Ich setzte mich auf einen der freien Stühle. »Haben Sie vielleicht etwas zu lesen da?«, fragte ich das Jüngelchen.
»Ich… ich seh mal nach, Herr…«
»Hitler ist der Name«, sagte ich sachlich. »Ich muss schon sagen: Das letzte Mal, als ich mich derart mühsam vorstellen musste, befand ich mich in einer türkisch geführten Reinigung. Sind diese Anatolier irgendwie mit Ihnen verwandt?«
»Nein, es ist nur – wir…«, faselte das Jüngelchen.
»Nun ja. Ich sehe in dieser Partei keine große Zukunft für Sie!«
Das Telefon läutete und unterbrach die Lektüresuche des Jüngelchens. Er hob den Hörer ab und nahm beinahe so etwas wie Haltung an.
»Ja«, sagte er in den Hörer, »jawohl, der ist noch hier.« Dann wandte er sich an mich: »Der Bundesvorsitzende für Sie.«
»Ich bin nicht zu sprechen. Die Zeit der Telefonate ist abgelaufen. Ich will den Mann sehen.«
Das dürre Jüngelchen sah schwitzend nicht besser aus. Eine unserer Napolas schien das Büblein genauso wenig besucht zu haben wie eine Wehrsportübung oder generell jemals einen Sportverein. Dass die Partei derartige rassische Ausschussware nicht gleich beim Aufnahmeverfahren unnachgiebig aussiebte, war einem auch nur halbwegs geistig gesunden Menschen nicht nachvollziehbar. Das Jüngelchen wisperte etwas in den Telefonhörer. Dann legte es auf.
»Der Herr Bundesvorsitzende bittet um etwas Geduld«, sagte das Büblein, »aber er wird so schnell wie möglich kommen. Das hier ist doch für MyTV, oder?«
»Das hier ist für Deutschland«, korrigierte ich.
»Kann ich Ihnen in der Zwischenzeit vielleicht ein Getränk anbieten?«
»Sie können sich in der Zwischenzeit setzen«, sagte ich und musterte ihn besorgt. »Treiben Sie eigentlich Sport?«
»Ich möchte lieber nicht…«, sagte der, »und der Herr Bundesvorsitzende wird ja auch jeden Moment…«
»Hören Sie auf mit dem Gewimmer«, sagte ich. »Flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl. Kennen Sie das?«
Er nickte zögernd.
»Dann ist immerhin noch nicht alles verloren«, sagte ich mit einer gewissen Nachsicht. »Ich weiß, Sie haben Angst zu reden. Aber es reicht ja, wenn Sie einfach Ihren Kopf benutzen. Flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl – würden Sie sagen, dass das Eigenschaften sind, über die zu verfügen vorteilhaft ist, wenn man ein großes Ziel verfolgt?«
»Ich würde sagen, es kann nicht schaden«, sagte er vorsichtig.
»Und«, fragte ich, »sind Sie flink wie ein Windhund? Sind Sie hart wie Kruppstahl?«
»Ich…«
»Sie sind es nicht. Sie sind langsam wie eine Schnecke, brüchig wie die Knochen eines Greises und weich wie Butter. Hinter der Front, die Sie verteidigen, muss man Frauen und Kinder sofort evakuieren. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, sind Sie in einer anderen Verfassung! Wegtreten.«
Mit einem schafsartigen Gesichtsausdruck entfernte er sich.
»Und gewöhnen Sie sich das Rauchen ab«, schmetterte ich ihm hinterher. »Sie riechen wie ein billiger Schinken!«
Ich nahm mir eine dieser dilettantischen Broschüren, kam aber nicht dazu, sie zu lesen.
»Wir sind nicht mehr allein«, meinte Bronner mit einem Blick aus dem Fenster.
»Hm?«, fragte der Kameramann.
»Ich hab keine Ahnung, wer denen Bescheid gegeben hat, aber da draußen sind jede Menge Fernsehteams.«
»Wird wohl einer von den Polizisten gewesen sein«, vermutete der Kameramann. »Deswegen schmeißen die uns auch nicht raus. Das kommt nicht gut als Nazi, wenn man vor laufenden Kameras den Führer rausschmeißt.«
»Aber er ist es doch nicht«, grübelte Bronner.
