Der Hundezüchter grinste. Das Dickicht war niedrig. Es reichte ihm kaum über die Knie. Die Elchkuh musste auf der anderen Seite in einem Graben stehen. Ole stieß sich ab. Im selben Augenblick sah die Elchkuh auf. Ihr Kopf war seltsam. Zu schlank. Und ihre Zähne ... Mit einem Satz wich das Tier zur Seite aus. Unglaublich schnell.
Oles Herz setzte einen Schlag lang aus. Hinter dem Dornendickicht war kein Graben! Sich überschlagend, stürzte er eine steile, mit Felstrümmern übersäte Böschung hinab. Unfähig, seinen Sturz abzubremsen, schlug er gegen Baumstämme und Steine. Es fühlte sich an, als dresche eine ganze Räuberbande mit Knüppeln auf ihn ein. Er ließ seinen kostbaren Dolch fahren und versuchte mit seinen Händen so gut es ging den Kopf zu schützen. Ein Stoß in den Rücken presste ihm die Luft aus den Lungen. Er konnte nicht mehr atmen. Immer schneller überschlug er sich. Seine Nase blutete. Plötzlich packte etwas seinen linken Fuß. Mit einem mörderischen Ruck endete der Sturz. Er wurde halb herumgerissen. Sein Schienbein schlug auf etwas Hartes. Deutlich hörte er ein trockenes Knacken. Sengender Schmerz durchfuhr sein Bein. Er schrie seine Pein in den Wald hinaus. Es war, als habe ihn eine Axt getroffen. Tränen rannen ihm über die Wangen, ihm wurde übel. Er versuchte sich aufzurichten, doch sein Fuß steckte noch immer fest. Er hatte sich in einer Wurzel verfangen. Grelle Lichter tanzten vor Öles Augen. Er konnte nur undeutlich erkennen, was mit seinem Bein war. Ein gebrochener Ast schien sich durch seinen Unterschenkel gebohrt zu haben.
Ole hechelte vor Schmerz. Endlich schaffte er es, sich aufzusetzen. Er musste diesen verdammten Ast aus der Wunde ziehen und sie dann mit dem Gürtel abbinden. Sein Bein war merkwürdig verdreht. Der Fuß steckte in einem seltsamen Winkel in der Wurzelschlinge fest. Bei dem Anblick übermannte ihn eine neue Welle von Übelkeit. Er schloss die Augen, griff mit beiden Händen nach dem verfluchten Ast und zog mit aller Kraft daran. Der Schmerz traf ihn wie ein Peitschenhieb. Ole brüllte wie ein Tier. Keuchte, weinte. Es war, als habe man ihm eine glühende Eisenstange ins Bein gestoßen. Durch einen Tränenschleier starrte er auf seine blutverschmierten Hände und dann auf das Bein. Das war kein Ast, der aus dem zerschundenen Fleisch ragte. Es war sein Schienbeinknochen!
Plötzlich wurde es kälter. Vor ihm stand die Elchkuh am Steilhang. Nein ... Jetzt erkannte Ole seinen Irrtum. Dieses Geschöpf war so groß wie eine Elchkuh, aber das war schon alles, was es mit einem Elch gemein hatte. Sein Kopf erinnerte an einen riesigen Hundekopf. Fingerlange Reißzähne säumten die Kiefer. Und es war durchscheinend. Blasses, geisterhaftes Licht ging von ihm aus.
Eine Zeit lang stand die Kreatur einfach nur dort und blickte auf ihn hinab. Ole hatte den Eindruck, dass dieses Geistertier sich an seinen Schmerzen weidete. Endlich senkte es den Kopf und kam ein wenig näher. Seine Kiefer schnappten nach dem verletzten Bein. Es fühlte sich an, als berühre ihn eisiger Winterwind. Die Zähne versanken in seinem Fleisch, ohne es zu verletzen.
Etwas Goldenes schimmerte zwischen den Fängen. Die Bestie riss den Kopf zurück. Sie zerrte etwas aus ihm heraus. Eine Schlange? Nein, es sah eher wie eine Nabelschnur aus goldenem Licht aus.
Alle Gelenke begannen ihm zu schmerzen. Halb ohnmächtig tastete Ole nach der Schärpe mit den Peitschen. Immer brennender wurde der Schmerz in seinen Gliedern. Gleichzeitig überkam ihn eine Mattigkeit, als sei er seit Tagen ohne Schlaf. Er musste all seine Willensstärke aufbieten, um eine Peitsche aus den Lederschlaufen der Schärpe zu ziehen.
»Alles, was wie ein Hund aussieht, hat Angst vor mir.« Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern. Sie klang wie die eines Greises. Die Bestie blickte kurz auf. Mit mattem Schwung ließ Ole die Peitschenschnur nach der Schnauze der Kreatur schnellen. Es gab ein zischendes Geräusch, als gieße man Wasser in die Glut. Die Peitschenschnur fuhr durch den geisterhaften Leib der Bestie hindurch. Kleine Funken glommen auf. Die Kreatur machte einen erschrockenen Satz zurück und stieß ein klägliches Jaulen aus. Dann stürmte sie davon und war binnen Augenblicken zwischen den Bäumen verschwunden.
