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Das Foto zeigt einen Buben in einer gestrickten roten und zu großen Badehose. Das ist Philipp, vierjährig und blond. Er steht im kniehohen Gras. Der ganze Hintergrund ist Gras und geht in einen weißen, unregelmäßig gezahnten Rand über. Der Bub auf dem Foto umklammert mit beiden Händen eine große Gartenschere mit gelben Griffen. Sein Blick ist aufwärts zum Objektiv gerichtet, mit einem mißtrauischen Gesichtsausdruck, als hätte man ihn soeben aufgefordert, etwas zu tun, was er nicht tun will, zum Beispiel, die Gartenschere herausrücken, damit er kein Blutbad anrichtet. Aus dem Gesichtsausdruck des Buben ist unschwer zu erkennen, daß gleich etwas geschehen wird. Gleich wird er anfangen zu weinen.

Die Stimmen, die Philipp hinter der Mauer hört, sind Kinderstimmen, und er stellt sich vor, daß sie alten und vernachlässigten Freunden gehören, die immer noch Kinder sind und auf ihn warten, seit achtundzwanzigeinhalb Jahren, beharrlich, geduldig und zuversichtlich. Vielleicht hat man ihnen als Volksschüler aufgetragen, in das Schönschreibheft zu schreiben, daß das Glück zu denen kommt, die warten können. Zehn, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig Mal immer dasselbe schreiben bis zur völligen Abstumpfung, in eine Unverbindlichkeit hinein, in der alles nichts mehr bedeutet. Während die Stimmen in Philipps Rücken immer konturloser werden, weil er sich Mühe gibt, möglichst wenig von dem, was gesprochen wird, zu verstehen, denkt er, daß alles immer ist, als versuche man denselben Satz diesmal noch schöner in sein Heft zu schreiben. Vielleicht ist es das, was uns zu armen Teufeln macht.

Als Philipp zum Haus zurückkehrt, sind die Flügel des Dachbodenfensters aus den Angeln gehoben, die Öffnung ist mit Schachtelkarton ausgeschlagen. Immer wieder fliegen Tauben gegen diesen Karton, immer wieder mit den Krallen voran, das Papier aufreißend, immer wieder ganz jämmerlich fiepend. Andere Tauben kratzen an den Ziegeln des Firsts, an der Regenrinne, überall wo sie sich niedergelassen haben. Steinwald und Atamanov sitzen auf der Vortreppe, auf Philipps angestammtem Platz. Sie trinken lustlos Bier, das sie, wie Philipp annimmt, aus dem Kühlschrank genommen haben. Sie sehen auf sehr beeindruckende Weise elend aus oder wenigstens, als wäre nicht mehr die Kraft in ihnen, auf die geleistete Arbeit auch noch stolz zu sein. Ganz offensichtlich ist ihnen nicht nach Reden zumute; sie erwidern nicht einmal Philipps Gruß. Maske und Brille haben sie abgelegt, sie tragen aber deren präzise gezogene Konturen in den Gesichtern. Über die ungeschützte Haut hat sich derselbe weiße Staub wie auf die Haare gelegt, die von staubgestocktem Fett in die Höhe stehen. Philipp hingegen, obwohl er schwitzt und obwohl seine Sichtscheibe an den Rändern beschlagen ist, hat Maske und Brille nach wie vor auf, als wäre die Schlacht gegen die Mächte der Finsternis noch nicht geschlagen und er gewillt, weiterhin mit geschlossenem Visier zu kämpfen. Durch das beschlagene Plexiglas hindurch sieht er die traurigen, auf seine gelben Gummistiefel gerichteten Blicke. Seine Gummistiefel tragen ein wenig Erde an den Sohlen, während die Stiefel von Steinwald und Atamanov mit Taubendreck vollgesaut und mit Daunen verklebt sind.

— Wie ihr euch ins Zeug legt, alle Achtung. Ihr seid wahre Helden der Arbeit, sagt Philipp verlegen.

Kein Kommentar. Man kann es den beiden nicht zum Vorwurf machen.

— Verwendet doch bitte das Badezimmer im oberen Stockwerk. Dort gibt es sogar einen Erste-Hilfe-Kasten, wenn auch fraglichen Inhalts.

Blut sickert aus mehreren Kratzern an Atamanovs Hals. Steinwald nickt, spuckt gekonnt einen Batzen krachend hochgeräusperten Schleims in den Container, doch ohne Anstalten, sich zu erheben. Bei aller Geduld, mit der er die Plackerei auf dem Dachboden verrichtet: diesen Gefallen erweist er dem frischgebackenen Hausbesitzer nicht.

— Jedenfalls danke, sagt Philipp.