»Derzeit nicht, Bronner«, korrigierte ich ihn streng. »Es gilt zunächst, die nationale Bewegung zu einigen und die schädlichen Idioten zu entfernen. Und hier«, sagte ich mit einem Seitenblick auf das Bübchen, »hier sind wir geradezu in einem Nest der schädlichen Idioten.«
»Jetzt kommt wer!«, sagte Bronner. »Ich glaub, das ist der Obermotz.«
Tatsächlich öffnete sich die Tür, und eine weichliche Figur trat ein. »Wie schön«, sagte er kurzatmig und schob mir seine feiste Hand hin, »der Herr Hitler. Mein Name ist Apfel, Holger Apfel. Bundesvorsitzender der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands. Ich verfolge Ihre Sendungen mit großem Interesse.«
Ich betrachtete kurz die bizarre Gestalt. Das zerbombte Berlin hatte nicht trauriger ausgesehen. Er klang, als hätte er ständig ein Wurstbrot im Mund, und letztlich sah er auch so aus. Ich ließ seine Hand unbeachtet und fragte: »Können Sie nicht grüßen wie ein anständiger Deutscher?«
Er sah mich irritiert an, wie ein Hund, dem man zugleich zwei Befehle gibt.
»Setzen Sie sich«, beschied ich ihn. »Wir haben zu reden.«
Er sank schnaufend in den Sitz mir gegenüber.
»Sie«, sagte ich, »vertreten hier also die nationale Sache.«
»Notgedrungen«, erwiderte er mit einem halben Lächeln, »Sie haben sich ja schon seit Längerem nicht mehr darum gekümmert.«
»Ich muss mir meine Zeit eben einteilen«, sagte ich knapp. »Die Frage ist: Was haben Sie in der Zwischenzeit getan?«
»Ich denke nicht, dass wir uns mit unseren Leistungen verstecken müssen«, sagte er, »wir vertreten die Deutschen inzwischen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen und unsere Kameraden in…«
»Wer?«
»Unsere Kameraden.«
»Es heißt Volksgenossen«, sagte ich. »Ein Kamerad ist jemand, mit dem man im Schützengraben war. Ich sehe hier mit Ausnahme meiner Wenigkeit niemanden, auf den das zutrifft. Sehen Sie das anders?«
»Für uns Nationaldemokraten…«
»Nationaldemokratie«, spottete ich, »was soll das sein? Nationalsozialistische Politik erfordert einen Demokratiebegriff, der sich nicht für die Namensgebung eignet. Wenn mit der Wahl des Führers die Demokratie beendet ist, rennen Sie immer noch mit der Demokratie im Namen herum! Wie dumm kann man eigentlich sein?«
»Wir stehen als Nationaldemokraten natürlich fest auf dem Boden des Grundgesetzes und…«
»Sie scheinen mir nicht in der SS gewesen zu sein«, sagte ich, »aber Sie haben doch wenigstens mein Buch gelesen?«
Er blickte ein wenig verunsichert und meinte dann: »Nun, man muss sich ja umfassend informieren, und obwohl das Buch in Deutschland nicht ganz leicht erhältlich ist…«
»Was soll das werden? Eine Art Entschuldigung dafür, dass Sie mein Buch gelesen haben? Oder dass Sie es nicht gelesen haben? Oder dass Sie es nicht verstanden haben?«
»Also, das führt jetzt zu weit, könnten wir für einen Moment mal die Kamera ausschalten?«
»Nein«, sagte ich kalt. »Sie haben genug Zeit vertrödelt. Sie sind ein Blender, Sie versuchen auf den vernachlässigten Flammen der heißen Heimatliebe völkisch gesinnter Deutscher Ihr Süppchen zu kochen, doch jedes Wort aus Ihrem unfähigen Mund wirft die Bewegung um Jahrzehnte zurück. Es sollte mich nicht wundern, wenn Sie hier letztlich nur eine bolschewistisch unterwanderte Herberge für Landesverräter unterhalten.«
Er versuchte sich zurückzulehnen, um ein überlegenes Lächeln zu platzieren, aber ich gedachte nicht, ihn so leicht davonkommen zu lassen.
»Wo«, sagte ich eisig, »ist in Ihren ›Broschüren‹ der Rassegedanke? Der Gedanke des deutschen Blutes und der Blutreinheit?«
»Nun, ich habe erst kürzlich betont, dass man Deutschland den Deutschen…«
»Deutschland! Dieses ›Deutschland‹ ist ein Zwergstaat im Vergleich zu dem Lande, das ich geschaffen habe«, hielt ich fest, »und selbst das Großdeutsche Reich war für die Bevölkerung zu klein. Wir brauchen mehr als Deutschland. Und wie bekommen wir das?«
»Wir, äh… wir bestreiten die, äh, die Rechtmäßigkeit der von den Siegermächten erzwungenen Grenzanerkennungsverträge…«
Ich musste unwillkürlich lachen, zugegebenermaßen handelte es sich dabei um ein Lachen der Verzweiflung. Dieser Mann war eine unvorstellbare Witzfigur. Und dieser hoffnungslose Idiot führte den größten nationalen Verband auf deutschem Boden. Ich beugte mich nach vorne und schnippte mit den Fingern.