»Wissen Sie, was das ist?«
Er sah mich fragend an.
»Das ist die Zeitspanne, die man braucht, um aus dem Völkerbund auszutreten. ›Wir bestreiten die Rechtmäßigkeit blablabla‹ – was für ein wehleidiges Geschwätz! Man tritt aus dem Völkerbund aus, dann rüstet man auf und nimmt sich, was man braucht. Und wenn man ein blutreines deutsches Volk hat, das mit fanatischem Willen kämpft, dann bekommt man auch alles, was man auf dieser Welt haben muss. Also, noch einmal! Wo ist bei Ihnen der Rassegedanke?«
»Na ja, Deutscher wird man nicht durch den Pass, sondern durch die Geburt, das steht bei uns im…«
»Ein Deutscher windet sich nicht in juristischen Formulierungen, sondern er spricht Fraktur! Die Grundlage der Erhaltung des deutschen Volkes ist der Rassegedanke. Wenn die Unverzichtbarkeit dieses Gedankens nicht wieder und wieder dem Volke eingeprägt wird, dann haben wir in fünfzig Jahren kein Heer, sondern einen Sauhaufen wie das Habsburgerreich.« Ich wandte mich kopfschüttelnd zu dem Jüngelchen.
»Sagen Sie, haben Sie diesen sogenannten demokratischen Kloß gewählt?«
Das Jüngelchen machte eine ungewisse Kopfbewegung.
»War denn das der beste verfügbare Mann?«
Er zuckte mit den Schultern. Ich stand auf, resigniert. »Gehen wir«, sagte ich bitter. »Es wundert mich nicht, dass diese Partei keinerlei Terror verbreitet.«
»Und was ist mit Zwickau?« Das war Bronner.
»Was soll mit Zwickau sein«, fragte ich. »Was hat das mit Terror zu tun? Wir haben den Terror damals auf die Straße gebracht! Wir haben damit 1933 einen gewaltigen Erfolg eingefahren. Das hatte aber auch seinen Grund: Die SA ist auf Lastkraftwagen durch die Gegend gefahren, hat Knochen gebrochen und Fahnen geschwenkt. Fahnen, hören Sie das?«, brüllte ich nun schon unbeherrscht den Apfelklops an, dass er zurückschreckte.
»Fahnen! Vor allem das ist wichtig! Wenn so ein bolschewistisch verblendeter Dummkopf im Rollstuhl sitzt, dann soll er ja auch wissen, wer ihn da hineingeprügelt hat und warum! Und was macht dieses Idiotentrio in Zwickau? Die bringen reihenweise Ausländer um – ohne Fahne. Prompt glauben alle, das wäre wohl Zufall oder die Mafia. Wovor soll man denn da Angst haben? Dass diese mentalen Rohrkrepierer überhaupt existierten, hat man ja erst daran gemerkt, dass sich zwei von diesen Dümmlingen selbst umgebracht haben.« Ich warf hilflos die Hände zum Himmel. »Wenn ich diese Herrschaften rechtzeitig in die Finger bekommen hätte, für die hätte ich eigens ein Euthanasieprogramm aufgelegt!«
Ich wandte mich wütend an den Apfelklops. »Oder ich hätte sie so lange geschult, bis sie sinnvoll arbeiten. Haben Sie den drei Schwachköpfen wenigstens Ihre Hilfe angeboten?«
»Ich hatte mit der Sache nichts zu tun«, sagte er zögernd.
»Da sind Sie wohl auch noch stolz darauf!«, schrie ich. Wenn er Schulterklappen gehabt hätte, ich hätte sie ihm vor laufender Kamera von seinem Anzug gerissen. Ich ging entsetzt zur Tür und trat hinaus.
Ich stand vor einem Wald von Mikrofonen.
»Was haben Sie besprochen?«
»Werden Sie für die NPD kandidieren?«
»Sind Sie Mitglied?«
»Ein Haufen Waschlappen«, sagte ich enttäuscht. »Nur so vieclass="underline" Ein anständiger Deutscher hat hier nichts verloren.«
xxiv.
Das ist pures Gold!«, hatte die Dame Bellini gesagt, als ich ihr schweren Herzens neben mancherlei anderen Beiträgen auch den Bericht von jenen »Nationaldemokraten« gezeigt hatte. »Das ist ein Special«, sprudelte sie los, »da kürzen wir ganz wenig. Das wird der nächste Schritt zur Marke Hitler! Das senden wir Neujahr! Oder an Dreikönig, genau dann, wenn alle zu Hause sitzen und endlich mal was anderes suchen außer allen Teilen von ›Stirb langsam‹ und der hundertsten Wiederholung von ›Star Wars‹.« Das war die letzte Konferenz vor der sogenannten Weihnachtspause gewesen. Es gab fürs Erste nichts mehr zu tun, außer die Sendetermine abzuwarten, das Erscheinen des Interviews, das Vorübergehen der allgemeinen Besinnlichkeit.
