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»Sie sollten mehr frühstücken«, sagte er. Dann setzte er sich wieder hin. »Drehen Sie hier irgendwo?«

»Drehen…?«

»Na, eine Dokumentation. Einen Film. Hier wird ja ständig irgendwas gedreht.«

»Film…?«

»Mensch, Sie sind ja ganz schön beieinander.« Er lachte und wies mit der Hand auf mich. »Oder laufen Sie immer so herum?«

Ich sah an mir herab. Ich konnte nichts Ungewöhnliches feststellen, natürlich abgesehen von dem Staub und dem Benzingeruch.

»Eigentlich schon«, sagte ich.

Es konnte freilich sein, dass ich im Gesichte verletzt war. »Haben Sie einen Spiegel?«, fragte ich.

»Sicher«, sagte er und zeigte darauf, »neben Ihnen, gleich über dem ›Focus‹.«

Ich folgte seinem Finger. Der Spiegel war orangefarben gerahmt, »Der Spiegel« hatte er sicherheitshalber darauf geschrieben, als ob man es sonst nicht gewusst hätte. Er steckte mit dem unteren Drittel zwischen irgendwelchen Magazinen. Ich sah hinein.

Mein Spiegelbild sah überraschend tadellos aus, sogar mein Rock wirkte gebügelt – vermutlich herrschte im Kiosk ein schmeichelhaftes Licht.

»Wegen der Titelstory?«, fragte der Mann. »Die haben doch auf jedem dritten Heft so eine Hitlergeschichte. Ich glaube, Sie müssen sich nicht noch intensiver vorbereiten. Sie sind gut.«

»Danke«, sagte ich abwesend.

»Nein, wirklich«, meinte er, »ich habe den ›Untergang‹ gesehen. Zweimal. Bruno Ganz, der Mann war exzellent, aber an Sie kommt er nicht ran. Die ganze Haltung… man könnte meinen, Sie wären es.«

Ich blickte auf: »Ich wäre was?«

»Na, als wären Sie der Führer.« Dabei hob er beide Hände, er legte Mittel- und Zeigefinger jeweils zusammen, krümmte sie vornüber und zuckte mit ihnen zweimal auf und ab. Ich mochte es kaum glauben, aber es schien so, dass dies nach sechsundsechzig Jahren alles war, was vom einstmals strammen Deutschen Gruß noch existierte. Es war erschütternd, aber immerhin ein Zeichen, dass mein politisches Wirken zwischenzeitlich nicht vollkommen folgenlos geblieben war.

Ich klappte den Arm zurück, den Gruß erwidernd: »Ich bin der Führer!«

Er lachte wieder: »Wahnsinn, das wirkt so natürlich.«

Ich konnte mich mit seiner penetranten Heiterkeit nicht recht befassen. Mir wurde meine Lage nach und nach bewusst. Wenn dies kein Traum war – und dafür dauerte es deutlich zu lange –, dann befand ich mich tatsächlich im Jahre 2011. Dann war ich also in einer Welt, die mir völlig neu war, und ich musste annehmen, dass ich umgekehrt auch für diese Welt ein neues Element darstellte. Wenn diese Welt auch nur ansatzweise logisch funktionierte, dann erwartete sie von mir, entweder 122 Jahre alt zu sein oder, was wahrscheinlicher war, seit Langem tot.

»Spielen Sie auch andere Sachen?«, fragte er. »Habe ich Sie schon mal gesehen?«

»Ich spiele nicht«, antwortete ich, wohl etwas barsch.

»Natürlich nicht«, sagte er und machte ein merkwürdig ernstes Gesicht. Dann zwinkerte er mir zu. »Wo treten Sie auf? Haben Sie ein Programm?«

»Selbstverständlich«, entgegnete ich, »seit 1920! Sie werden als Volksgenosse ja wohl die 25 Punkte kennen.«

Er nickte eifrig.

»Trotzdem, ich hab Sie noch nirgends gesehen. Haben Sie einen Flyer? Oder eine Karte?«

»Leider nein«, sagte ich betrübt, »die Karte ist im Lagezentrum.«

Ich versuchte mir darüber klar zu werden, was ich als Nächstes tun musste. Es schien einleuchtend, dass auch in der Reichskanzlei, dass selbst im Führerbunker ein 56-jähriger Führer auf Unglauben stoßen konnte, ja sicher stoßen würde. Ich musste Zeit gewinnen, meine Optionen analysieren. Ich brauchte eine Bleibe. Mir wurde plötzlich schmerzlich bewusst, dass ich keinen Pfennig Geld in der Tasche hatte. Für einen Moment erinnerte ich mich unangenehm an die Zeit im Männerwohnheim, 1909. Sie war notwendig gewesen, gewiss, sie hatte mir Einblicke verschafft, wie sie keine Universität der Welt vermitteln kann, und dennoch, es war diese Phase der Entbehrungen keine Zeit gewesen, die ich genossen hätte. Die finsteren Monate schossen mir durch den Kopf, die Missachtung, die Geringschätzung, die Unsicherheit, das Bangen um das Nötigste, das trockene Brot. Grüblerisch, abwesend biss ich in das seltsame Folienkorn.

