm in den Augen. »Ich brech dir ...«
Der Jarl beachtete ihn nicht. »Wir alle müssen lernen, Männer wie Mag zu werden. Für mich ist der Halbmond, den er trägt, nicht das Schandmal des Diebes, es ist ein Ehrenzeichen. Er wurde gebranntmarkt, weil er Brot für sich und seine Brüder gestohlen hat. Er wusste, welches Wagnis er einging. Er wusste, dass er nicht die Kraft hatte davonzulaufen, wenn man ihn erwischte! Und dennoch hat er es getan. Ich möchte, dass ihr werdet wie er! Dass ihr für eure Waffenbrüder ohne zu zögern jedes Wagnis eingeht. Wenn jeder Mann in diesem Heer diesen Mut hat, dann werden einige wenige von uns es vielleicht schaffen, aus Albenmark zurückzukehren. Ich werde euch nichts vormachen, Männer.« Er ließ den Blick über die bunt zusammengewürfelte Schar wandern. »Abgesehen von ein paar verdienten Kriegern wie Lambi seid ihr alle freiwillig hier. Wenn ihr mit mir nach Albenmark geht, dann wird vielleicht einer von zehn überleben. Vielleicht werden wir auch alle verrecken. Und ich kann euch nicht einmal versprechen, dass ihr dort reich werdet. Wir werden gegen Trolle kämpfen. Diese Ungeheuer horten keine Schätze. Dafür werden sie euch bei lebendigem Leib fressen, wenn sie euch zu fassen bekommen. Ihr alle habt sicher schon Geschichten über Elfen gehört. Sie sind Wunderwesen. Kein Mensch kann sie im Kampf besiegen. Das stimmt. Morgen werde ich euch eine Elfe zeigen. In ihrem Volk gilt sie als unvergleichliche Bogenschützin und schlechte Schwertkämpferin. Und doch wette ich, dass sich hier auf dem Platz höchstens ein oder zwei Krieger finden, die es mit ihr im Schwertkampf aufnehmen können.«