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»Warum fixieren Sie mich denn in dieser Weise?« schrie er auf deutsch mit scharfer, durchdringender Stimme und mit drohender Miene.

Aber sein Gegner schwieg weiter, als hätte er die Frage nicht verstanden und überhaupt nicht gehört. Adam Iwanowitsch entschloß sich, russisch zu reden. »Ich frage Sie, warum Sie mich so fixieren?« schrie er mit verdoppeltem Zorn in mangelhaftem Russisch. »Ich bin bei Hofe bekannt, was Sie von sich nicht werden sagen können!« fügte er hinzu, indem er vom Stuhl aufsprang.

Aber der Alte rührte sich noch immer nicht. Unter den Deutschen erhob sich ein unwilliges Gemurmel. Durch den Lärm herbeigerufen, trat Müller selbst ins Zimmer. Als er erfahren hatte, worum es sich handelte, glaubte er, der Alte sei taub, und beugte sich ganz nahe zu seinem Ohr hinab.

»Herr Schulz bittet Sie, ihn nicht so scharf anzusehen«, sagte er möglichst laut auf russisch und betrachtete den seltsamen Gast aufmerksam.

Der Alte blickte Müller mechanisch an, und auf einmal zeigten sich in seinem bis dahin regungslosen Gesicht Anzeichen einer ängstlichen Gedankenarbeit, einer unruhigen Erregung. Er geriet in hastige Bewegung, räusperte sich, bückte sich nach seinem Hut und ergriff ihn eilig mitsamt dem Stock; mit einem kläglichen Lächeln, dem demütigen Lächeln eines armen Teufels, der von dem irrtümlich eingenommenen Platz vertrieben wird, schickte er sich an, das Zimmer zu verlassen. In dieser ergebenen, unterwürfigen Eile des armen, gebrechlichen Greises lag soviel Mitleiderweckendes, soviel Herzergreifendes, daß das ganze Publikum, und Adam Iwanowitsch voran, sofort seine Anschauung über die Sache änderte. Es war klar, daß der Alte niemanden beleidigen konnte, ja sich sogar selbst jeden Augenblick bewußt war, daß man ihn wie einen Bettler fortjagen könne.

Müller war ein gutherziger, mitleidiger Mensch.

»Nein, nein«, sagte er und klopfte dem Alten ermutigend auf die Schulter, »bleiben Sie nur sitzen! Aber Herr Schulz hat Sie sehr gebeten, ihn nicht so scharf anzusehen. Er ist bei Hofe bekannt.«

Aber der alte Mann begriff auch dies nicht; er hastete noch mehr als vorher, beugte sich nieder, um sein Taschentuch aufzuheben, ein altes, zerrissenes, blaues Taschentuch, das ihm aus dem Hut herausgefallen war, und rief seinen Hund, der, ohne sich zu regen, auf dem Fußboden lag und, mit der Schnauze zwischen den beiden Vorderpfoten, anscheinend fest schlief.

»Asorka, Asorka!« rief er mit zitternder, greisenhafter Stimme; »Asorka!«

Asorka rührte sich nicht.

»Asorka, Asorka!« sagte der Alte noch einmal traurig und berührte den Hund mit dem Stock; aber das Tier verharrte in seiner bisherigen Haltung.

Der Stock entsank den Händen des alten Mannes. Er bückte sich, ließ sich auf beide Knie nieder und hob mit beiden Händen Asorkas Schnauze in die Höhe. Der arme Asorka! Er war tot! Er war, ohne einen Laut von sich zu geben, zu den Füßen seines Herrn gestorben, vielleicht an Altersschwäche, vielleicht aber war er auch verhungert. Der Alte blickte ihn ein Weilchen an, wie wenn er völlig bestürzt wäre und nicht begriffe, daß Asorka schon gestorben war; dann beugte er sich still zu seinem bisherigen Diener und Freund herab und drückte sein blasses Gesicht an dessen tote Schnauze. So verging eine Minute unter allseitigem Stillschweigen. Wir alle waren gerührt. Endlich erhob sich der arme Mensch. Er war sehr blaß und zitterte wie in einem heftigen Fieberanfall.

»Man kann ihn ausstopfen«, sagte der mitleidige Herr Müller in dem Wunsch, den Alten irgendwie zu trösten. »Fjodor Karlowitsch Krüger versteht das ausgezeichnet; er ist ein Meister in dieser Kunst«, versicherte Müller, hob den Stock vom Boden auf und reichte ihn dem Alten. »Ja, ich stopfe ausgezeichnet aus«, fiel Herr Krüger selbst bescheiden ein, indem er in die vordere Reihe trat.

