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8. Der »Völkische Beobachter« war nicht überall erhältlich, der Kiosk des offenbar wohl doch reichlich liberalen Zeitungskrämers jedenfalls führte ihn nicht, wie bei ihm auch überhaupt keinerlei deutschnational orientierte Publikationen auslagen.

9. Das Reichsgebiet schien deutlich verringert, die umgebenden Staaten waren jedoch weitgehend die gleichen geblieben, sogar Polen führte seine widernatürliche Existenz offenbar unvermindert fort, teilweise sogar auf ehemaligem Reichsgebiet! Bei aller Nüchternheit konnte ich an dieser Stelle eine gewisse Empörung nicht unterdrücken, im ersten Moment rief ich doch tatsächlich in das Dunkel des nächtlichen Kiosks hinein aus: »Da hätte ich mir den ganzen Krieg ja schenken können!«

10. Die Reichsmark war kein Zahlungsmittel mehr, obgleich das von mir angestrebte Konzept, sie zur europaweit gültigen Währung zu erheben, offenbar von anderen verwirklicht worden war, vermutlich von irgendwelchen ahnungslosen Dilettanten aufseiten der Siegermächte. Forderungen wurden jedenfalls momentan in einer Kunstwährung namens »Euro« beglichen, die freilich erwartungsgemäß von größtem Misstrauen begleitet wurde. Wer immer das veranlasst hatte, ich hätte es ihm gleich sagen können.

11. Es schien eine Art Teilfrieden zu geben, doch die Wehrmacht befand sich nach wie vor im Krieg, sie hieß allerdings inzwischen »Bundeswehr« und war in einem beneidenswerten Zustand, ohne Zweifel bedingt durch den technischen Fortschritt. Wenn man den veröffentlichten Zahlen glauben durfte, war von einer praktischen Unverwundbarkeit des deutschen Soldaten im Felde auszugehen, Verluste traten nur mehr vereinzelt auf. Man kann sich meinen Kummer vorstellen, als ich aufstöhnend an mein eigenes, tragisches Los dachte, an die bitteren Nächte im Führerbunker, gramgebeugt über den Karten im Lagezentrum brütend, ringend mit einer feindseligen Welt und mit dem Schicksaclass="underline" Damals verbluteten an zahlreichen Fronten noch über 400000 Soldaten, und das allein im Januar 1945 – mit dieser fabelhaften Truppe von heute hätte ich Eisenhowers Armeen fraglos ins Meer gefegt, Stalins Horden wären in wenigen Wochen am Ural und Kaukasus zerquetscht worden wie Maden. Es war dies eine der wenigen wirklich guten Nachrichten, die mich erreichten: Die künftige Eroberung von Lebensraum im Norden, Osten, Süden, Westen schien mir mit jener neuen Wehrmacht kaum weniger Erfolg versprechend als mit der alten. Verantwortlich dafür schien im Übrigen die kürzlich erfolgte Reform eines jungen Ministers, der wohl das Format eines Scharnhorst besaß, allerdings aufgrund einer Intrige so missgünstiger wie engstirniger Universitätsgelehrter das Feld hatte räumen müssen. Es schien wohl heute genauso zu sein wie damals an der Wiener Akademie, an der ich weiland hoffnungsvoll meine Entwürfe und Zeichnungen einreichte: Vom Neide zerfressen hemmen die Kleingeister noch stets das frische, unverzagt auftrumpfende Genie, weil sie es nicht ertragen können, dass dessen Glanz das Glimmen ihrer eigenen Mitleid erregenden Lichtlein so deprimierend deutlich überstrahlt.

Na ja.

Angesichts dieser allgemein recht gewöhnungsbedürftigen Umstände konnte ich aber zugleich nicht unzufrieden feststellen, dass zumindest vorerst keine akute Gefahr herrschte, obzwar es Unannehmlichkeiten gab. Wie es einem kreativen Geist zukommt, pflegte ich zuletzt lange zu arbeiten, aber auch lange zu ruhen, um die gewohnte Frische und Reaktionsschnelligkeit beibehalten zu können. Der Zeitungskrämer hingegen pflegte berufsbedingt schon am frühesten Morgen seinen Kiosk zu eröffnen, weshalb auch ich, der ich oft meine Studien bis weit in die frühen Morgenstunden ausgedehnt hatte, mit erfrischendem Schlaf ab dieser Uhrzeit nicht mehr rechnen konnte. Verschärfend kam hinzu, dass dieser Mensch schon morgens ein geradezu enervierendes Redebedürfnis hatte, wohingegen ich zu dieser Zeit üblicherweise einer gewissen Findungsphase bedarf. Schon am ersten Morgen betrat er geradezu schwungvoll den Kiosk mit dem Ausruf:

