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Fjodr Michailowitsch Dostojewski

Erniedrigte und Beleidigte

Roman in vier Teilen mit einem Epilog

Erster Teil

Erstes Kapitel

Im vorigen Jahre, am Abend des zweiundzwanzigsten März, erlebte ich etwas sehr Seltsames. Ich war den ganzen Tag über in der Stadt umhergelaufen, um mir eine Wohnung zu suchen. Meine bisherige Wohnung war sehr feucht, und ich begann schon damals häßlich zu husten. Ich hatte bereits im Herbst umziehen wollen, aber die Sache hatte sich dann bis zum Frühling hingezögert. Den ganzen Tag über hatte ich nichts mir Zusagendes finden können. Erstens wollte ich eine eigene Wohnung haben, nicht eine in Aftermiete; und zweitens wollte ich mich zwar nötigenfalls mit einem einzigen Zimmer begnügen, dieses sollte aber unbedingt groß sein, selbstverständlich gleichzeitig auch möglichst billig. Ich hatte die Beobachtung gemacht, daß in einem engen Zimmer sich sogar die Gedanken beengt fühlen. Ich für meine Person habe, wenn ich meine künftigen Novellen durchdachte, es immer geliebt, im Zimmer auf und ab zu gehen. Beiläufig bemerkt: das vorherige Durchdenken meiner literarischen Produktionen und die Überlegung, wie ich sie niederschreiben wollte, machte mir von jeher mehr Vergnügen als das wirkliche Niederschreiben, und das rührte wirklich nicht etwa von Trägheit her. Woher es eigentlich kam, vermag ich nicht zu sagen.

Schon am Morgen hatte ich mich nicht wohl gefühlt, und gegen Abend wurde mir sogar recht schlecht; es bildete sich eine Art Fieber heraus. Zudem war ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und müde geworden. Am Abend, unmittelbar vor Eintritt der Dämmerung, ging ich gerade den Wosnessenskiprospekt entlang. Ich liebe die Märzsonne in Petersburg, besonders den Sonnenuntergang; selbstverständlich muß es ein klarer, kalter Abend sein. Die ganze Straße glänzt auf einmal, von hellem Licht übergossen. Alle Häuser fangen plötzlich an zu leuchten. Ihre grauen, gelblichen, schmutzig-grünen Farben verlieren für einen Augenblick all ihr Düsteres, Unfreundliches; es ist, als werde es in der Seele hell, als schrecke man zusammen oder als stoße einen jemand mit dem Ellbogen an. Und der neue Anblick erweckt neue Gedanken... Es ist erstaunlich, welch eine Wirkung ein einziger Sonnenstrahl in der Seele eines Menschen hervorzubringen vermag!

Aber das Licht der Sonne war erloschen; die Kälte nahm zu und kniff einem in die Nase; die Dunkelheit wurde stärker; in den Schaufenstern und Läden blitzten die Gasflammen auf. Als ich der Müllerschen Konditorei gegenüber war, blieb ich plötzlich wie angenagelt stehen und sah nach der anderen Seite der Straße hinüber, als ob ich ahnte, daß ich da alsbald etwas Ungewöhnliches erleben würde, und gerade in diesem Moment erblickte ich dort einen alten Mann mit einem Hund. Ich erinnere mich noch ganz genau, daß sich mir das Herz infolge einer unangenehmen Empfindung krampfhaft zusammenzog, ohne daß ich mir selbst hätte darüber klarwerden können, was das für eine Empfindung war.

Ich neige nicht zum Mystizismus, und an Ahnungen und Wahrsagerei glaube ich so gut wie gar nicht, obwohl mir, wie vielleicht allen Menschen, im Leben einige ziemlich unerklärliche Begebnisse vorgekommen sind. So zum Beispiel gleich dieser alte Mann: woher hatte ich bei meiner damaligen Begegnung mit ihm sofort das Gefühl, daß ich gleich an diesem Abend etwas recht Ungewöhnliches erleben würde? Übrigens war ich krank, und krankhafte Gefühle sind fast immer trügerisch.

