Die Elfen verteilten leichten Apfelwein, der nicht zu Kopf stieg und doch köstlich schmeckte. Auch reichten sie Kräuterbrot herum, Trockenfleisch und ein wenig Honig.
An einem der Feuer hörte Alfadas Veleifs Stimme. Der Skalde sang ein Lied von einem Jäger, der in einsamer Winternacht auf Pirsch ging, um seine Familie vor dem Hungertod zu bewahren. Zwei Strophen nur brauchte er, und es war in weitem Umkreis still geworden. Selbst das derbe Lachen von Lambis Männern verstummte.
Alfadas entfernte sich ein wenig vom Lager. Er floh vor den Gedanken an Asla und die Kinder. Wenn sie siegen sollten, dann musste er so sein wie Graf Fenryl. Er musste vorausdenken. Die Moral der Männer würden Lambi und Veleif schon hochhalten. Seine Aufgabe war es, kühl zu kalkulieren, wie sie Feinde überwinden könnten, denen Menschen eigentlich nicht gewachsen waren. Es war gut, dass sie zunächst nur eine Festung verteidigen mussten, deren Mauern sie vor dem Nahkampf mit den Trollen bewahrten.
Plötzlich geriet der Schnee vor ihm in Bewegung. Eine Gestalt löste sich aus dem Weiß, gut getarnt durch einen schweren, weißen Wollumhang. Silwyna.
»Warum bist du nicht im Lager?«, fragte Alfadas überrascht.
»Ein Blick ins Feuer verdirbt die Nachtsicht.«
»Brauchen wir denn jemanden, der in dieser Nacht über uns wacht? Fenryl sagt, die Trolle seien noch weit entfernt.«
Silwyna schnaubte verächtlich. »Er ist nur ein Normirga. Ich bin eine Maurawani, und ich weiß, dass ein Jäger, der seine Beute unterschätzt, selbst nichts anderes ist als Beute. In Vahan Calyd dachten auch alle, sie seien in Sicherheit. Nun weiß ich, dass die Trolle nach Albenmark zurückgekehrt sind. Und ich weiß, dass sie in ihre alte Heimat wollen. Das sind zwei gute Gründe, sich in der Snaiwamark nicht einfach an ein Feuer zu legen und zu schlafen.«
Alfadas dachte daran, wie nahe sie sich einmal gewesen waren. »Du bist immer auf der Hut, nicht wahr? Was habe ich damals getan, dass du mich verlassen hast?«
»Hier sind nicht Zeit und Ort, um darüber zu reden«, sagte sie barsch und trat in die Dunkelheit.
»Wird es jemals eine Zeit und einen Ort für eine Aussprache geben?«, rief er ihr wütend hinterher. Sein Zorn galt nicht nur ihr. Ebenso wütend war er darüber, dass nur wenige Worte mit ihr genügten, um ihn so sehr aus der Fassung zu bringen.
Silwyna blieb stehen. Langsam drehte sie sich um. »Du sprichst wahr, Menschensohn. Es wird niemals leicht sein, über das zu sprechen, was war. Und in wenigen Wochen sind wir vielleicht beide schon tot. Du hast ein Recht darauf, es zu wissen. Was glaubst du, warum ich zu dir in die Andere Welt gekommen bin?«
Das war noch eine Frage, die sich Alfadas in den vergangenen Wochen oft gestellt hatte. Und er hatte keine Antwort darauf gefunden.»Vielleicht, weil Ollowain dich darum gebeten hat?«
Sie stand jetzt dicht vor ihm. »Nein«, sagte sie lächelnd. »Das würde er niemals tun. Im Gegenteil, er hatte Sorge, mich mitzunehmen, denn er fürchtete, mein Anblick würde dich wütend machen.« Ihre Wolfsaugen hielten seinen Blick gefangen. Sie war noch immer wunderschön. Jedenfalls für ihn.
»Ich bin in die Andere Welt gegangen, um zu sehen, was für ein Vater du bist. Ich wusste, dass du ein Weib hast. Und ich dachte mir, dass du auch Kinder haben würdest. Ich wollte sie sehen ... Wollte wissen, wie du sie großziehst. Wie du zu ihnen bist. Wie sie dich ansehen.«
Alfadas spürte einen dicken Kloß im Hals aufsteigen. Er dachte an Ulric, wie er ihm mit ernstem Blick zuhörte, wenn er ihm davon erzählte, wie man ehrenhaft kämpfte. Und an Kadlin, deren überschwängliches Lachen jeden Zorn über all die kleinen Katastrophen, in die sie einen verwickelte, sofort verrauchen ließ.
»Du hast noch einen Sohn, Alfadas«, sagte die Elfe leise. »Er heißt Melvyn.«
Das konnte nicht sein! Ihre Worte trafen ihn wie ein Schlag. Sein Mund wurde trocken. »Menschen und Elfen können keine gemeinsamen Kinder zeugen.« Er vermochte kaum zu sprechen.
»Ja, so sagt man. Es ist ... unnatürlich? Er wurde in Liebe gezeugt. Ist das unnatürlich?«
Plötzlich packte Alfadas wieder die Wut. »Wieso bist du fortgelaufen? Warum hast du nichts gesagt? Du hast ihn mir gestohlen. Warum erzählst du mir von einem Kind, das ich niemals sehen werde?« Ebenso plötzlich, wie die Wut gekommen war, verging sie auch wieder. Er musste an all die einsamen Stunden seiner Kindheit denken, in denen er sich einen Vater gewünscht hatte. Ollowain hatte sich wirklich alle Mühe gegeben ... Aber einen Vater zu haben war etwas anderes.