Dies war ein langer, hagerer, tugendhafter Deutscher mit rotem, buschigem Haar und mit einer Brille auf der gebogenen Nase.

»Fjodor Karlowitsch Krüger besitzt ein großes Talent im Ausstopfen«, fügte Müller hinzu, der sich in seine schöne Idee zu verlieben begann.

»Ja, ich besitze ein großes Talent im Ausstopfen«, bestätigte Herr Krüger von neuem, »und ich werde Ihnen Ihren Pudel umsonst ausstopfen«, fügte er in einem Anfall hochherziger Selbstverleugnung hinzu.

»Nein, ich werde Ihnen das Ausstopfen bezahlen!« rief Adam Iwanowitsch Schulz ordentlich grimmig und errötete aus zwiefachem Grunde: sowohl wegen seiner eigenen Großmut, als auch weil er sich schuldloserweise für die Ursache des ganzen Unglücks hielt.

Der Alte hörte das alles mit an, verstand aber offenbar nichts davon und zitterte wie vorher am ganzen Leib.

»Warten Sie! Trinken Sie ein Gläschen guten Kognak!« rief Müller, als er sah, daß der rätselhafte Gast dem Ausgang zustrebte.

Der Kognak wurde gebracht. Der Alte nahm mechanisch das Gläschen; aber seine Hand zitterte, und bevor er es an die Lippen brachte, verschüttete er die Hälfte und stellte es, ohne einen Tropfen getrunken zu haben, wieder auf das Tablett. Darauf lächelte er in einer sonderbaren, gar nicht zur Situation passenden Art und verließ mit beschleunigten, ungleichmäßigen Schritten die Konditorei; den Hund ließ er auf seinem Platz liegen. Alle standen, erstaunt; Ausrufe der Verwunderung wurden laut.

»Schwerenot, was ist das für eine Geschichte?« sagten die Deutschen, einander mit großen Augen anblickend. Ich aber eilte dem Alten nach. Wenn man sich von der Konditorei nach rechts wendet, so biegt nach einigen Schritten eine schmale, dunkle, von gewaltig großen Häusern eingefaßte Gasse ab. Eine Art von Ahnung sagte mir, daß der Alte sich gewiß dahin gewandt habe. Hier war das zweite Haus rechter Hand im Bau begriffen und ganz mit Gerüststangen umgeben. Der Bauzaun reichte beinahe bis in die Mitte der Gasse; am Zaun entlang war ein hölzerner Steig für Fußgänger angelegt. In einem dunklen Winkel, der von dem Zaun und dem Hause gebildet wurde, fand ich den Alten. Er saß auf der Stufe des hölzernen Trottoirs, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und hielt seinen Kopf in beiden Händen. Ich setzte mich neben ihn.

»Hören Sie«, sagte ich und wußte nicht recht, wie ich anfangen sollte, »grämen Sie sich nicht um Ihren Asorka! Kommen Sie, ich werde Sie zu Ihrer Wohnung bringen. Beruhigen Sie sich! Ich werde gleich eine Droschke holen. Wo wohnen Sie denn?«

Der Alte gab keine Antwort. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Passanten waren nicht da. Auf einmal faßte er mich bei der Hand. »Mir ist so beklommen!« sagte er mit heiserer, kaum hörbarer Stimme; »so beklommen!« »Kommen Sie zu Ihrer Wohnung!« rief ich, indem ich mich aufrichtete und auch ihn mit Gewalt aufzurichten suchte. »Da sollen Sie Tee trinken und sich ins Bett legen... Ich werde sofort eine Droschke holen. Ich werde einen Arzt rufen; ich bin mit einem bekannt.«

Ich erinnere mich nicht mehr, was ich sonst noch zu ihm sagte. Er wollte sich erheben; aber nachdem er sich ein klein wenig aufgerichtet hatte, fiel er wieder auf die Erde zurück und begann erneut mit derselben heiseren, erstickten Stimme etwas zu murmeln. Ich beugte mich noch näher zu ihm herab und horchte.

»Auf der Wassili-Insel«, flüsterte der Alte, »in der Sechsten Linie... in der Sech-sten Li-nie...«

Er verstummte.