Der Alte näherte sich der Konditorei mit langsamem, müdem Gang; er setzte ein Bein vor das andere, als ob er sie nicht biegen könne, als ob es Stöcke wären; seine Haltung war gebeugt, und er stieß leicht mit dem Stock auf die Trottoirplatten. In meinem ganzen Leben bin ich keiner so seltsamen, wunderlichen Gestalt begegnet. Auch früher schon, vor dieser Begegnung, hatte er jedesmal, wenn ich mit ihm bei Müller zusammentraf, eine peinliche Empfindung bei mir erweckt. Sein hoher Wuchs, sein gebeugter Rücken, sein totenbleiches, achtzigjähriges Gesicht, sein alter, in den Nähten aufgerissener Mantel, der verbeulte, wohl zwanzig Jahre alte Zylinderhut, der seinen kahlen Kopf bedeckte, auf welchem nur ganz im Nacken ein Büschel nicht mehr grauer, sondern gelblich-weißer Haare übrig war, alle seine Bewegungen, die gewissermaßen unbewußt, wie durch einen leblosen Mechanismus zu erfolgen schienen: alles dies machte unwillkürlich einen starken Eindruck auf jeden, der ihm zum ersten Male begegnete. In der Tat, es war ein seltsamer Anblick, dieser völlig abgelebte Greis, so ganz allein, ohne jeden Begleiter, um so mehr, da er einem Irrsinnigen glich, der seinen Aufsehern davongelaufen war. Es überraschte mich auch seine außerordentliche Magerkeit: es war, als hätte er fast gar kein Fleisch mehr auf dem Leib, als wäre über die Knochen einfach nur die Haut gespannt. Seine großen, trüben, in blauen Ringen liegenden Augen blickten immer gerade vor sich hin, nie zur Seite, und sahen überhaupt nie etwas; davon bin ich überzeugt. Wenn er einen auch ansah, so ging er doch auf den Betreffenden gerade los, wie wenn er leeren Raum vor sich hätte. Das habe ich mehrmals beobachtet. Zu Müller zu kommen hatte er erst vor kurzem angefangen, und immer mit seinem Hund. Keiner der Besucher der Konditorei wußte, woher er kam; keiner hatte Lust, mit ihm zu reden, und er selbst knüpfte mit keinem von ihnen ein Gespräch an.

›Warum schleppt er sich nur zu Müller, und was hat er da zu suchen?‹ dachte ich, während ich auf der anderen Seite der Straße stand und mich von seinem Anblick nicht losreißen konnte. Eine Art von Ärger, die Folge meiner Krankheit und Müdigkeit, stieg in mir auf. ›Woran mag er nur denken?‹ fuhr ich in meinem Selbstgespräch fort; ›was mag er im Kopf haben? Ob er wohl überhaupt noch an etwas denkt? Sein Gesicht ist dermaßen tot, daß es gar keinen Ausdruck mehr aufweist. Und woher hat er diesen garstigen Hund, der ihm so ähnlich ist und nicht von ihm weicht, als ob er mit ihm ein untrennbares Ganzes bildet?‹