»Ich hatte es dir doch gesagt! Ich werde mit jedem Hund fertig«, murmelte Ole, dann sank er zurück. Er fühlte sich schwach wie ein alter Mann. Klopfender Schmerz marterte sein Bein. Er versuchte erneut, sich aufzurichten, doch seine Kräfte versagten. Ole wusste, dass es aussichtslos war, hier um Hilfe zu rufen. Niemand würde ihn hören.
Wie eine Ausgeburt der Nacht stand Schädelbeißer plötzlich vor ihm. Der große, schwarze Hund musterte ihn mit kaltem Blick. Dann stieß sein unförmiger Kopf vor. Er schnappte nach dem Knochen, der aus der offenen Wunde klaffte. Mit wütendem Knurren riss er das Bein hin und her.
Oles Stimme überschlug sich in schrillem Kreischen. Er hörte den Knochen zwischen den riesigen Fängen knacken. Blut spritzte ihm ins Gesicht. Er wünschte sich, ohnmächtig zu werden, doch der Schmerz peitschte ihn auf.
Schädelbeißers Schnauze hatte sich tief ins Fleisch gegraben. Noch etwas knackte in der Wunde. Der große Hund stemmte seine Vorderpfoten mit aller Kraft ins weiche Erdreich. Plötzlich gab es einen Ruck, Schädelbeißer geriet aus dem Gleichgewicht. Er hatte das Bein durchgebissen. Ohne Ole aus den Augen zu lassen, kauerte er sich nieder und riss das Fleisch von den Knochen. Blut hatte sich in den tiefen Narben auf seiner Schnauze gesammelt und ließ sie wie frische Wunden erscheinen.
Öles Schreie hatten nichts Menschliches mehr. Seine Finger klammerten sich in den Waldboden. Er versuchte, sich fortzuschleppen, auch wenn er wusste, dass er dem Bluthund nicht entkommen konnte und das schaurige Mahl noch lange nicht beendet war.
Von Falken und Wölfen
Alfadas blickte den langen, gewundenen Weg hinab, dem sie nun schon seit Stunden folgten. Anderthalb Tage war das Heer fast nur bergauf gestiegen. Zunächst noch durch Wälder, an sanft ansteigenden Bergflanken vorbei, doch bald darauf wurde der Weg immer härter. Er wand sich in engen Kehren zwischen schroffen Felsen hindurch, und zuletzt ging es eine Steilwand hinauf, gefangen zwischen den Himmeln. Auf der linken Seite gab es einen Abgrund, so tief, dass sie das Gefühl hatten, selbst schon im Himmel zu sein. Rechts ragte die steile Felswand auf, und über ihnen lag wieder strahlend blauer Himmel. Manche Männer hatten die Nerven verloren, und man hatte ihnen die Augen verbunden, weil sie den Anblick der Tiefe nicht ertragen konnten. Drei lagen gefesselt auf den Hundeschlitten, weil sie nicht mehr weitergehen wollten. War es die Schönheit des Landes, das sich zu ihren Füßen ausbreitete, die ihnen den Verstand raubte? Diese Welt fühlte sich so anders an ... Und dazu kamen noch die Amulette, die dem Winter seine Härte nahmen. Es war ein Ort, der nicht für Menschen geschaffen war. Allein der Tod erlaubte einem, für immer hier zu bleiben.
Alfadas wischte sich den Schweiß von der Stirn. Weit über ihm ertönte erneut der helle Klang der Eispickel. Immer wieder versperrten funkelnde Eiskaskaden den Weg.
Die Elfen hatten einen Voraustrupp losgeschickt, der diese Hindernisse beseitigte. Graf Fenryl war ein fähiger Anführer. Und er hatte sich den Menschen gegenüber erstaunlich aufgeschlossen gezeigt. Bislang klappte es recht gut mit dem Nebeneinander der verschiedenen Völker. Wenigstens diese Sorge war unnötig gewesen, dachte Alfadas. Er war auch überzeugt, dass es kein Zufall war, wenn sie bald auf die Flüchtlinge träfen. Diese Zusammenkunft war sicher von vornherein beabsichtigt gewesen. So konnten sich die Menschen als Beschützer fühlen. Gegen wen sollten sie die Elfenflüchtlinge hier auf dem Eis schon verteidigen? Die Flotte der Trolle war noch hunderte Meilen entfernt, hatte Graf Fenryl Alfadas verraten. Diese Flüchtlinge brauchten gar keine Eskorte. Jedem der Elfen musste das klar sein. Der Herzog hoffte, dass seine Männer diese List nicht durchschauten. Sie würden es wahrscheinlich so auffassen, dass man sie wie Kinder behandelte. Mit Getöse stürzten Eisbrocken über die Klippe. Alfadas sah, wie sie in der Tiefe die grauen Klippen streiften und in einen Schleier silbern funkelnder Splitter gehüllt im Abgrund verschwanden. Voraus erklang ein Hornsignal. Der Weg war wieder frei. Langsam setzte sich der lange Zug aus Elfen, Menschen und Hundeschlitten wieder in Bewegung.