Ihm ist die Situation peinlich. Er preßt die Lippen aufeinander. In einem Anflug gelinder Verzweiflung greift er nach den Fensterflügeln, die neben der Haustür lehnen. Er entfernt sorgfältig die von blasigen Einschlüssen gespickten Glasreste und schleppt die Rahmen zu seinem Fahrrad, in der Absicht, wie er verkündet, sie zum Glaser zu bringen.

Auf dem Weg dorthin denkt er sich weitere Fotografien aus, alle sehr grobkörnig und die Farben ein wenig verblaßt. Er ermahnt sich, auf keinen Fall zu vergessen, Johanna wegen des Fotoapparats anzurufen, aus diesem und nur aus diesem Grund. Das muß er unbedingt anbringen, damit sie nicht glaubt, er wolle ihr auf die Nerven fallen.

Dienstag, 12. Mai 1955

Im Flur sind Schritte zu hören. Sie läßt das Nachthemd fallen, dessen vorderen Saum sie zwischen den Zähnen hatte, und sperrt die Tür auf, damit ihr Vater sich nicht beklagen kann, sie würde sich in letzter Zeit ständig verbarrikadieren. Er soll ihr was. Kaum ist die Verriegelung gelöst, tritt er ein, im rotsamtenen Schlafrock, mit gedunsenem Gesicht und schweren Augenlidern, die ergrauenden Haare stehen ihm an der Schlafseite waagrecht vom Kopf, das verleiht seinem Aussehen etwas Unbeholfenes und Harmloses; aber da läßt Ingrid sich nicht täuschen. Höflich, wie es sich für eine brave Tochter gehört, wünscht sie einen guten Morgen.

— Guten Morgen, sagt auch Richard. Doch allein die Art, wie er den Gruß zurückgibt, genügt als weitere Kostprobe der schlechten Laune, die er seit Tagen mit sich herumträgt. Von den stockenden Verhandlungen um den Staatsvertrag, die sich ausgerechnet an Artikel 35 und den Schürfrechten auf den Erdölfeldern entlang der March spießen, ist er hochgradig nervös. Zusätzlich macht ihm ein eitriger Zahn zu schaffen.

Er dreht den Wasserhahn auf und wäscht sich die Hände. Nach einer Weile sucht er mit strenger Brauenfalte Ingrids Blick. Er sagt:

— Willst du dich für gestern entschuldigen? Es wäre ein gutes Zeichen und spräche für dich, wenn du Fehler einsehen und dich entschuldigen könntest.

Noch vor wenigen Wochen hätte sich Ingrid zur Gegenfrage hinreißen lassen, wofür (bitte?) sie sich entschuldigen soll. Oder sie hätte den Gegenvorschlag gemacht, er selbst solle sich entschuldigen, nämlich dafür, daß das Glück seiner Tochter auf sein stures Gemüt keinen Eindruck macht. In der Nacht hat sie sich dutzendweise Sätze zurechtgelegt, die mit Liebe zu tun hatten und von denen sie glaubte, daß sie ihren Vater zur Einsicht bringen müßten. Nun verharrt sie in fast schon zur Routine gewordenem Schweigen, steckt sich die Zahnbürste tief in den Mund und beginnt mit dem Bürsten, damit ihr Vater nicht länger auf eine Antwort wartet und sich erst recht keine Hoffnungen über die Aussichten macht, die einem zweiten Anlauf beschieden wären. Sie ist freundlich. Sie hat nett guten Morgen gesagt. Damit vergibt sie sich nichts. Alles andere wäre in ihren Augen übertrieben und würde nur den Anschein erwecken, auch diesmal ginge wieder alles so, wie ihr Vater es bestimmen will. Er nimmt für sich in Anspruch, in allem recht zu haben. Papa omnipotens. Was aus seinem Mund kommt, ist Diktat. Aber auf solche Gespräche legt Ingrid keinen Wert mehr. Aus dem Alter ist sie heraus. Die ewig gleiche Sackgasse. Da hat sie Besseres zu tun.

— Nicht Muh und nicht Mäh, sagt Richard.

Er wäscht sich prustend und stöhnend das Gesicht, dieses Gesicht, in dem Ingrid nichts von sich entdecken kann. Er spült den Mund mit Odol, weil ihm der eitrige Zahn das Zähneputzen verleidet hat. Er gurgelt ausgiebig. Anschließend hält er seinen Kamm unters Wasser und bringt die Haare in Ordnung. Zwischendurch ein Mustern und Abschätzen, das Ingrid gilt, via Spiegel. Ingrid mustert sich ebenfalls im Spiegel. Sie stellt fest, daß die letzten Wochen und Monate ihre Spuren hinterlassen haben, das viele Lernen und das viele Lügen sind ziemlich anstrengend. Sie hat schon besser ausgesehen. Geduckt, unter dem hochgehobenen Arm ihres Vaters, spült sie die Zahnpasta mit zwei Mundvoll Wasser aus. Als sie unmittelbar darauf Anstalten macht, das Badezimmer zu verlassen, sagt ihr Vater: