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Erst als sie in das Netz eindrangen, erinnerte sich Vahelmin, dass sie jemanden suchten. Eine Elfe ... Die Königin! Doch er vermochte keine Spur von Emerelle zu finden. Auch die Erinnerung an Shahondin kehrte zurück. Waren sie nicht gemeinsam in das Netz gegangen? Warum hatte sein Vater ihn verlassen? Hatte er die Spur der Herrscherin gefunden?

Getrieben vom Ehrgeiz, hinter Shahondin nicht zurückzustehen, lernte Vahelmin, dass er das Nichts verlassen konnte. Dort, wo sich viele Albenpfade in einem Stern kreuzten, war es leicht, der Finsternis zu entkommen. Als er zum ersten Mal ausbrach, gelangte er an einen Ort voller Licht und Sand. Er stand inmitten eines weiten, schwarzen Basaltkreises. Neugierig streifte er durch das Sandmeer. Doch es gab hier keine Beute zu machen. Das Land war tot, und so kehrte er ins Nichts zurück.

Anschließend wagte er mehrere kleine Ausflüge, um seine Fähigkeiten zu erproben. Wahllos trat er durch Albensterne, blieb aber nie lange. Hier tötete er einen Hasen, dort ein kleines Reh. Erst als es ihn in eine winterliche Steppenlandschaft verschlug, verspürte er Lust, länger zu bleiben. Seine weiße, durchscheinende Gestalt verschmolz hier völlig mit dem Hintergrund. Im Gegensatz zu Raubtieren schien er auch keinerlei Geruch zu verströmen. Ohne Mühe konnte er sich einer Yakherde nähern und unter den Tieren wildern. Seine Kiefer stießen auf keinerlei Widerstand, wenn er sie in die Flanken der Bullen stieß. Und ohne Mühe zerrte er das Licht aus den Tieren. Es war köstlich, den Todeskampf zu schmecken. Dem Verfall des Lebens zuzusehen und die Panik in den Augen der anderen Tiere zu erblicken, die nicht begriffen, was gerade geschah. Das Licht sättigte ihn nicht wirklich. Aber zu morden bereitete ihm Freude. Oder war es sein dunkler Bruder, der sich freute?

Eines Abends schlich er sich an ein Kentaurenlager heran und ermordete eine Stute, die gerade ihr Junges gebar. Als Jäger in jener fernen Zeit, in der er noch ein Elf gewesen war, hatte er niemals ein trächtiges Tier erlegt. Das war gegen alle Gesetze der Jagd. Nun bereitete es ihm tiefe Befriedigung, gegen jene Gesetze zu verstoßen. Er hatte das wehrlose Junge getötet, als es noch durch die Nabelschnur mit der Mutter verbunden war. Und die Kentaurenstute war mit ihrem Kind in den Armen verendet. Fast genauso erregend war es gewesen, dem Wahnsinn des tobenden Vaters beizuwohnen, als er betrunken in das Zelt gekommen war. Er hatte mit seinen Kumpanen bereits die Geburt seines Kindes gefeiert. In seiner Raserei hatte er versucht, sich zu entleiben. Nach der Jagd kehrte Vahelmin stets in das Nichts zurück. Es war für ihn wie eine riesige, grenzenlose Höhle. Das Refugium des Raubtiers. Auch hoffte er immer noch darauf, eine Spur der Königin zu finden.

Skanga war sich so sicher gewesen, dass sie Emerelle aufspüren würden. Vielleicht musste er nur darauf warten, dass die Königin erneut das Netz der Albenpfade betrat? Er würde spüren, wenn sie hierher kam. Und dann würde er ihr Licht rauben! Ein sengender Schmerz durchfuhr ihn. Die Königin war nicht seine Beute. Seine Glieder schienen zerreißen zu wollen. Noch einmal durchlebte er die Nacht der Verwandlung, den Augenblick, in dem Skanga ihm seinen Leib geraubt hatte. Er war ihr Hund! Und es war ihm verboten, der Königin ein Leid zuzufügen. Sie war Skangas Beute! Und wenn er ein guter Hund war, dann durfte er vielleicht eines Tages auch wieder ein Elf sein. Ein fernes Beben schreckte ihn aus seinen Erinnerungen. Etwas Großes bewegte sich durch das Netz. Ein Gedanke nur, und er war bei dem Pfad, den ein geöffnetes Tor in Schwingungen versetzt hatte. Hunderte Menschen waren auf dem Weg durch das Nichts. Sie verströmten den Geruch der Angst. Vahelmin ergötzte sich eine Zeit lang daran, dann durchbrach er den Schutzbann des Albenpfades und begann unter seinen wehrlosen Opfern zu wildern. Dabei ging er vorsichtig vor. Manche trugen Kettenhemden, und das Eisen brannte, wenn er es berührte. Die meisten jedoch waren ohne Rüstung und nur mit einer Axt oder einem Speer bewaffnet. Sie zu töten war leicht.

