Endlich kam der Tag der letzten Probe. Der Kriegsjarl Mag hatte es tatsächlich geschafft, zehn Stiere aufzutreiben. Doch selbst er ahnte nicht, was Alfadas beabsichtigte.
Es war kalt an diesem Morgen. Dunst stieg vom Fjord auf und hing gleich weißen Barten im Wald an den nahen Hängen. Mit dem ersten Tageslicht war ihre Truppe ausmarschiert. Alfadas stand wieder auf seinem Felsen. Ulric hielt er an seiner Seite. Alle Übrigen gingen unten entlang des Ufers in Stellung. Die Manöver der verschiedenen Einheiten liefen überraschend gut an diesem Morgen. Pikeniere, Stangenbeilkämpfer und Bogenschützen stellten sich mit dem Rücken zum Fjord auf. Auf den Flanken platzierte Alfadas je einen Trupp aus fünfzig erfahrenen Kriegern. Ragni und Lambi befehligten diese beiden Kriegereinheiten. Sie sollten die Männer vor Angriffen von der Seite abschirmen.
Alle unten am Ufer wussten, dass Alfadas für diesen Morgen eine abschließende Probe vorgesehen hatte. Danach sollte es ein Fest geben, und am nächsten Tag würde das kleine Heer in Richtung Firnstayn abrücken. Der Herzog hatte Schaulustigen verboten, sich am Ufer einzufinden. Wer zusehen wollte, der musste dies von einem Boot aus tun. Zum ersten Mal waren an alle Männer scharfe Waffen ausgeteilt worden. Es war gut, dass ein Block aus neunhundert Mann die Einheiten von Lambi und Ragni trennte. Zwischen den beiden Kriegern hatte sich in den letzten Tagen eine tödliche Rivalität entwickelt. Ragni hatte die Königstreuen um sich gesammelt und Lambi all jene, die man in Ketten nach Honnigsvald gebracht hatte. Bisher war es Alfadas gelungen, diese Rivalität zu nutzen, um beide Gruppen zu Höchstleistungen anzuspornen. Doch inzwischen war das Verhältnis zwischen den Kriegerbanden so schlecht, dass der Herzog befürchtete, sie würden sich gegenseitig an die Kehle gehen, wenn sie nur die Gelegenheit dazu hätten.
»Männer!«, rief Alfadas. Sein Atem stand ihm in weißen Wolken vor dem Mund. »An diesem Morgen wird sich zeigen, was ihr gelernt habt. Vorbei sind die Zeiten, in denen ihr gegen Weidenmänner und freundlich gesonnene Knüppelschwinger gekämpft habt. Hier und jetzt werdet ihr einem Feind aus Fleisch und Blut entgegentreten. Einem Gegner, so ungestüm und unbarmherzig, wie die Trolle es sind. Er lauert im Wald und wartet darauf, euer Blut zu vergießen. Dies ist nun die allerletzte Gelegenheit, die Truppe zu verlassen.« Der Herzog löste ein mit Silber eingefasstes Signalhorn von seinem Gürtel und hielt es hoch über seinen Kopf. Dann deutete er damit auf den dunklen Wald jenseits des Uferstreifens.
»Wenn ich dreimal ins Horn stoße, dann werden unsere Feinde aus der Dunkelheit brechen. Und so wie ihr in Albenmark nicht gegen menschliche Gegner kämpfen werdet, so werdet ihr auch hier gegen einen Feind bestehen müssen, der nicht von eurer Art ist.«
Wie um seine Worte zu unterstreichen, erklang aus dem Wald ein lang gezogenes Heulen. Ein Laut, fast wie Wolfsheulen und doch anders. Alfadas musste sich sehr beherrschen, um nicht zu lächeln. Silwyna machte ihre Arbeit wirklich gut!
Ulric hatte seine kleinen Hände in Alfadas‘ Waffenrock gekrallt. »Uns kann hier oben nichts geschehen«, sagte der Herzog leise.
Am Ufer war es totenstill geworden. Unruhe hatte die Männer gepackt. Außer den Elfen wusste niemand, was bei dieser letzten Probe geschehen würde. Die langen Nebelbänke am Ufer waren dichter geworden. Seine Männer würden erst im allerletzten Augenblick erkennen, was sie angriff.