»Ich musste es tun. Wegen Emerelle.« Silwynas Lippen zitterten. »Noroelles Sohn. Er war auch ein Kind, das nicht hätte gezeugt werden dürfen. Ein Bastard, der nur zur Hälfte ein Elf war. Sie hatte seinen Tod befohlen. Und sie hat Noroelle bis ans Ende aller Tage verbannt. Du weißt...«
»Ja ...« Alfadas‘ Stimme war nur noch ein verzweifeltes Krächzen. Er wusste, was geschehen war. Hatte er doch zu denen gehört, die Noroelles Sohn schließlich gefunden hatten. Er hatte nachfühlen können, warum Farodin und Nuramon den Befehl ihrer Königin verweigert hatten.
»Ich hatte Angst, Emerelle würde auch unser Kind zum Tode verurteilen.« Silwynas Stimme überschlug sich, so schnell sprach sie jetzt. Alfadas ahnte, wie lange sie sich danach gesehnt haben musste, endlich darüber zu reden. »Meine Liebe zu dir ist niemals verloschen. Und doch konnte ich dir nichts sagen. Du hättest mich nicht ziehen lassen. Und wärst du mit mir gekommen, dann wäre unser Geheimnis entdeckt worden. Du warst viel zu eng mit dem Hof verbunden, um einfach mit mir in die Wildnis der Slanga-Berge zu gehen. Emerelle hätte herausgefunden, was geschehen war. Aber da niemand etwas wusste und ich eines Morgens ohne Abschiedswort verschwunden war, dachten sich alle, die launische Maurawani sei einfach nur dem Ruf der Wildnis gefolgt. Und sie habe sich nicht darum geschert, ob sie das Herz des Menschensohns gebrochen habe ... Ich weiß, dass die anderen Elfen so über mein Volk denken. Und sicherlich war bei Hof niemand überrascht über mein Verschwinden.«
»Nein«, gestand Alfadas. Er erinnerte sich, dass selbst die kalte, unnahbare Emerelle versucht hatte, ihn zu trösten. Die Maurawan seien wie der Wind, hatte sie damals gesagt, und einfach nicht dazu geschaffen, an einem Ort zu verweilen. Geholfen hatte ihm das nicht. Erst die Begegnung mit seinem Vater hatte ihn wieder aufleben lassen. Ihn auf die Jagd nach Noroelles Sohn zu begleiten, war ein willkommener Anlass gewesen, den Hof der Königin zu meiden, wo ihn alles an Silwyna erinnert hatte. Ja, er hatte sogar Albenmark verlassen und war nie wieder zurückgekehrt.
»Wie ist er, mein Sohn?«, fragte er und versuchte sich ein Kind vorzustellen, in dem seine und Silwynas Züge miteinander verschmolzen.
»Er hat meine Augen«, sagte sie lächelnd. Sie strich ihm durch das Haar. »Und deine Ohren hat er. Das ärgert ihn. Er hält es für einen Makel, dass seine Ohren anders aussehen als meine oder die der Wölfe. Ich habe es ihm nicht ausreden können.«
»Warum vergleicht er sich mit Wölfen?« Alfadas sah sie verwirrt an.
»Wölfe kümmern sich sehr gut um ihre Welpen. Das ganze Rudel achtet auf die Jungen. Und wenn dem Muttertier etwas geschieht, dann ziehen die anderen Weibchen des Rudels den Wurf groß.«
Der Herzog brauchte einen Augenblick, bis er begriff, was sie ihm damit sagen wollte. »Du ... Du hast meinen Sohn zu einem Wolfsrudel gegeben? Das ist ... Sag, dass das nicht wahr ist!«
»So war es nicht. Ich bin zum Rudel gegangen und ein Teil davon geworden. Ich habe mit ihnen gejagt und gelebt. Ich habe Melvyn nicht fortgegeben. Ich war fast immer dort.«
»Du hast ihn unter Wölfen großgezogen!« Alfadas konnte nicht fassen, was er da hörte. »Unter Tieren!«
»Diese Tiere haben ihn nie wie ein Halbblut behandelt, obwohl er so verschieden von ihnen ist. Aus dem Wurf, mit dem er aufgewachsen ist, lebt nur noch eine alte Wölfin. Sie alle haben ihn als ihren Bruder angenommen, und er hat seinen festen Platz im Rudel. Den hätte er nirgendwo anders gehabt! Ich wagte ihn nicht einmal meinem Volk zu zeigen, denn ich wusste nicht, ob sie Emerelle zugestimmt hätten. Es hat nie zuvor einen Jungen gegeben, der halb Mensch und halb Elf ist. Vielleicht hätten auch die Maurawan beschlossen, ihn zu töten. Deshalb habe ich mich in die Wälder am Fuß des Albenhaupts zurückgezogen. Dorthin kommt niemand! Der Ort gilt als verflucht. Niemand in meinem Volk hat deswegen Fragen gestellt. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn sich einer von uns in die Einsamkeit flüchtet. Das konnten sie akzeptieren ... Aber das Kind? Vielleicht hätten sie ihn angenommen? Ich weiß es nicht. Von ihm zu erzählen, hätte bedeutet, mit Melvyns Leben zu spielen.«