Die Bestie in ihm hielt ein Festmahl, und er gab sich ihren Gelüsten willig hin. Ein Dutzend oder mehr Leiber welkten, als er ihr Licht stahl. Ihr Entsetzen versüßte die Morde. Doch ganz gleich, wie viele er tötete, seinen Hunger vermochten sie kaum zu stillen. Es war wie ein Muschelessen. Man schlürfte die Meeresfrüchte, und doch gewann man jeder einzelnen nur einen flüchtigen Moment des Genusses ab, bevor man die leeren Schalen fortwarf.

Der Strom der Menschen wollte kein Ende nehmen. Bald gefiel es Vahelmin, nur noch von ihnen zu naschen, ihnen lediglich einen Teil ihrer Lebenskraft zu stehlen. Angst konnte so wunderbar vielfältig schmecken! Manche Männer, die ihn sahen, gerieten in Panik und flohen von dem Albenpfad. Sie wurden zum Schmaus der Schattengestalten, die jenseits des Schutzbanns lauerten.

Woher die Menschen wohl kamen? Seine Neugier besiegte den Hunger der Bestie. Vahelmin folgte dem Strom der Menschen zu seinem Ursprung. Sie traten bei einem großen Albenstern ins Nichts. Er verließ den Pfad und legte sich auf die Lauer. Die Bestie spürte, dass dort draußen noch viele Menschen waren. Sie wollte hinaus, wollte Panik verbreiten und sich an dem Schrecken weiden. Doch Vahelmin dachte an die Eisenwaffen. Jenseits des Tores würden die Menschen auf sicherem Boden kämpfen. Wenn sie ihren ersten Schrecken überwunden hatten, würden sie ihn vielleicht ernsthaft verletzen. Er musste sie überraschen. Ihnen auflauern, wenn sich die Versammlung in kleinere Gruppen auflöste. Er malte sich aus, wie er das Grauen in ihre Dörfer tragen würde. Nur ein wenig Geduld, dann konnte er ungefährdet die Schwelle in die Welt der Menschen überschreiten! Es würde eine vergnügliche Jagd werden!

Eine neue Welt

Alfadas ging von Mann zu Mann. Die meisten hatten gar nicht mitbekommen, dass etwas auf dem Weg durch das Nichts geschehen war. Unsicher blickten sie sich in der neuen Welt um. Sie waren in ein tief verschneites Tal gelangt. Ringsherum erhoben sich sanft ansteigende, bewaldete Hügel. Die Elfen hatten einige seidene Zelte aufgeschlagen, und farbenprächtige Banner knatterten im Wind. Über ihnen spannte sich ein klarer blauer Himmel. Die Sonne stand im Zenit, doch sie spendete keine Wärme. Eisiger Wind fuhr über die Lichtung, und er trug Eiskristalle, fein wie Staub, mit sich. Alfadas rieb sich die Hände. Die Kälte ging ihm durch Mark und Bein. Doch noch tiefer berührte ihn das Entsetzen. Er blickte zu dem großen, grauen Menhir, der den Ort markierte, an dem sich die Albenpfade kreuzten. Verschlungene Kreismuster waren in den Stein geschlagen. Sah man sie länger an, so begannen die Linien vor den Augen zu tanzen. Alfadas wandte den Blick ab. Was war geschehen? Mit seinem Vater und Ollowain war er mehrmals durch solche Tore gegangen, als sie nach Noroelles Sohn gesucht hatten. Stets hatten sie Angst gehabt, das Gefüge der Zeit könnte sich verschieben. Aber dass man auf den Pfaden angegriffen werden konnte, davon hatte er nie gehört. Ganz in der Nähe kauerte Mag im Schnee. Er redete auf seinen jüngeren Bruder ein. Der Fährmann hatte Torad eine Hand auf die Schulter gelegt. Sein Bruder hielt das Gesicht in den Händen vergraben.

»Etwas Eiskaltes hat in meine Brust gegriffen. Ich konnte es nur ganz kurz sehen.« Torad schluchzte. »Ich ... Es war etwas Großes, Weißes. Es war plötzlich da. Ich konnte gar nichts tun. Der Mann vor mir ist zur Seite gesprungen und in der Finsternis verschwunden. Es war ...« Er hob den Kopf. Sein blondes Haar war schütter geworden. Falten durchzogen sein Gesicht. Er sah aus wie ein Mann, der schon vierzig Sommer gesehen hatte. Alfadas wusste, dass Torad erst sechzehn war. Er wandte sich ab. Niemand hatte ihm sagen können, was auf dem Albenpfad geschehen war. Selbst die Elfen wirkten verunsichert. Immer wieder hatten sie behauptet, dass die Pfade der Alten sicher vor den Angriffen der Geschöpfe der Finsternis waren. Die Wahrheit sah anders aus, dachte Alfadas bitter.

Ragni kam auf ihn zugeeilt. »Ich habe mit allen Kriegsjarls gesprochen. Wir haben siebzehn Männer verloren. Und mehr als zwanzig sind ...« Er sah den Herzog hilfesuchend an, als fände er keine Worte für das, was geschehen war. »Mehr als zwanzig sind verändert«, sagte er schließlich. »Es gibt noch ein Problem. Glaubst du, die Elfen können das Tor noch einmal öffnen?«