»Warum?«
»Komm mit mir. Ich habe sie in eines der Zelte gebracht, damit niemand merkt, was geschehen ist. Jemand hat sich uns angeschlossen ...« Der Jarl sah sich besorgt um. »Wir werden große Schwierigkeiten bekommen.«
»Könntest du mir vielleicht ...«
Statt einer Antwort griff Ragni den Herzog beim Arm und zog ihn mit sich. »Es darf auf keinen Fall bekannt werden. Lambi und seine Halsabschneider würden ihn umbringen.« Der Kriegsjarl zog ihn in ein Zelt. Dort warteten Dalla, die Heilerin des Königs, Veleif, Horsas Skalde und ein Krieger. Das Gesicht des dritten Mannes verbarg sich im Schatten seiner tief in die Stirn gezogenen Kapuze.
»Was soll das?«, fragte Alfadas gereizt. Er begriff, was Ragni meinte. Horsa würde es gewiss so auffassen, dass er ihm seinen Skalden und seine Bettgefährtin gestohlen hatte.
»Mein König braucht meine Dienste nicht weiter, hat er mir heute Morgen erklärt.« Dalla hatte himmelblaue Augen. Sie sah den Herzog fest an. »Du weißt, warum! Das Gespräch gestern Nacht hat ihn verändert. Und es ist gut so. Ich möchte meine Dienste deinen Männern anbieten.«
Ragni grinste anzüglich. »Das hättest du mir auch gleich sagen können.«
»Nicht diese Dienste! Mir ist gleich, was du von mir denkst, aber ich bin keine Hure! Ich habe Horsa geliebt. Und ich tauge zu mehr als nur dazu, einem Mann im Bett Vergnügen zu bereiten! Ich kann schwere Blutungen stillen, tiefe Wunden vernähen und das Gleichgewicht der Säfte wiederherstellen, wenn deine Krieger erkranken.«
»Das Gleichgewicht meiner Säfte bringt dein Anblick ganz schön durcheinander.«
»Genug, Ragni!«, fuhr Alfadas den Kriegsjarl scharf an. »Keiner hier wird Hand an dieses Weib legen. Sie ist willkommen, nun, wo sie bei uns ist.« Er wandte sich an Veleif. »Und du, Skalde? Was führt dich hierher?« Der Dichter lächelte entschuldigend. »Ich fürchte, meine Absichten sind eigennütziger. Ich konnte es nicht mehr länger ertragen, für Horsa Lügengeschichten zu verbreiten. Dieser Feldzug ist die größte Heldengeschichte seit vielen Generationen. Ich muss einfach dabei sein. Du wirst Geschichte machen, Alfadas, und ich werde sie in schöne Worte fassen, damit künftige Generationen sich ein Beispiel an deinem Mut und deiner Kühnheit nehmen. Keine zwei Stunden bin ich bei deinem Heer, und schon habe ich mehr Wunderbares erlebt als in den vierzig Jahren zuvor. Ich bin auf einem goldenen Pfad durch die Dunkelheit geschritten, in einem Heerlager der Elfen, und deine Krieger erzählen von einem Geisterpferd, das ihnen begegnet ist. Ich werde eine Saga über dich verfassen, Alfadas Elfensohn.«
Der Herzog zuckte innerlich zusammen, als er den verhassten Beinamen hörte. Er konnte Veleif nicht zurückschicken. Lyndwyn, die das Tor geöffnet hatte, war unmittelbar nach der Ankunft des Heeres gemeinsam mit dem größten Teil der Elfen, die das Lager aufgebaut hatten, wieder verschwunden. Es gab kein Zurück mehr. Aber das wusste der Skalde ja nicht.
»Ich bin kein Freund von Lügen und schamlosen Übertreibungen, Veleif, und ich bin geneigt, dich zurück auf den Pfad aus Licht zu schicken. Vielleicht begegnest du dort dem Geisterpferd. Nun geh hinaus und sieh dir die Männer an, die diese Bestie angegriffen hat. Sieh dir an, wie es ist, binnen eines Augenblicks um Jahrzehnte zu altern. Beweise dich als ein wahrhaft großer Skalde. Singe das Lied der Wahrheit.«
»Ich singe immer ...«
Alfadas schnitt ihm mit einer harschen Geste das Wort ab.
»Ich weiß, was du für Horsa getan hast. Ich war dabei, als er die Elfenkönigin traf, und es geschah nicht in einem Zelt auf einem Floß!«
»Der König hat mir aufgetragen, was ich dichten soll. Ich habe es nicht gern getan. Du weißt doch ...«
»Ich weiß, dass ich dich an dem Tag zurückschicken werde, an dem du noch einmal solche Lügen verbreitest. Geh hinaus, Veleif! Sieh der Wirklichkeit ins Antlitz. Kleide sie in all ihrer Schrecklichkeit und Pracht in Worte. Du bist entlassen.« Der Skalde sah ihn empört an. Mit wehendem Umhang verließ er das Zelt. Alfadas wandte sich nun an den vermummten Krieger. »Und wer bist du?«
»Egil Horsason.« Er schlug die Kapuze zurück.