»Na, mein Führer, wie war die Nacht?«

Und dabei riss er ohne die geringste Verzögerung seine Verkaufsöffnung auf, worauf ein besonders grelles Licht den Kiosk blendend erhellte. Ich stöhnte auf, kniff die gepeinigten Augen zu, mühte mich, mir die Umstände meines Aufenthalts ins Gedächtnis zu rufen. Im Führerbunker war ich nicht, das stand mir sofort wieder in aller Deutlichkeit vor Augen. Ansonsten hätte ich diesen Trampel sofort standrechtlich erschießen lassen können. Dieser morgendliche Terror war ohne Wenn und Aber die reinste Wehrkraftzersetzung. Dennoch hielt ich an mich, wurde meiner neuen Situation gewahr, ja sprach mir selbst beruhigend zu, dass dieser Kretin aufgrund seines Broterwerbs wohl keine Alternative hatte und es auf seine tölpelhafte Weise wahrscheinlich sogar gut mit mir zu meinen glaubte.

»Auf geht’s«, krähte der Krämer nun, »kommen Sie, helfen Sie mir mal!« Und dabei deutete er nickend mit seinem Kopf auf etliche transportable Zeitschriftenhalter, von denen er einen bereits nach außen schob.

Ich quälte mich seufzend hoch, um, noch immer ermüdet, seinem Wunsche zu folgen. Es war schon paradox: Vorgestern hatte ich noch die 12. Armee verschoben, heute waren es Regale. Mein Blick fiel auf das neue Heft von »Wild und Hund«. Manches gab es also immer noch. Und obwohl ich nie ein leidenschaftlicher Jäger gewesen bin, im Gegenteil die Jagd schon immer eher kritisch betrachtet habe, packte mich doch in jenem Augenblick kurz die Sehnsucht, diesem seltsamen Alltag zu entfliehen, mit einem Hund durch die Natur zu streifen, in der Natur Auge in Auge mit der Kreatur das Werden und Vergehen der Welt zu verfolgen… Dann riss ich mich aus meinen Träumereien. In wenigen Minuten richteten wir nun gemeinsam seinen Kiosk zum Verkaufe her. Der Krämer holte zwei Klappstühle heraus und stellte sie vor dem Häuschen in die Sonne. Er bot mir einen Platz an, holte eine Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche, klopfte einige Zigaretten aus der Öffnung und hielt sie mir hin.

»Ich rauche nicht«, schüttelte ich den Kopf, »doch danke.«

Er nahm eine Zigarette, steckte sie in seinen Mund, holte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche und entzündete sie. Er sog den Rauch ein, ließ ihn dann genussvoll ausströmen und sagte:

»Ahhh – und jetzt ein Kaffee! Für Sie auch? Das heißt, wenn Sie mögen – ich habe hier nur Pulverkaffee.«

Das war nicht überraschend. Natürlich blockierte der Engländer nach wie vor die Seewege, dieses Problem hatte ich zur Genüge kennenlernen »dürfen«, es war nur verständlich, dass in meiner Abwesenheit die wie auch immer geartete oder benannte neue Reichsführung mit der Lösung überfordert gewesen sein musste – und es noch immer war. Die tapfere, leidensfähige deutsche Bevölkerung musste also wie seit so langer Zeit mit Ersatzmitteln arbeiten. Muckefuck hatte man den Kaffeeersatz wohl genannt, und mir fiel sofort auch wieder der pappsüße Presskornriegel ein, der hier notgedrungen in der Rolle des guten deutschen Brotes dilettieren musste. Und der bedauernswerte Zeitungskrämer schämte sich vor seinem Gast, weil er im Würgegriff der britischen Parasiten der Menschheit nichts Besseres anzubieten hatte. Es war schier empörend. Eine Welle der Rührung stieg in mir hoch.

»Sie können nichts dafür, guter Mann«, beruhigte ich ihn, »ich bin ohnehin kein Liebhaber des Kaffees. Für ein Glas Wasser wäre ich jedoch dankbar.«

So verbrachte ich meinen ersten Morgen in dieser seltsamen neuen Zeit an der Seite des rauchenden Zeitungskrämers, begleitet vom festen Vorsatz, so lange die Bevölkerung zu studieren und aus ihrem Verhalten neue Erkenntnisse zu gewinnen, bis möglicherweise der Krämer aufgrund seiner angedeuteten Beziehungen tatsächlich eine kleine Tätigkeit für mich vermitteln konnte.