»Ich behandle Tagespolitik«, sagte ich ihm, »und natürlich Fragen, die darüber hinausreichen.«
»Keine Ahnung, wo das witzig sein soll«, brummte Bronner. »Politik ist immer Scheiße. Aber bitte, ist ja nicht meine Sendung.«
Ich habe in den Jahren gelernt: Fanatischer Glaube an die gemeinsame Sache ist nicht immer erforderlich. Und in manchen Dingen sogar hinderlich. Ich habe schon Regisseure gesehen, die vor lauter Kunstwillen nicht in der Lage waren, einen verständlichen Film zu drehen. Da war mir die Gleichgültigkeit des Bronner letzten Endes sogar lieber, sie ließ mir immerhin weitgehend freie Hand, wenn ich die erbärmlichen Leistungen der demokratisch gewählten Politrepräsentanten anzuprangern gedachte. Und da man die Dinge stets vereinfachen soll, wenn es denn möglich ist, wählte ich sogleich das nächstliegende Thema, im Wortsinne. Als Erstes stellte ich mich des Vormittags vor den Kindergarten neben der eigenwilligen Schule, an der ich inzwischen des Öfteren vorbeigelaufen war. Ich hatte schon mehrfach das unverantwortliche Verhalten der Autofahrer beobachtet, die dort mit erheblichem Tempo vorbeibrausten und bedenkenlos das Leben und die Gesundheit unserer Kinder aufs Spiel setzten. Ich plädierte zunächst in einer kurzen Ansprache heftig gegen jene Raserei, dann machten wir einige Aufnahmen dieser besinnungslosen Jugendmörder, die man später dazwischenmontieren konnte. Schließlich unterhielt ich mich mit den in großer Zahl vorbeilaufenden Müttern. Die Reaktionen waren erstaunlich. Die meisten fragten:
»Ist das hier die versteckte Kamera?«
Worauf ich zurückgab: »Keineswegs, gnädige Frau. Die Kamera ist ja hier, sehen Sie?« Dabei deutete ich auf das Aufnahmegerät und die Kameragenossen, ich tat es nachsichtig und geduldig, denn mit dem technischen Verständnis von Frauen ist das immer so eine Sache. Sobald dies geklärt war, wollte ich von der jeweiligen Dame wissen, ob sie üblicherweise in dieser Gegend verkehre.
»Dann sind Ihnen womöglich auch diese Autofahrer hier aufgefallen?«
»J-jaaa«, sagte sie gedehnt, »wieso…?«
»Würden Sie mir zustimmen, dass man angesichts des Verhaltens zahlreicher Autofahrer Angst haben muss um die Kinder, die hier spielen?«
»Ähm, schon, irgendwie, aber… sagen Sie, worauf wollen Sie hinaus?«
»Sprechen Sie Ihre Befürchtungen ganz frei heraus, Frau Volksgenossin!«
»Moment! Ich bin keine Volksgenossin! Aber wenn Sie schon fragen… Man ärgert sich da schon manchmal, wenn man mit den Kindern hier vorbeigeht…«
»Warum verhängt dann diese frei gewählte Regierung keine härteren Strafen gegen solche rücksichtslosen Raser?«
»Ich weiß nicht…«
»Wir werden das ändern! Für Deutschland. Sie und ich! Welche Strafen würden Sie fordern?«
»Welche Strafen ich fordere…?«
»Finden Sie, die bisherigen Strafen reichen aus?«
»Ich weiß nicht so genau…«
»Oder werden sie nicht streng genug durchgesetzt?«
»Nein, nein, ich – ich möchte das lieber nicht.«
»Wie? Und die Kinder?«
»Das ist… das ist alles schon so in Ordnung. So wie es ist. Ich bin ganz zufrieden!«
Das passierte oft. Es war wie in einem Klima der Angst, und das in dieser doch vorgeblich so freien Regierungsform. Die unschuldige einfache Frau aus dem Volke wagte nicht, in meiner Gegenwart offen zu sprechen, sobald ich in der schlichten Uniform des Soldaten auf sie zutrat. Ich war erschüttert. Und dies wiederholte sich in etwa drei Viertel der Fälle. Das letzte Viertel der befragten Personen sagte:
»Sind Sie hier der neue Ordner? Endlich spricht das mal einer aus! Das ist so eine Sauerei! Die gehören sofort ins Gefängnis!«
»Sie fordern also Zuchthaus?«
»Mindestens!«
»Ich hatte angenommen, die Todesstrafe gäbe es nicht mehr…«
»Leider!«
Nach einem ähnlichen Prinzip geißelte ich nun, was immer ich selbst oder in den Presse-Erzeugnissen wahrgenommen hatte. Vergiftete Lebensmittel, Autofahrer, die während des Führens ihres Fahrzeuges mit dem mobilen Apparat telefonierten, die barbarische Unsitte der Jägerei und dergleichen mehr. Und das Verblüffende war: Die Menschen forderten entweder drakonische Strafen oder, was wesentlich häufiger der Fall war, sie wagten es nicht, offen zu sprechen. Bei einer Gelegenheit war dies besonders ersichtlich. Denn hier hatten sich etliche Menschen bereits in der Innenstadt versammelt, um die Regierung zu kritisieren. Nachdem die naheliegende Lösung, nämlich Schlägertrupps, offenkundig derzeit niemandem mehr einzufallen schien, hatte man aber doch wenigstens eine Art Marktstand errichtet, um Unterschriften zu sammeln, die letzten Endes die beeindruckend hohe Zahl von 100000 Abtreibungen pro Jahr in Deutschland verhindern sollten.