Von der Flanke, auf der Lambis Krieger standen, erklang trotziges Gelächter. Der Rebell hatte seine Leute gut im Griff. Ihr Lachen wirkte sich auch auf die übrigen Kämpfer aus. Die Spannung ließ ein wenig nach. »Gibt es also keinen, der gehen möchte?«, fragte Alfadas erneut. »Dies ist die letzte Gelegenheit. Wer nach diesem Morgen mein Heer verlässt, den werde ich gnadenlos jagen. Jeder soll sich auf den Mann an seiner Seite verlassen können. Feigheit und Verrat darf keinen Platz in unserer Mitte haben, denn dann sind wir in Albenmark dem Tode geweiht. Wessen Herz also zu schwach ist, der soll gehen! Nicht jeder ist dazu geschaffen, ein Krieger zu sein. Und jetzt zu gehen, erfordert kaum weniger Mut, als dem Feind ins Auge zu blicken. Spottet also nicht über jene, die uns verlassen wollen.«
»Darf ich auch gehen?«, erklang die unverkennbare Stimme Lambis. »Ich bin mutig genug, mich selbst einen Feigling zu nennen, auch wenn ich niemand anderem raten möchte, so von mir zu reden.«
»Du hast deine Gelegenheit, dich zu verabschieden, verwirkt, als du von einem Weibsbild im Schwertkampf besiegt worden bist, Lambi, über dessen Nase man nicht redet.«
Alfadas‘ Worte wurden mit Gelächter aufgenommen.
»Ein Elfenweibsbild, bitteschön!«, rief Lambi beleidigt. »Ein Weibsbild, das tausend Jahre üben musste, um den großen Lambi besiegen zu können!«
Der Herzog überging die Worte des Kriegsjarls. »Also gibt es jemanden, der gehen möchte?« Das Gelächter verebbte. Tatsächlich legten etwa dreißig Männer die Waffen nieder und gingen zur Stadt zurück. Alfadas war überrascht, Kodran, den Ältesten der drei Brüder vom Fährboot, unter ihnen zu sehen.
Als jene, die der Mut verlassen hatte, im Morgendunst verschwunden waren, hob der Herzog sein Horn an die Lippen. Drei kurze, bellende Signale forderten den verborgenen Feind im Wald. Als Antwort erklang noch einmal das lang gezogene Heulen, diesmal begleitet vom Geräusch brechender Äste. Etwas Großes bahnte sich seinen Weg durchs Unterholz.
»Senkt die Piken!«, befahl Ollowain mit ruhiger Stimme. Gemeinsam mit Ronardin stand er in der vordersten Reihe, während Lysilla Lambi und seine Krieger beaufsichtigte.
»Pfeile heraus!«, rief Mag bei den Bogenschützen. Ihm war die Anspannung deutlich anzuhören.
Ein dichtes Nebelband lag zwischen dem Wald und dem Ufer. Plötzlich erbebte der Boden. Kies knirschte. Schwere Hufe donnerten vor ihnen. Selbst Alfadas konnte von seiner erhöhten Position aus nicht erkennen, was dort heranstürmte. Obwohl er freilich genau wusste, wer sie angriff.
Die Gesichter der Männer in seiner Nähe waren aschfahl. Trotz der Kälte stand ihnen der blanke Schweiß auf der Stirn. Dann brach ein großer, gehörnter Schädel aus dem Nebelgrau. Das Splittern von Piken und das Schreien von stürzenden Männern hallte über den Uferstreifen. Pfeile flogen dem unsichtbaren Gegner entgegen. Lautes Brüllen erklang als Antwort.
Eine massige, schwarze Gestalt war in die Pikenformation eingebrochen. Stangenbeilträger stürmten vor. Ihre schweren Klingen zerhackten Schultern und Schädel des Stieres. Dunkles Blut quoll über den grauen Kies. Breite Wunden klafften im Fleisch des Stiers.
Schon kamen die nächsten Bullen heran. Lambis Männer gingen brüllend zum Gegenangriff über. Eine Windbö zerteilte den Nebel. Schließlich waren nur noch drei Stiere auf den Beinen. Pfeile steckten ihnen im Rücken. Sie scheuten vor dem Kriegsgebrüll von Lambis Männern zurück.
Sieben Stiere lagen von Piken durchbohrt im Kies. Als die Männer erkannten, gegen was sie kämpften, drängten alle vor. Die Formation zerbrach, und die letzten Stiere wurden erbarmungslos niedergehauen. Alfadas war zufrieden. Sein Heer hatte sich besser geschlagen, als er erwartet hatte. Keiner der Stiere war bis zum Wasser des Fjords durchgebrochen, alle Männer waren auf ihren Posten geblieben. Als Nächstes würden sie jedoch lernen müssen, dass sie ihre Schlachtreihe nicht so schnell zersplittern durften, wenn der Sieg nahe schien.
Vom Waldrand winkte Silwyna. Alfadas setzte sein Horn an die Lippen. Noch einmal ließ er drei kurze, bellende Signale erklingen. Das Geschrei der Männer verstummte.
»Heute wollen wir es wie unsere künftigen Feinde halten und die besiegten Gegner fressen«, rief er seinen Kriegern zu. »Ihr habt gut gekämpft! Nun vergnügt euch. Morgen, bei Sonnenaufgang, werden wir nach Firnstayn marschieren.«
Heimat
Orgrim spähte in den Dunst. Er hörte das Rumoren der Gletscher. Große Eisbrocken trieben am Rumpf vorbei. Sie waren tief in die Walbucht vorgestoßen, doch seine Karten waren ungenau. Er konnte nicht bestimmen, wo sie sich befanden.