»Ich will Ihnen ja nicht den Spaß verderben«, sagte der Zeitungskrämer, während er Teebeutel aus einem Fach holte, »aber Sie müssen keine Angst haben… Die, die Sie gesehen haben, mögen Sie.«
»Ich habe keine Angst«, stellte ich klar, »was gilt schon die Meinung eines Kritikers?«
»Na ja…«
»Nichts«, sagte ich, »nichts! Sie hat in den Dreißigern nichts gezählt, sie zählt jetzt nichts. Diese Kritiker erzählen den Leuten immer nur, was sie glauben sollen. Das gesunde Volksempfinden ist ihnen gleich. Nein, in seiner Seele weiß das Volk auch ohne unsere Herren Kritiker, was es zu denken hat. Wenn das Volk gesund ist, weiß es sehr gut, was etwas taugt und was nicht. Braucht der Bauer einen Kritiker, der ihm sagt, was die Erde taugt, in der er seinen Weizen anbaut? Der Bauer weiß es selbst am besten.«
»Weil er täglich seinen Acker sieht«, sagte der Zeitungskrämer, »aber Sie sieht er nicht jeden Tag.«
»Dafür sieht er täglich in das Fernsehgerät. Da hat er einen guten Vergleich. Nein, der Deutsche braucht keinen Meinungsvorbeter. Er bildet sich seine Meinung selbst.«
»Sie müssen’s ja wissen«, sagte der Zeitungskrämer mit einem Schmunzeln und hielt mir den Zucker hin. »Sie sind ja der Fachmann der freien Meinungsbildung.«
»Was soll das denn heißen?«
»Bei Ihnen muss man wirklich aufpassen«, sagte der Krämer kopfschüttelnd, »man will dauernd anfangen, mit Ihnen zu reden, als wären Sie’s wirklich.« Eine Hand klopfte außen an die Verkaufstheke. Er stand auf. »Lesen Sie mal, was die schreiben, ich hab jetzt Kundschaft. Ist ja auch nicht so viel.«
Ich blickte auf den kleinen Stapel neben dem Sessel. Ich war auf keiner Titelseite, aber das war ja auch nicht anzunehmen gewesen. Es hatten sich auch die großen Zeitungen nicht um das Thema gekümmert. Diese formidable »Bild«-Zeitung etwa war nicht dabei. Nun war jener Wizgür schon länger im Programm, da war eine Berichterstattung wohl nicht so interessant gewesen. Es waren letzten Endes nur kleinere regionale Blätter, für die täglich einer der Redakteure in das Fernsehgerät sehen musste, um eine kleine Kolumne zu füllen. Drei dieser Redakteure also hatten in der Hoffnung auf Unterhaltung die Sendung des Wizgür eingeschaltet. Sie alle waren der Ansicht, dass meine Rede das Interessanteste der Sendung gewesen sei. Einer meinte, es sei erstaunlich, dass ausgerechnet eine Hitlerfigur auf den Punkt gebracht habe, was eigentlich die Sendung des Wizgür schon die ganze Zeit darstelle, nämlich eine Ansammlung von Ausländerklischees. Die beiden anderen sagten, Wizgür habe durch meinen »herrlich bösen Beitrag« endlich den Biss wiedergewonnen, den er selbst viel zu lange habe vermissen lassen.
»Und«, fragte der Zeitungskrämer, »zufrieden?«
»Ich habe schon einmal von ganz unten angefangen«, sagte ich und nahm einen Schluck Tee, »da habe ich vor zwanzig Leuten gesprochen. Ein Drittel von denen war vermutlich irrtümlich gekommen. Nein, ich kann mich nicht beklagen. Ich muss nach vorne sehen. Wie fanden Sie’s?«
»Gut«, sagte er, »heftig, aber gut. Nur der Wizgür schien mir nicht recht begeistert.«
»Ja«, sagte ich, »das kenne ich noch von früher. Die Arrivierten schreien immer, wenn eine neue, frische Idee Einzug hält. Dann fürchten sie um ihre Pfründe.«
»Wird er Sie noch mal in seine Sendung lassen?«
»Er wird tun, was die Produktionsfirma ihm sagt. Er lebt vom System, er muss seine Spielregeln befolgen.«
»Man möchte kaum glauben, dass ich Sie erst vor ein paar Wochen vor meinem Kiosk aufgesammelt habe«, sagte der Zeitungskrämer.