Dieser unglückliche Hund war, wie es schien, ebenfalls achtzig Jahre alt; ja, so mußte es jedenfalls sein. Erstens war er dem Ansehen nach so alt, wie Hunde es sonst nie werden, und zweitens, woher kam mir nur gleich beim erstenmal, als ich ihn erblickte, der Gedanke, dieser Hund könne nicht von derselben Art sein wie alle Hunde; er sei ein ungewöhnlicher Hund; es stecke in ihm jedenfalls etwas Gespenstiges, Zauberisches; er sei vielleicht eine Art von Mephistopheles in Hundegestalt und sein Schicksal sei durch irgendwelche geheimnisvollen, unsichtbaren Bande mit dem Schicksal seines Herrn verknüpft? Wenn man ihn ansah, konnte man gut und gern glauben, daß es wohl schon zwanzig Jahre her war, seit er zum letztenmal gefressen hatte. Er war mager wie ein Skelett oder (welcher Ausdruck ist stärker?) wie sein Herr. Die Haare waren ihm fast vollständig ausgefallen, auch am Schwanz, der wie ein Stock herunterhing und den er immer fest zwischen die Beine kniff. Den langohrigen Kopf ließ er mürrisch hängen. In meinem ganzen Leben habe ich keinen Hund von so abstoßendem Äußerem zu sehen bekommen. Wenn die beiden auf der Straße gingen, der Herr voran, der Hund hinter ihm, so berührte die Nase des letzteren den Rockschoß des Vorangehenden, als ob sie daran festgeklebt sei. Und der Gang der beiden und ihr ganzes Aussehen sagte beinahe mit jedem Schritt: ›O Gott, wie alt sind wir, wie alt!‹

Ich erinnere mich auch, daß mir einmal der Gedanke kam, der Alte und sein Hund seien auf irgendeine Weise aus einer von Gavarni illustrierten Ausgabe von ›Hoffmanns Erzählungen‹ entwischt und gingen nun in der Welt als wandelnde Anzeigen dieses Buches umher. Ich ging über die Straße hinüber und trat hinter dem Alten in die Konditorei.

In der Konditorei benahm sich der Alte sehr seltsam, und der hinter seinem Ladentisch stehende Herr Müller fing in der letzten Zeit schon an, beim Eintritt des ungebetenen Gastes ein unzufriedenes Gesicht zu machen. Erstens bestellte der sonderbare Gast nie etwas. Er ging jedesmal geradenwegs in die Ecke beim Ofen und setzte sich dort auf einen Stuhl. War aber sein Platz am Ofen besetzt, so blieb er vor dem Herrn, der seinen Platz innehatte, ein Weilchen in gedankenloser Verwunderung stehen und ging dann ganz verstört nach einer anderen Ecke am Fenster. Dort wählte er sich einen Stuhl aus, ließ sich langsam darauf nieder, nahm den Hut ab, legte ihn neben sich auf den Fußboden, den Stock daneben, lehnte sich in den Stuhl zurück und verharrte so drei oder vier Stunden lang, ohne sich zu bewegen. Nie nahm er eine Zeitung in die Hand, nie sagte er ein Wort oder gab einen Laut von sich; er saß nur da und sah mit weitgeöffneten Augen vor sich hin, aber mit einem so trüben, leblosen Blick, daß man hätte darauf wetten mögen, er sehe und höre nichts von seiner ganzen Umgebung. Sein Hund aber drehte sich zwei- oder dreimal auf einem Fleck herum, legte sich dann grämlich zu seinen Füßen hin, steckte seine Schnauze zwischen die Stiefel seines Herrn, stieß einen tiefen Seufzer aus, streckte sich seiner ganzen Länge nach auf dem Fußboden aus und blieb gleichfalls den ganzen Abend über, ohne sich zu rühren, wie tot liegen. Es schien, als hätten diese beiden Wesen den ganzen Tag über tot dagelegen und seien nun bei Sonnenuntergang plötzlich lebendig geworden, einzig und allein um in die Müllersche Konditorei zu gehen und dadurch eine geheimnisvolle, niemandem bekannte Pflicht zu erfüllen. Nachdem der Alte drei, vier Stunden lang dagesessen hatte, stand er endlich auf, nahm seinen Hut und ging fort, doch wohl in seine irgendwo gelegene Wohnung. Auch der Hund erhob sich und folgte seinem Herrn, wieder mit eingeklemmtem Schwanz und herunterhängendem Kopf in dem früheren langsamen Gang. Die Besucher der Konditorei vermieden schließlich jeden Verkehr mit dem Alten und setzten sich nicht einmal in seine Nähe, wie wenn er ihnen Widerwillen einflöße. Er seinerseits bemerkte nichts davon.