Der Herzog sah den jungen Mann entsetzt an. Horsas Sohn! Als hätte er nicht schon genug Sorgen. Egils Gesicht war schmal und feiner geschnitten als das seines Vaters. Seine blauen Augen hatten etwas Fiebriges und waren von dunklen Ringen umgeben. Er trug ein kostbares, engmaschiges Kettenhemd und fein gewobene Kleider. Nur sein Umhang war aus grober Wolle wie bei den einfachen Kriegern des Heeres. »Weiß dein Vater, dass du hier bist?«
Egil schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht, er hätte mich niemals ziehen lassen. Er behandelt mich wie einen Sklaven und tut alles, um mich zu demütigen.«
Alfadas wusste nicht, was er sagen sollte. Er hielt nicht viel von Egil. Er hatte nur Schlechtes über ihn gehört. »Warum bist du mitgekommen?«
»Um mich als Krieger zu bewähren. Ich werde eines Tages über das Fjordland herrschen, aber ich weiß sehr wohl, dass viele der Jarls mich verachten. Ich war niemals auf einem deiner Kriegszüge, Herzog. Nie konnte ich mich als Krieger beweisen. Ich will mir die Achtung der Männer verdienen, deshalb bin ich hier.« Der Herzog sah zu Ragni. »Ich nehme ihn zu meinen Männern«, sagte der Kriegsjarl.
»Das ist kein guter Gedanke.« Alfadas seufzte. »Ich werde Lambi und seinen Kriegern gleich die Ketten abnehmen lassen. Ich kann keine gefesselten Kämpfer gebrauchen. Dir ist klar, dass sie dich aufmerksam beobachten werden, Ragni? Ihnen wird nichts entgehen, was um dich herum geschieht. Sie würden Egil umbringen, nur damit du bei Horsa in Ungnade fällst.« Alfadas wandte sich an den Königssohn. »Du wirst bei den Viehtreibern mitgehen, die unsere Schafe hüten. Dort kennt dich keiner, und du bist in Sicherheit. Ragni, besorge dem Jungen Kleider, die dieser Aufgabe angemessen sind. Es gibt keine Viehtreiber in Kettenhemd und feinem Tuch.«
»Du kannst doch nicht ...«, begann Egil, brach aber ab, als Alfadas ihn zornig anblickte.
»Was kann ich nicht? Dir Befehle erteilen? Ich bin der Herzog. Mein Wort ist hier Gesetz. Du willst ein Krieger sein? Dann lerne zu gehorchen! Das ist die erste Tugend eines Kriegers. Respekt muss man sich verdienen, Egil, der wird einem nicht in die Wiege gelegt. Erzähle niemandem, wer du bist. Lass deine Taten für dich sprechen, und wenn du Glück hast und die nächsten Wochen überlebst, dann wirst du als geachteter Mann ins Fjordland zurückkehren. Und solltest du gegen mich aufbegehren, dann sei dir sicher, dass ich dich wie jeden anderen Mann behandeln werde. Ich wollte keinen Königssohn hier haben und werde mich so verhalten, als gäbe es dich nicht. Von nun an heißt du Ralf! Dalla! Du hast weder gesehen noch gehört, was hier vor sich gegangen ist!« Die Heilerin nickte stumm. Wütend verließ Alfadas das Zelt. Was bildete sich dieser unreife Trottel ein? Und wie würde Horsa reagieren, wenn er begriff, wo sein Sohn war?
»Herzog?« Ollowain kam ihm entgegen. »Graf Fenryl wünscht dich zu sprechen. Er möchte das Lager abbrechen lassen.«
»Warum hat er es so eilig?«
»Eine Karawane ist vom Rosenberg nach Phylangan unterwegs. Sie haben ihre Heimat verlassen, weil wir die kleinen Siedlungen der Snaiwamark nicht verteidigen können. Fenryl wünscht, dass wir uns mit den Flüchtlingen vereinen, denn sie haben nur eine sehr kleine Eskorte. Der Graf möchte sich nicht in deine Entscheidungen einmischen, aber seine Frau und sein Kind sind bei den Flüchtlingen.«
»Wie weit sind sie entfernt?«, fragte Alfadas. Jetzt, wo sein Zorn über Egil verrauchte, spürte er wieder die Kälte. Fröstelnd rieb er sich die Arme.
»Wir könnten sie etwa drei Tagesmärsche entfernt von hier treffen. Das würde nur einen kleinen Umweg bedeuten. Auch die Flüchtlinge müssen nach Phylangan. Es ist der einzige Weg zur Hochebene von Carandamon.«