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Zu ihrer Mutter sagt sie:

— Ich habe für euch genausoviel Verständnis wie ihr für mich. Also sind wir quitt.

Eine halbe Stunde später verabschiedet sie sich Richtung Universität. Doch statt mit dem Fahrrad zur Hietzinger Brücke und von dort mit der Stadtbahn zu fahren, schlägt sie den Weg via Lainz und die Fasangartengasse nach Meidling ein. Als das schlechte Mädchen, das sie ist, braucht sie auf niemanden Rücksicht zu nehmen, und je weiter sie sich von ihrem Elternhaus entfernt und je mehr sie sich Peters Magazin nähert, desto spürbarer fallen Demütigung und Traurigkeit von ihr ab, desto freundlicher wird dieser wolkenverhangene Tag, werden die Straßen, die Postautos, die von Blütenstaub gelben Rinnsteine, die gekämmten und rotgewaschenen Leute. Die Schaufenster, die Häuser. Alles kommt ihr so unbeschwert vor, selbst die Pfiffe, die ihr das rasante Fahren einbringt. Ich fahr so schnell, wie’s mir paßt. Die Häuserzeilen fliegen an ihr vorbei. Da und dort, wo ein Haus nicht wieder aufgebaut wurde, riecht es noch nach den Schrecken der Zeit. Ansonsten ist es, als existiere hier die freie Welt bereits, als sei die Stadt hier aus der Vergangenheit bereits entlassen. Besser: als sei die Vergangenheit hierorts schon ausgespuckt.

Sie hört noch ihr ehemaliges Handarbeitsfräulein sagen:

— Unsere Vergangenheit ist zu groß, um von einem so kleinen Land bewältigt zu werden. Es ist, wie wenn man einen zu großen Bissen nimmt, dann kann man nicht mehr schlucken.

Sie biegt in den Schotterweg ein, der zu Peters Magazin führt, dem Sitz seiner kleinen Firma Fröhliches Wohnzimmer (warum auch nicht?). Peter hat sich in einer ehemaligen Zweirad-Werkstatt eingemietet, zwischen anderen wenig benutzten Garagen, die auf einen jenseits der Straße fließenden Bach und auf die Wiesen dahinter ausgerichtet sind. An der Torkette und dem Vorhängeschloß erkennt Ingrid schon von weitem, daß Peter noch nicht hier ist. Sie fährt am Magazin vorbei, in einer Mischung aus Enttäuschung und der gleichzeitigen Erleichterung darüber, zumindest selbst eingetroffen zu sein. Sie rollt hundert Meter weiter zu einem Wirtshaus, einer Apachenspelunke, wie ihr Vater es nennen würde, die Fenster seit Monaten nicht geputzt, Parolen an den Wänden noch aus den letzten Kriegstagen, Ein Hoch auf das siegreiche Land der Wunder! Nadeschda umerajet poslednoj. Das Fahrrad scheppert in den verrosteten Ständer. Durch den Windfang, Tür. Im Schankraum brütet ein Mann mit nur einem Arm allein am Stammtisch. An einem zweiten Tisch schaukelt ein Schlurf auf dem Stuhl, mit aufgekrempelten Ärmeln. Er addiert Zahlen auf einem Rechnungsblock. Auch der Schlurf bedenkt Ingrid mit einem Pfiff.

— Pfeifen bringt Regen.

— Wohl heute mit dem linken Bein zuerst aufgestanden.

Ingrid kehrt dem Kerl den Rücken, ohne ein weiteres Wort, die Arme verschränkt. Sie stellt sich an den noch vom Vortag dreckigen Tresen mit Blick auf die Nußschnitten in der Auslage, als hätte sie schon lange keine mehr bekommen. Durch die offenstehende Küchentür ist das blubbernde Kochen des Mittagessens zu hören, vom Hinterhof das Stapeln von Getränkekästen, dazu angestrengtes Stöhnen der Wirtin. Ingrid kennt die Frau, seit sie Peter kennt. Peter ißt hier, wenn er im Magazin zu tun hat, er erledigt für die Wirtin kleinere Arbeiten, lackiert die rostigen Eisenstühle im Garten und harkt den geschotterten Vorplatz. Im Gegenzug wird ihm die Benutzung von Toilette und Fernsprechstelle zugestanden und manchmal im Winter (aber so genau will Ingrid das gar nicht wissen) eine Nacht auf der Ofenbank.

