Inzwischen war es still geworden. Der Lärm der Verfolgung war verklungen. Ole fluchte stumm in sich hinein. Mit jedem Augenblick, der verstrich, ohne dass er die Elchkuh hörte, wurde es wahrscheinlicher, dass sie ihm entkommen war.
Seine Jagd hatte ihn tief in den Wald geführt. Nicht weit entfernt erkannte er eine Gruppe von Felsblöcken, die von Jägern gern als Lagerplatz genutzt wurde. Ole überlegte, ob er dort ein Feuer entfachen sollte, um im ersten Morgenlicht zurückzukehren. Der Weg durch den dunklen Wald war recht beschwerlich, wenn man nicht vom Jagdfieber vorangepeitscht wurde.
»Schädelbeißer?« Der störrische Hund war im Unterholz verschwunden. Die meiste Zeit über hatte er sich ganz in Oles Nähe gehalten.
Der Jäger blies sich auf die Hände. Sie waren dunkel vor Kälte. Er lehnte seinen Bogen an einen Baum und klopfte sich mit den Händen vor die Brust. Er hatte die Waffe so fest gehalten, dass seine Finger ganz verkrampft waren.
»Schädelbeißer! Bei Fuß! Wo steckst du Mistvieh?« Nichts regte sich. Hatte der Hund die Gelegenheit genutzt auszureißen? Ole stapfte zu den Steinen hinüber. Der Wald war hier weniger dicht, so dass man gut den Himmel sehen konnte. Einzelne Sterne leuchteten hell hinter den Schleiern aus grünem Feenlicht. Die Felsen hatten eine graugrüne Färbung. Die alte Feuerstelle wirkte wie eine schwärende Wunde im Waldboden. Es war totenstill. Nicht der leiseste Luftzug ließ die kahlen Äste wispern.
Misstrauisch sah Ole sich um. Etwas stimmte nicht! Der Lagerplatz lud in dieser Nacht nicht zum Verweilen ein. Unschlüssig, ob er bleiben sollte, bückte er sich, um nach der Felsnische zu sehen, in der stets ein Vorrat trockenen Holzes lag. Es war eine längliche Höhlung, die wohl einst ein längst versiegter Wasserlauf aus dem Fels gewaschen hatte. Bei schwerem Regen oder Sturm konnte dort ein einzelner schlanker Mann Zuflucht vor dem Wüten der Elemente finden. Wer immer den Rastplatz nutzte, lagerte dort einen Vorrat frisches Bruchholz ein, bevor er weiterzog, damit auch der nächste Wanderer ein Lagerfeuer anzünden konnte.
Ole griff in die Spalte und fuhr augenblicklich zurück. Er hatte etwas Trockenes, Pelziges berührt! Rasch zog er seinen langen Jagddolch und wartete ab. Was immer dort im Spalt verborgen lag, rührte sich nicht. Vielleicht hatte nur ein Jäger seinen Wasserschlauch zurückgelassen oder eine Jagdtasche aus Fell. Es war albern, sich so aufzuführen!
Ole sah sich unsicher um. Niemand war in der Nähe. Endlich fasste er sich ein Herz und griff noch einmal in den Spalt. Er zerrte an dem Ding, bis es mit einem Ruck freikam und vor ihm auf den Boden purzelte. Ein vertrockneter und völlig verschrumpelter Tierkadaver lag vor ihm. Die Lefzen waren hochgezogen und gaben den Blick auf lange Fänge frei, die im Feenlicht grünlich schimmerten. Erst als Ole das Würgehalsband erkannte, begriff er, was da vor ihm lag.
»Mörder?«, flüsterte er und strich über das kurze Fell. Der Hund wirkte jetzt viel kleiner. Etwas hatte ihm das Fleisch von den Knochen geschmolzen, bis nur noch Haut und Gebein übrig waren.
Offensichtlich hatte Mörder noch gelebt, als er in der flachen Höhlung Zuflucht gesucht hatte. Der Hund hatte die Läufe eng an den Leib gezogen. Seine Schnauze war zur Verteidigung bereit vorgereckt. Doch wovor hatte er sich dort versteckt?
Hätte Ole den Hund nicht vor wenig mehr als einer Stunde noch gesehen, er hätte Stein und Bein darauf geschworen, dass vor ihm der Kadaver eines Tieres lag, das schon seit vielen Wochen tot war. Mörder fühlte sich noch warm an. Was immer ihn getötet hatte, musste ganz in der Nähe sein! Ole spürte, dass er beobachtet wurde. Etwas war hinter ihm. Er hatte ein leises Geräusch gehört. Es klang wie das Kratzen einer Pfote auf Stein. Ruckartig drehte der Hundezüchter sich um, den Dolch abwehrbereit erhoben. Zwischen den Felsen stand Schädelbeißer. Der große Hund hob witternd den Kopf.
Nie war Ole so froh gewesen, dieses störrische Mistvieh zu sehen! »Wir sollten von hier verschwinden, mein Feiner. Wir möchten doch nicht so enden wie Mörder!« Der große Hund sah ihn abschätzend an. Seine Augen waren wie schwarze Seen. Im Zwielicht sah man deutlich die breiten Narben auf seiner Schnauze. Schädelbeißer stieß einen kurzen Schnauber aus, dann drehte er sich um und machte sich davon.
»Du kannst doch nicht einfach abhauen, du Missgeburt!« Ole lief dem Hund hinterher. Erst als der Lagerplatz schon ein ganzes Stück hinter ihm lag, fiel ihm auf, dass er seinen Bogen zurückgelassen hatte. Schädelbeißer war längst im Unterholz verschwunden. Dornenranken zerrten an Oles Kleidern. Was für eine verfluchte Nacht! Wahrscheinlich waren Feen oder andere magische Geschöpfe heimlich durch das Tor gekommen, um nun unter den Fjordländern ihr Unwesen zu treiben.
Unschlüssig, was zu tun war, blieb der Hundezüchter stehen. Der Wald zog sich hier eine Bergflanke hinauf. An manchen Stellen brach blanker Fels durch den Boden. Hinter ihm ging es ziemlich steil bergab. Wurzeln, halb im Laub versteckt, waren tückische Fußangeln. Es war verrückt, mitten in der Nacht und ohne Licht hier herumzulaufen.
Gerade am Rand seines Gesichtsfeldes fiel ihm ein matter Schein auf. Ole drehte sich um. Das waren ganz sicher Feen! Er kannte sich aus, hatte alle Geschichten über diese bösartigen kleinen Verwandten der Elfen gehört. Einsame Wanderer zu foppen, war ihre Lieblingsbeschäftigung.
»Mich kriegt ihr nicht!«, murmelte der Hundezüchter leise.
»Mich nicht!« Da war es wieder! Etwas huschte lautlos zwischen den Bäumen hindurch. Und dann schob sich ein massiger, weißer Leib hinter einem Gebüsch hervor. Die Elchkuh! Sie musste durch eine Bodensenke gelaufen sein! Das war des Rätsels Lösung! Hier gab es keine Feen. Nur einen völlig verängstigten Hundezüchter. Ole lachte leise. Das Feenlicht ließ ihn Geister sehen! Das wusste jedes Kind. Die Menschen wurden ganz närrisch, wenn die grünen Lichter über den Himmel zogen. Sein Glück hatte zu ihm zurückgefunden. Es gab keinen Grund, sich zu ängstigen. Er ... Ole hätte laut losfluchen mögen. Sein Bogen! Luth hatte wohl beschlossen, ihn zu verhöhnen! Ohne Bogen konnte er der Elchkuh nichts tun. Sie würde kaum brav stehen bleiben, wenn er zu ihr hinüberging, um ihr mit seinem Jagddolch die Kehle durchzuschneiden. Aber vielleicht ließ sie ihn nahe genug kommen, dass er den Dolch werfen konnte? Wenn die Elchkuh erst einmal verwundet war, dann würde er sie leichter verfolgen können.
Vorsichtig pirschte Ole sich heran. Er schaffte es, sich auf zehn Schritt seiner Beute zu nähern, ohne dass die Elchkuh auch nur den Kopf in seine Richtung wandte. Der Wind blies ihm entgegen. Sie konnte keine Witterung von ihm aufnehmen! Meinte es Luth doch gut mit ihm?
Die Elchkuh stand hinter einem Dickicht aus Dornenranken. Mit einem Hechtsprung könnte er vielleicht auf ihren Rücken gelangen und ihr den Dolch an den Nackenwirbeln vorbei ins Hirn stoßen. So wäre das Vieh sofort tot, und sein Fell würde kaum mit Blut besudelt. Ole war sich darüber im Klaren, dass dies nicht die Art war, wie man Elche jagte, und dass ein so tolldreister Angriff wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Aber vielleicht war ihm ja das Glück hold! Werfen konnte er seinen Dolch immer noch.
Noch fünf Schritt. Zoll um Zoll schob er sich vorwärts. Jetzt nur keinen Fehler machen! Ein knackender Ast, ein Stein, gegen den er stieß und der den Hang hinabrollte, eine Kleinigkeit reichte schon, um die Jagd zu verderben. Noch zwei Schritte. Ole hatte fast den Rand des Dornengestrüpps erreicht. Er spannte sich, bereit zum Sprung. Noch immer hielt die Elchkuh den Kopf gesenkt. Sie ahnte nichts von ihrem Schicksal.