»Die Regeln sind noch immer dieselben wie vor sechzig Jahren«, sagte ich, »die ändern sich nicht. Es sind nur weniger Juden beschäftigt. Deswegen geht es dem Volke auch besser. Apropos: Ich habe mich noch gar nicht recht bei Ihnen bedankt. Hat man…?«
»Keine Angst«, sagte der Zeitungskrämer, »wir haben da ein kleines Arrangement getroffen. Ich bin versorgt.« Dann klingelte sein tragbares Telefon. Er hob den Apparat an den Kopf und meldete sich. Ich griff mir zwischenzeitlich eine jener »Bild«-Zeitungen und blätterte sie durch. Das Blatt vermittelte eine durchaus ansprechende Mischung aus Volkszorn und Gehässigkeit. Den Anfang machten Berichte von politischen Tölpeleien, es formte sich das Bild einer so tumben wie jedoch letztlich immerhin gutartigen Kanzlermatrone, die unbeholfen durch eine Horde hinderlicher Zwerge schlurfte. Parallel dazu wurde von dem Blatte so gut wie jede demokratisch »legitimierte« Entscheidung als völliger Unsinn entlarvt. Insbesondere der Gedanke der europäischen Einigung war der herrlichen Hetzschrift komplett zuwider. Am besten gefiel mir jedoch die subtile Arbeitsweise. So wurde beispielsweise in einer Witzekolumne zwischen Scherzen über Schwiegermütter und gehörnte Ehemänner unauffällig folgender Witz untergebracht:
Ein Portugiese, ein Grieche und ein Spanier gehen in ein Bordell. Wer zahlt? Deutschland.
Der war sehr gelungen. Streicher hätte natürlich noch eine Zeichnung dazu in Auftrag gegeben, auf der diese drei verschwitzten, unrasierten Südländer ein unschuldiges Ding mit ihren dreckigen Fingern betatschen, während der ehrliche deutsche Arbeiter schuften muss, aber unterm Strich wäre das wohl hier eher hinderlich gewesen, es hätte den Scherz aus seiner klugen Unauffälligkeit herausgehoben.
Ansonsten wurde ein bunter Eintopf an Verbrechensgeschichten über die Seiten gegossen, danach folgte die seit jeher beste erhältliche Beschwichtigungsberichterstattung – der Sport, und dann eine Versammlung von Fotos, auf denen berühmte Menschen alt oder hässlich aussahen, eine vollendete Symphonie von Neid, Missgunst und Niedertracht. Eben aus diesem Grunde hätte ich es gerne gesehen, wenn eine kleine Notiz meines Auftrittes in diesem Umfelde Erwähnung gefunden hätte. Aber der Zeitungskrämer hatte das Blatt völlig zu Recht nicht auf den Stapel gelegt, es fand sich nichts. Ich ließ das Blatt sinken, als der Krämer sein Telefon wieder wegsteckte.
»Das war mein Sohn«, sagte er, »der, dessen Schuhe Ihnen nicht gefallen. Er hat gefragt, ob Sie der Typ aus meinem Kiosk sind. Er hat Sie gesehen. Auf dem Handy von einem Freund. Ich soll Ihnen sagen, Sie seien total krass.«
Ich blickte den Zeitungskrämer verständnislos an.
»Er findet Sie wohl gut«, übersetzte der Krämer. »Ich will gar nicht wissen, was die alles für Filmchen auf ihren Handys haben, aber da landet auf jeden Fall nichts, was sie nicht irgendwie gut oder spannend finden.«
»Die Jugend empfindet noch unverfälscht«, bestätigte ich ihm. »Da gibt es kein gut oder schlecht, sie denken so, wie es ihnen die Natur eingibt. Wenn ein Kind richtig erzogen ist, wird es keine falsche Entscheidung treffen.«
»Haben Sie eigentlich Kinder?«
»Leider nein«, sagte ich. »Das heißt, es wurde gelegentlich aus interessierten Kreisen gestreut, es gäbe da einige Bankerten, wie es bei uns heißt.«
»Oho«, meinte der Zeitungskrämer und zündete sich launig eine Zigarette an, »es ging um den Unterhalt…«
»Nein, man wollte mich unmöglich machen. Eine Lächerlichkeit sondergleichen. Seit wann ist es unrecht oder unehrenhaft, einem Kinde das Leben zu schenken?«
»Sagen Sie das mal der CSU.«
»Gut, man muss da immer wieder auf die einfachen Menschen Rücksicht nehmen. Da kann man ja mit Argumenten kommen, wie man will, da überfordert man immer wieder viele damit. Himmler hat das mal versucht, in der SS. Der wollte gleiche Rechte für eheliche und uneheliche Kinder von SS-Männern durchsetzen, nicht mal da hat das richtig geklappt. Leider, die armen Kinder. Da wird so ein kleiner Bub, ein kleines Mädel schief angesehen, es wird gehänselt, die anderen Kinder tanzen um es herum, sie singen Spottverse. Das ist auch nicht gut für den Gemeinsinn. Wir sind alle Deutsche, die ehelichen und die unehelichen. Ich sage immer: Kind ist Kind, das gilt im Kindbett wie im Schützengraben. Man muss es natürlich auch anschließend versorgen, das ist klar. Aber was wäre das für ein Schweinehund, wenn er sich anschließend aus dem Staube macht?«