Ich legte die »Bild«-Zeitung wieder zurück.
»Und was ist dann aus der Sache geworden?«
»Nichts. Das waren Verleumdungen, natürlich. Und man hat dann auch nichts mehr davon gehört.«
»Na, dann«, sagte der Zeitungskrämer und nahm einen Schluck Tee.
»Ich weiß natürlich nicht, ob sich irgendwann die Gestapo noch darum gekümmert hat, aber das wird wohl nicht mehr nötig gewesen sein.«
»Wahrscheinlich nicht. Sie haben die Presse ja gleichgeschaltet…« Und dabei lachte er, als habe er einen Witz gemacht.
»Ganz genau«, nickte ich. Dann ertönte der »Walkürenritt«.
Fräulein Krömeier hatte mir das eingerichtet. Nachdem wir diese ganzen Computer in Betrieb genommen hatten, war ihr aufgefallen, dass man mir auch eines jener tragbaren Telefone besorgt hatte. Es war jenes Gerät eine unglaubliche Angelegenheit, mit der man obendrein ebenfalls in diesem Internetz herumfahren konnte, und das sogar noch einfacher als mit dem Mausgerät: Man steuerte es einfach mit den Fingern. Ich ahnte sofort, dass ich hier schöpferische arische Genialität in Händen hielt, und natürlich ließ sich mit wenigen Handgriffen herausfinden, dass die Marktreife jener Technik bei der hervorragenden Firma Siemens entwickelt worden war. Diese Handgriffe musste freilich Fräulein Krömeier durchführen, die Leseanzeige war ohne Brille nicht zu entziffern. Ich wollte im Anschlusse das ganze Telefon ihr überantworten, letzten Endes darf sich der Führer nicht mit zu viel Krimskrams befassen, dafür gibt es schließlich ein Sekretariat. Andererseits erinnerte sie mich nicht zu Unrecht daran, dass ich ihrer Tätigkeiten nur halbtags gewiss war. Ich tadelte mich daraufhin auch im Stillen, ich war zu abhängig von meinem Parteiapparat geworden. Ich stand eben wieder am Anfang, da musste ich wohl oder übel auch einmal selbst an den Apparat.
»Wolln Se ’nen bestimmten Klingelton?«, hatte Fräulein Krömeier gefragt.
»Ich doch nicht«, hatte ich spottend erwidert, »ich arbeite doch nicht in einem Großraumbüro!«
»Na ja, denn mache ick halt den normalen rein.«
Daraufhin hörte man ein Geräusch, das klang, als spielte ein betrunkener Clown Xylophon. Wieder und wieder.
»Was ist denn das?«, fragte ich entsetzt.
»Det is Ihr Telefon«, sagte Fräulein Krömeier und fügte hinzu: »meen Führa!«
»Und das klingt so?«
»Nur, wenn et klingelt.«
»Machen Sie das aus! Ich will nicht, dass die Leute mich für einen Idioten halten!«
»Drum hab ick Se ja jefragt«, sagte Fräulein Krömeier. »Is Ihnen der hier lieber?«
Man hörte mehr Clowns mit unterschiedlichsten Instrumenten.
»Das ist ja entsetzlich«, stöhnte ich.
»Aber is Ihnen nich ejal, wat die Leute von Ihnen halten?«
»Mein liebes Fräulein Krömeier«, sagte ich, »ich persönlich halte die kurze Lederhose für die männlichste Hose, die es gibt. Und wenn ich eines Tages wieder Oberbefehlshaber der Wehrmacht bin, werde ich eine ganze Division mit diesen kurzen Hosen ausrüsten. Und mit Wollstrümpfen.«
An dieser Stelle machte Fräulein Krömeier ein eigenwilliges Geräusch und begann sofort, sich die Nase zu putzen.
»Schon gut«, fuhr ich fort, »Sie kommen nicht aus Süddeutschland, Sie können das nicht verstehen. Doch wenn diese Division erst steht, wenn sie paradiert, dann wird man es sehen, dass all diese Witzeleien über die Seppelhose nichtig sind. Aber, und hier kommen wir zum eigentlichen Punkte: Ich habe auf dem Wege zur Macht erkennen müssen, dass man in dieser Hose als Politiker von den Wirtschaftsführern, von den Staatsmännern nicht ernst genommen wird. Ich habe weniges so bedauert, aber ich habe die kurze Wichs aufgeben müssen, und ich habe es getan, weil es meiner Sache und damit der Sache des Volkes dient. Und ich sage Ihnen: Ich habe diese wunderbaren Hosen nicht aufgegeben, damit mir ein Telefonapparat dieses Opfer zunichtemacht und mich dastehen lässt wie einen vollendeten Suppenkasper! Also holen Sie aus diesem Gerät endlich einen vernünftigen Klang.«
»Drum hab ich Se doch jefragt«, schniefte Fräulein Krömeier und legte das Taschentuch weg. »Ick kann det Ding klingeln lassen wie ’n janz normalet Telefon. Ich kann aber ooch jeden anderen Klang herbekommen. Sätze, Jeräusche, ooch Musik…«
»Auch Musik?«
»Wenn ick se nich selber spielen muss. Also, uff ’ner Schallplatte sollte se schon sein!«
Nun, und dann hatte sie mir den »Walkürenritt« eingestellt.
