»Bist du sicher? Kannst du dir leisten, dich zu irren, Horsa?«, fragte Ollowain. »Soweit ich weiß, hast du nur diesen einen Sohn.«
Alfadas sah aus den Augenwinkeln, wie sich etwas unter den Pelzen auf dem Nachtlager des Königs bewegte. Er wollte schon sein Schwert ziehen, als er erkannte, dass Dalla, die Heilerin, dort lag. Sie schien sich im Schlaf bewegt zu haben.
Ollowains Ruhe machte dem König offensichtlich mehr Angst als der Zorn seines Herzogs. »Dann erzähl deine verfluchte Geschichte, Elf! Aber glaube nicht, das würde etwas ändern. Ich habe alles bedacht!«
»Natürlich!« Der Schwertmeister lehnte sich auf seinem Sitz zurück. »Nazirluma war einer der größten Zauberer seiner Zeit. Er war der König des geheimnisvollen Volkes der Lamassu, und die Geschichten, die man sich von ihm erzählt, sind ohne Zahl. So sollen ihn seine kräftigen Schwingen in einer einzigen Nacht über die weiße See getragen haben, obwohl selbst das schnellste Schiff drei Wochen braucht, um diesen Ozean zu überqueren. Er war berühmt für seine hintersinnigen Rätsel, und mancher Zauber, den er wob, wirkt noch immer fort, obwohl Nazirluma seit mehr als zweitausend Jahren tot ist. Gewiss würde man noch heute in den allerhöchsten Tönen von diesem außergewöhnlichen Weisen sprechen, wäre ihm nicht in seinem Alter die Elfe Aileen aus dem Volk der Maurawan begegnet. Sie kam nach Kandastan an seinen Königshof, als dort ein großes Bogenschützenturnier ausgetragen wurde. Obwohl Aileen im Wettkampf nicht obsiegte, erregte sie die Aufmerksamkeit des alten Königs, denn sie war von großer Schönheit. Als Nazirluma sie sah, wurde er von blinder Liebe ergriffen. Er ersann wunderbare Metaphern auf ihre Schönheit, ja, er dichtete einen Gesang aus über hundert Strophen, den er ihr höchstselbst vortrug. Er minnte um sie wie ein Jüngling, der zum ersten Mal sein Herz zu verschenken hat. Zunächst nahm Aileen seine Geschenke an, denn sie hielt das Liebeswerben des Königs für einen Scherz. Um sie in ihrem Irrtum zu verstehen, solltest du wissen, dass ein Lamassu den Leib eines großen Stiers hat. Aus seinen Flanken aber wachsen ihm weite Adlerschwingen, stark genug, ihn selbst auf den höchsten aller Berge zu tragen. Nur sein Haupt gleicht dem eines Elfen ... Oder eigentlich eher sogar dem eines Menschen, denn die Gesichter der Lamassu sind stets von wuchtigen Barten gerahmt. Einige Zeit verstrich, bis Aileen begriff, dass der König es mit seinem Werben tatsächlich ernst meinte. Nun sind die Maurawan bekannt dafür, dass sie ihr Herz auf der Zunge tragen und dass sie sich gern sehr bildhaft ausdrücken. Und so geschah es, dass Aileen dem König Nazirluma vor seinem Hofstaat ins Gesicht sagte, eher würde sie sich mit einem Wolf paaren als mit einem altersschwachen Stier.
Es heißt, Liebe und Hass seien zwei Seiten derselben Münze. Und so blind Nazirluma in seiner Liebe war, so maßlos war er in seinem gekränkten Stolz. Kaum hatte Aileen die hohe Halle des Herrschers verlassen, da befahl er seinen Leibwächtern, die Elfe zu ergreifen und sie die Freuden der Liebe durch einen Lamassu zu lehren, bis sie ihr Leben dabei aushauchte. Und zu ihrer Schande taten die Krieger, wie ihnen geheißen.
Aileen vermochte drei Pfeile zu verschießen, bevor sie ergriffen wurde. Mit zweien streckte sie zwei der großen Lamassu nieder. Der dritte aber war ein Gryna-Lah, ein Fluchpfeil, und ihn schickte sie senkrecht in den Himmel hinauf, denn sie wusste wohl, wer ihr die Krieger geschickt hatte. So hatte sie Nazirlumas Namen auf den Schaft eines Pfeils geschrieben und das Geschoss mit einem Zauber belegt. So lange sollte der Pfeil im Himmel verborgen fliegen, bis er einen Weg zu seinem Ziel fand.
Als Nazirluma wieder zu Sinnen kam, war es zu spät, seine Mörder zurückzurufen. Als ein Weiser kannte der König die Maurawan, ihre Magie und ihre Waffen wohl.
Und so begab er sich in eine Kammer, die keine Fenster hatte und in die weder ein Kamin noch ein Luftschacht führte. Drei Türen musste man durchschreiten, um in diese Kammer zu gelangen, und der König befahl, dass niemals mehr als eine der Türen geöffnet sein dürfe. Nazirluma verbrachte achtundfünfzig Tage in seinem selbst gewählten Gefängnis, und mit der Zeit wuchs seine Zuversicht, dass der Zauber auf dem Gryna-Lah seine Kraft verloren hatte. Auch seine Diener wurden nachlässig, denn sie spürten wohl, wie die Furcht ihres Herrn wich. So befahl Nazirluma am achtundfünfzigsten Tage, dass man ihm ein Bad richten möge. Seine Diener schleppten viele Krüge mit Wasser in den prächtigen Kerker, und bei der Plackerei geschah es, dass sie nur die äußerste der drei Türen verschlossen hielten. Diese aber war weniger sorgfältig als die anderen beiden gearbeitet, und in ihr fand sich ein Astloch, so klein, dass ich gerade einmal meinen kleinen Finger hindurchstecken könnte. Diesen Weg wählte der Pfeil und bohrte sich in das Herz Nazirlumas. Und der König verblutete in seinem Bade.«
Horsa stand der blanke Schweiß auf der Stirn, als Ollowain seine Geschichte beendete. »Was willst du mir damit sagen, Elf?«
Der Schwertmeister breitete die Hände aus. »Ist das so schwer zu verstehen? Yilvina, die Leibwächterin unserer Königin, führt stets Pfeil und Bogen bei sich. Und auf einem ihrer Pfeile steht der Name deines Sohnes Egil.« Horsa sprang auf und wollte dem Elfen an die Kehle gehen, doch Ollowain wich dem Angriff mit Leichtigkeit aus. Ein Tritt in die Kniekehle brachte den Alten zu Fall. Nun setzte ihm der Elf den Fuß auf die Brust und drückte Horsa in den Staub. Dies alles geschah so schnell, dass Alfadas keine Gelegenheit fand einzuschreiten. Und ihm war es auch nur recht, Horsa im Staub liegen zu sehen.
»Es tut mir Leid, dass dies hier nötig war«, sagte Ollowain betrübt. »Schließlich sind wir Verbündete im Kampf gegen die Trolle. Nun höre mir zu, König. Deine Drohung gegen Emerelle und gegen die Familie meines Freundes Alfadas betrachte ich als eine Verirrung. Sie war nur ein Wahn, wie er einen in der dunkelsten Stunde der Nacht überkommen mag, wenn man dem Wein überreichlich zugesprochen hat. Ich kenne Alfadas so gut, wie ich mein eigenes Herz kenne. Und ich verspreche dir, der Herzog würde niemals einen Verrat an dir begehen.«
Die Worte seines Ziehvaters beschämten Alfadas. Er musste an die Nacht auf dem Floß denken. Hatten die Jahre in der Welt der Menschen ihn so sehr verändert?
»Ich bin bereit, alles zu vergessen, was heute Nacht gesprochen wurde«, fuhr Ollowain fort. »Ich habe dein Zelt als dein Verbündeter betreten, König Horsa. Es liegt nun bei dir, ob ich es auch als dein Verbündeter verlassen werde.« Der Schwertmeister nahm seinen Fuß von der Brust des Königs und trat einen Schritt zurück.
Horsa atmete schwer. Es kostete ihn einige Mühe, sich aufzusetzen. Sein verbliebenes Auge war blutunterlaufen. »Ich habe wohl zu viel getrunken«, stieß er gepresst hervor.
»Ich sehe, wie dich die Sorge um deinen Sohn zerfrisst. Ich vermag nicht darüber zu urteilen, ob deine Ängste begründet sind oder nicht, König.« Ollowain reichte Horsa die Hand. Und zu Alfadas‘ Überraschung griff der Alte danach und ließ sich aufhelfen.
»Es gibt nur eine Macht im Fjordland, welche die Treue des Herzogs zu deinem Thron zu brechen vermag«, sagte der Elf ernst. »Und diese Macht bist du, Horsa. Bedenke dies bei allem, was du tust.«
Der massige alte Mann und der schlanke, hoch gewachsene Elf standen einander gegenüber. In Alfadas‘ Augen verkörperte Ollowain all das, was Horsa verloren hatte. Jugend, Selbstbewusstsein und Weisheit. War sich der König dessen ebenso bewusst? In seinem Blick lag eine Sehnsucht, als sähe er am Horizont den Glanz der Götterhallen. Tränen traten in sein verbliebenes Auge.
»Ich glaube, ich habe auch den tieferen Sinn der Geschichte von deinem Stierkönig verstanden. Ich danke dir dafür, dass du mir das Auge geöffnet hast«, sagte der König mit brüchiger Stimme. Dann blickte er zu seinem Herzog. »Ich wünsche dir Glück für deinen Feldzug, Alfadas. Und ich hoffe, wir werden uns wieder sehen. Brauchst du noch weitere Männer? Ich könnte dir einen Teil meiner Eskorte mitgeben.«