Eine derartige Massenermordung deutschen Blutes ist selbstverständlich auch für mich nicht hinnehmbar – jeder Kretin konnte sofort sehen, dass dies bei 50 Prozent Buben mittelfristig zum Ausfall von drei Divisionen führen würde. Wenn nicht von vier. Allerdings mochte sich in meiner Gegenwart plötzlich keiner dieser braven, anständigen Menschen mehr zu seiner Gesinnung bekennen, und kurz nach unserem Eintreffen wurde die Aktion dann auch komplett abgebrochen.
»Was sagt man dazu?«, fragte ich Bronner. »Diese armen Menschen sind wie ausgewechselt. So viel zu dieser sogenannten Meinungsfreiheit.«
»Wahnsinn«, staunte Bronner, »das lief ja noch besser als die Sache mit den Hundehaltern gegen Leinenzwang!«
»Nein«, sagte ich, »das haben Sie falsch verstanden. Das bei den Hundehaltern, das waren keine anständigen Menschen, die sich da aus dem Staube gemacht haben. Das waren alles Juden. Haben Sie denn die Sterne nicht gesehen? Die wussten gleich, mit wem sie es zu tun hatten.«
»Das waren doch keine Juden«, wandte Bronner ein, »in den Sternen stand doch nicht ›Jude‹. Da stand ›Hund‹.«
»Das ist typisch für den Juden«, klärte ich ihn auf. »Nur Verwirrung stiftet er. Und auf den Flammen der Ratlosigkeit kocht er dann seine schmierige Giftsuppe.«
»Das ist doch…«, schnaufte Bronner, und dann lachte er. »Sie sind wirklich unglaublich!«
»Ich weiß«, sagte ich. »Sind eigentlich die Uniformen für Ihre Kameraleute schon da? Die Bewegung muss künftig einheitlich auftreten!«
In der Produktionsfirma wurden unsere Enthüllungen mit großer Begeisterung aufgenommen. »Sie könnten offenbar sogar einen Pfarrer zum Atheisten bekehren«, lachte die Dame Bellini bei der Sichtung des Materials.
»Das sollte man eigentlich meinen, doch ich habe das bereits im größeren Umfang versucht«, erinnerte ich mich, »bei vielen dieser Pfaffen schafft man das nicht einmal mit Lagerhaft.«
Bereits zwei Wochen nach meiner Premiere bei jenem Wizgür wurden nun diese Beiträge in die Sendung eingefügt, zusätzlich zu meiner flammenden Rede, die ich jeweils gegen Ende hielt. Und nach vier weiteren Wochen kam jeweils noch ein Beitrag dazu. Es war im Grunde wie Anfang der zwanziger Jahre. Nur mit dem Unterschied, dass ich mir damals eine Partei gekapert hatte.
Diesmal war es eine Rundfunksendung.
Ich behielt im Übrigen auch recht mit meiner Einschätzung, was diesen Wizgür anging. Tatsächlich verfolgte er mit einem gewissen Groll, wie ich mehr und mehr Einfluss und Macht in seiner Sendung gewann, wie sich deutlich die Führernatur durchsetzte. Dennoch trat er dieser Entwicklung nicht entgegen. Er passte sich zwar nicht direkt an, er protestierte jedoch nur auf das Kläglichste hin und wieder und jammerte hinter den Kulissen den Firmenverantwortlichen die Ohren voll. Ich an seiner Stelle hätte alles auf eine Karte gesetzt, ich hätte mir von Anfang an jegliche Einmischung verbeten, ich hätte unter vergleichbaren Umständen gleich nach dem ersten Auftritt mit der Einstellung jeder Arbeit für den Sender geantwortet, was hätten mich da Verträge interessiert. Aber jener Wizgür klammerte sich, wie es nicht anders zu erwarten war, verzweifelt an seine jämmerlichen Errungenschaften, an seinen fragwürdigen Ruhm, an seinen Sendeplatz, als wäre es eine Auszeichnung. Dieser Wizgür hätte niemals für seine Überzeugungen Rückschläge in Kauf genommen, er wäre nie in die Festungshaft gegangen.