»Gut, nicht wahr?«, fragte ich den Zeitungskrämer und hob souverän den Apparat an mein Ohr. »Hitler hier!«
Ich hörte nichts außer weiteren reitenden Walküren.
»Hitler!«, sagte ich, »hier Hitler!« Und als die Walküren weiterritten, wechselte ich zu »Führerhauptquartier!« Für den Fall, dass der Anrufer zu überrascht war, dass er mich gleich selbst am Apparate hatte. Nichts geschah, nur die Walküren wurden lauter. Es tat inzwischen im Ohr regelrecht weh.
»HITLER HIER!«, schrie ich, »HIER FÜHRERHAUPTQUARTIER!« Ich kam mir vor wie 1915 an der Westfront.
»Bitte drücken Sie auf den grünen Knopf«, rief der Zeitungskrämer mit einem wehleidigen Unterton, »ich hasse Wagner.«
»Welcher grüne Knopf?«
»Na, das Ding auf Ihrem Telefon«, schrie er, »Sie müssen’s nach rechts schieben.«
Ich blickte auf den Apparat. Tatsächlich war hier ein grüner Schieber abgebildet. Ich schob ihn nach rechts, die Walküren verstummten, und ich schrie: »HITLER HIER! FÜHRERHAUPTQUARTIER!«
Nichts geschah, außer dass der Zeitungskrämer mit den Augen rollend meine Hand samt dem Apparat nahm und sie mit sanftem Druck an mein Ohr führte.
»Herr Hitler?«, hörte ich den Hotelreservierer Sawatzki, »hallo? Herr Hitler!«
»Jawohl«, sagte ich, »Hitler hier!«
»Ich versuche schon die ganze Zeit, Sie zu erreichen. Ich soll Ihnen von Frau Bellini ausrichten: Die Firma ist sehr zufrieden!«
»Nun ja«, sagte ich, »das ist schön. Ich selbst hatte mir allerdings etwas mehr erwartet.«
»Mehr?«, fragte Sawatzki irritiert, »noch mehr?«
»Mein lieber Herr Sawatzki«, sagte ich beschwichtigend, »drei Zeitungsartikel sind ganz gut und schön, aber wir haben schließlich andere Ziele…«
»Zeitungsartikel«, krähte Sawatzki, »wer redet von Zeitungsartikeln? Sie sind bei Youtube gelandet. Und Sie kriegen Klicks ohne Ende!« Dann senkte er seine Stimme und meinte: »Unter uns – es gab hier direkt nach der Sendung einige Stimmen, die Sie fallen lassen wollten. Ich nenne keine Namen. Aber jetzt… Schauen Sie sich das an! Die Jugend liebt Sie.«
»Die Jugend empfindet eben noch unverfälscht«, sagte ich.
»Und deswegen müssen wir sofort neue Sachen produzieren«, rief Sawatzki aufgeregt. »Ihr Anteil wird ausgedehnt. Es sind jetzt auch kleine Einspieler vorgesehen! Sie müssen sofort ins Büro kommen! Wo sind Sie?«
»Im Kiosk«, sagte ich.
»Gut«, sagte Sawatzki, »bleiben Sie da, ein Taxi ist unterwegs!« Dann legte er auf.
»Und«, fragte der Zeitungskrämer, »gute Nachrichten?«
Ich hielt ihm meinen Telefonapparat hin. »Kommen Sie damit zu einer Angelegenheit namens Jutjuub?«
xvii.
Es war Folgendes passiert: Jemand hatte mittels einer technischen Vorrichtung meinen Auftritt bei Wizgür aufgezeichnet und in das Internetz hineingetan, an einen Ort, bei dem jeder seine kleinen Filme ausstellen konnte. Und jeder konnte ansehen, was er wollte, ganz ohne dass die jüdische Schmierenjournaille ihm dabei Vorschriften machte. Selbstverständlich konnten auch Juden ihre Machwerke hier hineintun, aber ohne Bevormundung sah man gleich, wo das Ganze endete: Das Volk sah wieder und wieder meinen Auftritt bei Wizgür. Das konnte man an einer Zahl ablesen, die unter dem Filmausschnitt zu sehen war.