Es schmeckte erstaunlicherweise süß. Ich musterte das Produkt.

»Ich mag die auch«, sagte der Zeitungskrämer, »wollen Sie noch einen?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte jetzt größere Probleme. Es galt, das schlichteste, das primitivste tägliche Auskommen zu sichern. Ich brauchte Unterkunft, etwas Geld, bis ich weitere Klarheit gewonnen haben würde, ich brauchte vielleicht eine Arbeit, wenigstens vorübergehend, bis ich wusste, ob und wie ich wieder meine Regierungstätigkeit würde aufnehmen können. Bis dahin war eine Form des Broterwerbs nötig. Vielleicht als Maler, vielleicht in einem Architekturbüro. Selbstverständlich war ich mir fürs Erste auch nicht zu schade zu körperlicher Arbeit. Natürlich wären meine Kenntnisse für das Deutsche Volk bei einem Feldzug vorteilhafter eingesetzt gewesen, aber in Unkenntnis der aktuellen Lage war das illusionär. Ich wusste ja nicht einmal, mit wem das Deutsche Reich überhaupt gerade eine gemeinsame Grenze hatte, wer sie zu verletzen suchte, gegen wen man zurückschießen konnte. Insofern musste ich mich wohl zunächst mit dem Einbringen der Fähigkeiten meiner Hände bescheiden, vielleicht beim Bau eines Aufmarschgeländes oder eines Autobahnabschnitts.

»Jetzt mal im Ernst«, drang die Stimme des Zeitungskrämers an mein Ohr. »Sie sind noch Amateur? Mit der Nummer?«

Das wiederum fand ich reichlich flegelhaft. »Ich bin kein Amateur!«, beschied ich ihm mit Nachdruck. »Ich bin doch keiner von diesen bürgerlichen Faulpelzen!«

»Nein, nein«, beschwichtigte der Mann, der mir im Grunde seines Herzens recht ehrlich zu scheinen begann. »Ich meine, was machen Sie denn beruflich?«

Tja, was machte ich beruflich? Was sollte ich angeben?

»Ich… ich habe mich momentan etwas… zurückgezogen«, umschrieb ich vorsichtig meine Lage.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, eiferte der Krämer, »aber wenn Sie wirklich noch nicht… das ist doch unglaublich! Ich meine, hier kommen öfter welche vorbei, die ganze Stadt ist voller Agenturen, voller Filmfritzen, Fernsehfiguren, die freuen sich immer über einen Tipp, über ein neues Gesicht. Und wenn Sie keine Karte haben – ich meine, wo erreiche ich Sie denn? Haben Sie eine Telefonnummer? E-Mail?«

»Äh…«

»Oder wo wohnen Sie?«

Damit traf er einen wahrlich wunden Punkt. Andererseits schien er nichts Unehrenhaftes im Schilde zu führen. Ich beschloss, es zu riskieren.

»Das mit der Wohnung ist derzeit etwas… wie soll ich sagen… ungeklärt…«

»Na ja, oder vielleicht haben Sie eine Freundin, bei der Sie wohnen?«

Für einen Moment dachte ich an Eva. Wo mochte sie wohl sein?

»Nein«, murmelte ich ungewohnt niedergeschlagen, »eine Gefährtin habe ich nicht. Mehr.«

»Ouh«, sagte der Krämer, »verstehe. Die Sache ist wohl noch recht frisch.«

»Ja«, bekannte ich, »das alles hier ist… recht frisch für mich.«

»Lief nicht mehr gut in letzter Zeit, hm?«

»Das ist wohl zutreffend«, nickte ich, »der Entsatzangriff der Gruppe Steiner ist unverzeihlicherweise ausgeblieben.«

Er sah mich irritiert an: »Mit Ihrer Freundin, meinte ich. Wer war schuld?«

»Ich weiß nicht«, bekannte ich, »letzten Endes wohl Churchill.«

Er lachte. Dann sah er mich längere Zeit nachdenklich an.

»Ihre Einstellung gefällt mir. Passen Sie auf, ich mach Ihnen einen Vorschlag.«

»Einen Vorschlag?«

»Ich weiß ja nicht, was Sie für Ansprüche haben. Aber wenn Sie nichts Besonderes brauchen, dann können Sie ein oder zwei Nächte hier übernachten.«

»Hier?« Ich sah mich im Kiosk um.