Er ging eine Weile neben der Frau und lauschte ihren unbeholfenen Worten. Sie beschrieb auch ihn. Nannte ihn einen dünnen weißen Mann mit goldenem Haar. Ollowain erlaubte, dass das Mädchen nach seinen Haaren tastete und über sein Gesicht. Er ließ es auch seinen Hengst streicheln, versuchte ihr seinerseits etwas zu erzählen und wunderte sich, wie hilflos seine Worte klangen, als er nun beschreiben wollte, was vor ihnen lag. Die kahle Felskuppe, auf der sich gleich den Zacken einer Krone ein Kreis aus Steinen erhob. Inmitten des Steinkreises stand Alfadas. Der Wind spielte mit dem roten Wollumhang des Kriegers. Alle blickten auf ihn. Sein Sohn Ulric, der sein braunes Pony am Zügel hielt. Asla, deren Gesicht ganz blass war. Kadlin drehte ihre Finger im Fell von Blut. Der alte Luthpriester Gundar kaute an etwas und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.
Horsa hatte die Hände in die Hüften gestützt und gab sich Mühe, königlich auszusehen, doch man merkte ihm dennoch seine Ungeduld an. Überall auf dem Hang und dem Plateau standen die Männer, die mit Alfadas gehen wollten. Lambi und seine Gefährten waren noch immer in Ketten geschlagen. Ollowain sah die beiden Brüder von der Fähre und Ole, der auf jemanden einredete, der sich ganz offensichtlich nicht mit dem Hundehändler unterhalten wollte.
Die Krieger des Herzogs waren eine abgerissene Schar. Sie trugen aufgerollte Decken, die sie sich wie große Würste über Brust und Rücken gebunden hatten. Jeder war mit Taschen und Flaschen behängt, Notvorräten für Albenmark, falls etwas Unvorhergesehenes geschah. Ihre Augen leuchteten. Sie erwarteten nicht weniger als ein Wunder.
Unruhig blickte Ollowain zum Himmel. Die Mittagsstunde war verstrichen. Eigentlich sollte sich das Tor zu den Slanga-Bergen schon geöffnet haben.
Wind strich über den Fjord und zerbrach den Spiegel des Wassers. Eine Möwe zog über sie hinweg und lugte neugierig auf all die Menschen herab. Ollowain schien es so, als fürchte der Vogel, dem Kreis aus stehenden Steinen zu nahe zu kommen. Er flog in weitem Bogen um die Bergkuppe herum.
Plötzlich schoss eine Säule aus purpurnem Licht vor dem Herzog aus dem Boden. Sie wuchs und wurde breiter, bis ein Karren mühelos durch das Licht hätte fahren können.
Alfadas hob beide Arme. Das leise Murmeln der Wartenden verstummte. Nur das Rauschen des Windes und der ferne Schrei der Möwe störten die Stille.
»Dies ist das Tor, das uns in eine Welt der Wunder und der Schrecken führen wird. Schreitet durch das Purpurlicht, und eure Vergangenheit wird von euch abfallen wie welke Schlangenhaut, wenn ihr es denn wollt. Vielleicht erwartet uns jenseits des Tores Finsternis. Vielleicht gelangen wir mit einem einzigen Schritt in die Slanga-Berge. Wenn ihr vor euch einen goldenen Pfad seht, dann folgt ihm und weicht nicht mal um ein Haarbreit von ihm ab, sonst werdet ihr auf immer im Dunkel verloren sein. Und wenn euch nun der Mut sinkt und ihr Angst habt vor dem letzten Schritt, so grämt euch nicht. Jeder, der hier auf diesem Felsen mit mir steht, ist ein Held. Denkt an die Geschichten der Skalden, an die ruhmreichen Recken vergangener Zeiten. Ihr alle seid mir bis an den Rand der Welt gefolgt. Und selbst von den kühnsten Kriegern des Fjordlands hat es vor euch nur eine Hand voll gewagt, so weit zu gehen. Ganz gleich, ob ihr Fischer, Händler oder Fährleute seid: Ihr steht den Helden der Vergangenheit in nichts nach. Schon jetzt habt ihr euren Platz in den Liedern, die dereinst in den Hallen der Könige gesungen werden. Ich verneige mein Haupt vor euch und bin stolz, an eurer Seite zu sein.«
Der Herzog verneigte sich tatsächlich. Eine Böe blies ihm sein langes Haar ins Gesicht, als er sich wieder aufrichtete. Wilde Entschlossenheit spiegelte sich in seinem Antlitz. »Asla, ich liebe dich, und ich werde zu dir zurückkehren, ganz gleich, was auch geschehen mag.« Er sagte das in einem ruhigen, feierlichen Tonfall, so als lege er einen Eid ab. Dann wandte der Herzog sich um, und mit einem Schritt verschwand er in dem gleißenden Licht.