Ich bin nie ein großer Verfechter von Weihnachten gewesen. Das war schon damals in Bayern für viele schwer begreiflich, da wird das ja schon im Vorfeld mit diesem Begriff der »staden Zeit« eingeläutet. Wenn es nach mir gegangen wäre, man hätte das komplett weglassen können, inklusive Advent, Nikolaus. Ich bin auch kein Verfechter dieses Gänsebratens, weder am Martinstage noch zu Weihnachten noch an Lichtmess. Damals, zu meiner bislang ersten Regierungszeit, hatte ich auch ohnehin keine Zeit zu verlieren gehabt in der Vorbereitung für den Endkampf. Ich war drauf und dran, Weihnachten vollkommen zu übergehen, aber Goebbels hat mich da immer zurückgehalten und gesagt, man müsse auf die Bedürfnisse des Volkes Rücksicht nehmen. Jedenfalls zunächst noch.
Gut, Goebbels war nun einmal ein Familienmensch. Und es ist auch in Ordnung, wenn wenigstens einer in der Partei die Fühler tief in die Volksseele eindringen lassen kann, man soll derlei Strömungen nicht ignorieren. Im Nachhinein bin ich allerdings nicht mehr sicher, ob die Idee mit den goldenen Hakenkreuzen als Baumschmuck nicht übertrieben war. Eine alte Idee neu umzudeuten, das ist eines der schwierigsten Unterfangen – wenn überhaupt, sollte man da gleich etwas ganz Neues, Eigenes dagegensetzen. Ich habe das nie kontrolliert, aber diese Hakenkreuzkugeln hat vermutlich nicht mal Goebbels selbst verwendet oder höchstens eine, aus Anstand oder Höflichkeit. Bei Himmler ist das vielleicht anders gewesen.
Die Folgen von Weihnachten habe ich jedoch stets durchaus geschätzt. Was habe ich in diesen Tagen an Büchern weggelesen. Und Entwürfe gezeichnet! Halb Germania ist da entstanden! Insofern machte es mir nichts aus, die Zeit um den Jahreswechsel mehr oder weniger alleine im Hotelzimmer zu verbringen. Die Hoteldirektion hatte auch als kleines Präsent eine Flasche Wein und ein paar Pralinés gesandt, nun ja, sie konnten nicht wissen, dass ich nicht allzu viel auf Alkohol gab.
Das einzige Unangenehme an dieser Weihnachtszeit ist für mich immer gewesen, dass mir in jenen Tagen auffiel, dass mir eine eigene Familie niemals vergönnt war. Ein Reich zu reorganisieren, ein Volk mit der nationalen Bewegung zu durchdringen, die eiserne, die fanatische Erfüllung des Haltebefehls im Osten durchzusetzen, so etwas geht eben nicht mit Kindern, derlei geht nicht einmal mit einer Frau. Schon mit Eva war das schwierig, eine gewisse Rücksichtnahme auf ihre Bedürfnisse war vonnöten, doch letzten Endes war bei einer erhöhten bis extremen Inanspruchnahme meiner Person durch Partei, Politik und Reich nie vollkommen auszuschließen, dass sie in ihrem Kummer wieder einmal versuchte, sich selbst…
Allerdings gebe ich zu, dass in diesen Tagen, in denen ich im Prinzip einmal relativ wenig zu tun hatte, Evas Gegenwart schon angenehm gewesen wäre. Diese fröhliche Ausstrahlung. Aber nun gut: Der Starke ist am mächtigsten allein. Das gilt auch und gerade an Weihnachten.
Ich blickte auf die Präsentflasche des Hotels. Eine Beerenauslese hätte mir schon mehr Freude bereitet.
In letzter Zeit hatte ich mir angewöhnt, gelegentlich kleine Spaziergänge zum Spielplatz des Kindergartens zu machen, das Toben, das aufgeregte Kreischen der Buben und Mädeln erfreute mich doch häufig und brachte einen auf andere Gedanken. Aber wie ich kürzlich hatte feststellen müssen, war der Kindergarten während der Weihnachtstage geschlossen. Wenig sieht trübsinniger aus als ein verwaister Spielplatz.
Ich habe dann etwas gezeichnet, man konnte ja nicht wissen, wann man wieder dazu käme, ich entwarf ein Autobahnnetz und ein Eisenbahnsystem, diesmal für jenseits des Ural, einige Zentralbahnhöfe sowie eine Brücke nach England. Sie haben da einen Tunnel gegraben, aber letztlich schätze ich oberirdische Lösungen mehr, vielleicht habe ich ein wenig zu viel Zeit in Bunkern verbracht. Ich war unzufrieden mit meiner Lösung, ich habe dann auch noch zwei neue Opernhäuser für Berlin entworfen, mit jeweils 150000 Sitzplätzen, aber doch ohne die rechte Lust, mehr aus Pflichtgefühl, wer macht so etwas, wenn ich es nicht selbst in die Hand nehme? Und letzten Endes begrüßte ich es dann schon, als ich Anfang Januar die Produktionsarbeit wieder fortführen konnte.