»Wohnen Sie auf der Wassili-Insel? Aber dann sind Sie falsch gegangen; Sie mußten sich nach links wenden, nicht nach rechts. Ich will Sie gleich hinbringen...«

Der Alte rührte sich nicht. Ich faßte ihn an der Hand; die Hand fiel wie tot herab. Ich sah ihm ins Gesicht und berührte es − er war bereits tot. Mir war, als ob mir das alles nur träumte.

Dieses Begebnis hatte für mich eine längere mühevolle Tätigkeit zur Folge, während der mein Fieber ganz von selbst verging. Es gelang mir, die Wohnung des alten Mannes ausfindig zu machen. Er wohnte jedoch nicht auf der Wassili-Insel, sondern wenige Schritte von der Stelle, wo er gestorben war, in dem Hause eines Herrn Klugen dicht unter dem Dach im fünften Stockwerk in einer eigenen Wohnung, die aus einem kleinen Vorzimmer und einem großen, sehr niedrigen Zimmer mit drei ganz schmalen Fenstern bestand. Er hatte äußerst ärmlich gewohnt. Das Mobiliar bestand nur aus einem Tisch, zwei Stühlen und einem uralten, steinharten Sofa, aus dem überall die Bastpolsterung hervorsah; und auch diese Möbelstücke gehörten, wie sich herausstellte, dem Wirt. Der Ofen schien seit langer Zeit nicht geheizt zu sein; auch Kerzen fanden sich nicht. Ich glaube jetzt allen Ernstes, daß der Alte zu Müller einzig und allein in der Absicht ging, bei Licht zu sitzen und sich zu wärmen. Auf dem Tisch stand ein leerer irdener Krug; daneben lag eine alte, harte Brotrinde. An Geld fand sich auch nicht eine Kopeke vor. Nicht einmal Wäsche zum Wechseln war vorhanden, in der er hätte beerdigt werden können; jemand gab zu diesem Zweck ein Hemd von sich her. Es war klar, daß er nicht in dieser Weise, so völlig allein, hatte leben können; gewiß hatte ihn jemand, wenn auch nur selten, besucht. Im Tischkasten fand sich sein Paß. Der Verstorbene war Ausländer gewesen, aber russischer Untertan, Jeremija Smith, Maschinenbauer, achtundsiebzig Jahre alt. Auf dem Tisch lagen zwei Bücher: eine kurzgefaßte Geographie und ein russisches Neues Testament, in welchem einzelne Stellen am Rand mit Bleistift angestrichen oder mit Nagelkrellen bezeichnet waren. Diese Bücher erwarb ich für mich. Man befragte die anderen Mieter und den Hauswirt, aber sie wußten fast nichts über ihn zu sagen. Mieter gab es in diesem Haus eine große Menge, fast lauter Handwerker und deutsche Zimmervermieterinnen, welche Zimmer mit Beköstigung und Bedienung abließen. Der Verwalter des Hauses, ein Adliger, wußte ebenfalls nur sehr wenig von seinem früheren Mieter zu sagen, außer daß die Wohnung sechs Rubel monatlich kostete, daß der Verstorbene sie vier Monate lang innegehabt, aber für die beiden letzten Monate keine Kopeke bezahlt hatte, so daß er eigentlich schon hätte hinausgesetzt werden sollen. Man fragte, ob nicht manchmal jemand zu ihm gekommen sei. Aber niemand konnte darüber befriedigende Auskunft geben. »Das Haus ist groß«, hieß es; »was gehen in einer solchen Arche Noah nicht alles für Leute ein und aus? Wie soll man die alle im Kopf behalten?« Der Hausknecht, der in diesem Haus schon fünf Jahre diente und wahrscheinlich wenigstens etwas, wenn auch noch so wenig, hätte mitteilen können, war vor zwei Wochen zu Besuch in seine Heimat gereist und hatte als Vertreter seinen Neffen dagelassen, einen jungen Burschen, der bisher kaum die Hälfte der Mieter von Gesicht kennengelernt hatte. Ich weiß nicht mehr genau, welches damals das Endresultat all dieser Nachforschungen war; aber schließlich wurde der alte Mann begraben. In diesen Tagen ging ich, unter anderen Laufereien und Bemühungen, auch einmal nach der Wassili-Insel zur Sechsten Linie, und erst als ich hingekommen war, lachte ich über mich selbst: was konnte ich in der Sechsten Linie sehen außer eine Reihe gewöhnlicher Häuser? ›Aber warum‹, dachte ich, ›hat der Alte im Sterben von der Sechsten Linie und von der Wassili-Insel gesprochen? Hat er nur phantasiert?‹