Lysilla trat an Ollowains Seite. Sie lächelte spöttisch und sprach ihn in der Sprache ihres Volkes an. »Ein wenig pathetisch, diese Menschen.«
»Verlangen große Gefühle nicht auch nach großen Gesten?« Der Schwertmeister hielt ihren Blick einen Moment lang gefangen. Er lächelte nicht. Dann sah er hinüber zu Silwyna. Ollowain wusste, dass die letzten Worte des Herzogs ebenso sehr ihr gegolten hatten wie Asla. Doch das Gesicht der Jägerin zeigte keine Regung.
Auf der Schwelle
Vahelmin wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit Skangas Blutmagie ihn in eine ihr hörige Bestie verwandelt hatte. Tage, Wochen oder vielleicht doch nur Stunden? Im Nichts gab es kein Maß für das Verstreichen der Zeit.
Manchmal hoffte Vahelmin plötzlich zu erwachen, um zu sehen, dass all dies nur ein schrecklicher Traum war. Aber da war diese andere Kreatur ... Der Quell der dunklen Gedanken. Dieses Geschöpf war tief in ihm. Was immer er dachte, es hatte seinen Anteil daran. Wenn er hoffte, bald zu erwachen, konnte er fühlen, wie sich die Bestie in ihm regte, um sich in Erinnerung zu bringen und all seine Träume Asche werden zu lassen. Jegliche Gedanken der dunklen Kreatur drehten sich um Licht. Und doch schrak sie vor den goldenen Pfaden zurück, die sich in weiten Abständen durch das Nichts zogen. Vahelmin hatte der Bestie mühsam beibringen müssen, dass sie diese Pfade nun begehen konnten, dass der Bann, der die anderen Geschöpfe der Dunkelheit von den Albenpfaden fern hielt, für sie nicht mehr galt.
Dafür lehrte die Bestie ihn, wie man sich im Nichts bewegte. Hier gab es kein Oben oder Unten, keinen sicheren Grund, über den man schritt. Vom ersten Augenblick an hatte Vahelmin im Nichts das Gefühl gehabt zu fallen. Ein endloser Sturz in einen bodenlosen Abgrund ...
Und die Kreatur in ihm hatte sich an seiner Angst erfreut. Das Nichts war eine Welt ohne Licht, ohne Gerüche, ohne Wind, den man auf der Haut spürte. Sie war schrecklicher als jeder Kerker, denn man war eingesperrt mit sich und seinen Gefühlen, ohne dass es einen Sinneseindruck gab, der einen auch nur einen Herzschlag lang ablenkte. An diesem Ort war es ein Fest, sich an der Angst eines anderen zu laben. Die Kreatur ließ ihn die Grenze zum Wahnsinn erreichen. Vielleicht hatte er sie sogar überschritten ... Dann erst lehrte sein dunkler Bruder ihn, sich zu bewegen. Das heißt, zuallererst versuchte das Wesen, ihm begreiflich zu machen, dass er nicht stürzte. In einer Welt ohne Horizont, ohne Landmarken, an denen man sich orientieren konnte, ohne Berge und Täler gab es auch keinen Boden, auf dem man jemals hätte aufschlagen können. Er stürzte nur in seiner Vorstellung, weil es nichts gab, an dem er seinen Standort in der Welt verankern konnte.
Seit Vahelmin das begriffen hatte, vermochte er seine Angst zu überwinden. Er lernte, sich Kraft seiner Gedanken zu bewegen. Das Netz der Albenpfade gab dem Nichts eine Struktur. Es schuf Koordinaten im weglosen Abgrund.
Die Kreatur, mit der Skanga ihn verschmolzen hatte, fürchtete die Albenpfade wie der ungehorsame Hund die Peitsche seines Herrn. Die Bestie wagte es nicht, die Pfade zu betreten, und doch belauerte sie die magischen Wege ständig. Sie spürte Eindringlinge, wie eine Spinne es spürt, wenn etwas ihr Netz berührt. Binnen eines Augenblicks so kam es Vahelmin zumindest vor – waren sie dort, wo sich etwas im Netz bewegte. Lauernd umlagerten sie dann mit anderen Geschöpfen der Finsternis den Albenpfad und warteten darauf, dass einer der Eindringlinge den Fehler machte, den sicheren Weg zu verlassen.
Verließ man den Pfad, dann verblasste das goldene Licht sofort. Vom Nichts aus betrachtet, war das goldene Netz unsichtbar. Man spürte es, wenn man ihm sehr nahe kam, aber es half einem nicht, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Die Bestie in Vahelmin fürchtete die Kraft, mit denen die Alben einst ihre Wege umgeben hatten. Doch jetzt, wo sie beide eins waren, vermochten sie die Schutzzauber mühelos zu durchdringen. Diesmal war es Vahelmin, der sich an den Ängsten seines dunklen Seelenbruders weidete, als er ihn auf die Pfade aus Licht führte.