— Hat Peter angerufen? fragt Ingrid, als die Wirtin zurück in den Schankraum tritt.

— Der braucht gar nicht anrufen, solange ich nicht mindestens hundert Schilling von ihm bekommen habe.

Die Wirtin zapft für den Schlurf, der das leere Glas hochgehoben hat, ein Bier.

— Er hat also nicht angerufen? Ich meine, weil er immer noch nicht da ist.

— Wie schon gesagt.

— Und gestern? fragt sie.

— Der wird sich hüten.

Ingrid weiß, Peter steht auf den meisten Schiefertafeln, wo angeschrieben wird, ganz oben. Doch daß er für sein Minus keinen anderen Ort mehr findet als die Nachbarn, ist ihr neu und unangenehm. Das wird sie ihm sagen. Auch das barsche Verhalten der Wirtin ärgert sie, so was Blödes, was bildet die sich überhaupt ein, der Trampel? Doch da Ingrid am Vortag bei Oma Sterk war, die den Überblick verloren hat, was das Geld wert ist, zieht sie ihre Börse aus der Schultasche, schirmt die Börse mit dem Körper ab, solange sie darin kramt. Dann hält sie der Wirtin am ausgestreckten Arm eine 100-Schilling-Note hin.

— Ist das ein Zustand, daß das Mädel dem Burschen Geld gibt, damit er durchkommt?

— Das geht Sie einen Dreck an, sagt Ingrid.

Sie wird rot vor Scham und Zorn. Sie wirft den Schein auf die Theke, ohne darauf zu achten, ob der Schein dort liegenbleibt. Dann dampft sie grußlos zur Tür, raus ins Freie, sie packt ihr Fahrrad an den Lenkergriffen und schiebt es zum Magazin, weiterhin zornig, jetzt aber vor allem über sich selbst. Das habe ich notwendig gehabt. Ist das eine Art, ständig so überdreht herumzulaufen? Sie muß zugeben, die Wirtin hat nicht unbedingt unrecht, und auch ihr Vater kritisiert sie nicht immer ganz ohne Grund. Aber als Reaktion möchte sie die Blumenvase an die Wand werfen oder der Wirtin in die Haare gehen. Sie kann überhaupt in letzter Zeit zornig sein, daß sie dabei fast erbrechen muß. In der Inneren Stadt, am Hohen Markt, hat vor ein paar Tagen ein älterer Herr sie beschuldigt, sein Fahrrad umgeworfen zu haben. Ingrid holte im Nu aus ihrer Einkaufstasche als Wurfgeschoß eine Kohlrübe, die der Mann an den Kopf bekommen hätte, wären nicht rundherum Leute gestanden. So schnauzte Ingrid den Mann nur an, er solle besser auf sein Zeug aufpassen. Und obgleich sie wirklich nichts dafür konnte, daß das Fahrrad umgefallen war, erschien ihr das eigene Verhalten selber nicht normal, und beim nach Hause Fahren hat sie sich für ihren Wutanfall geschämt.

Die Geschichte der Ingrid Sterk, überlegt sie. Was wäre das für eine Geschichte? Vermutlich wäre es ein Melodram. Melodramen erkennt man allein schon daran, daß sie Frauennamen im Titel tragen.

Sie lehnt das Fahrrad an das hellblaue Tor, hellblau gefleckt, wo die Farbe großflächig abgeplatzt ist. Dann setzt sie sich auf eine kniehohe Mauer, die den unkrautbewachsenen Vorplatz zur Nachbargarage abgrenzt. Gerade wird die Gegend durch ein Loch in den Wolken von der Sonne beschienen. Ingrid tastet ihren Bauch ab, dem sie zutraut, daß er die Lage bald weiter dramatisiert — der ist seit zwei Wochen so komisch dick, das geht und geht nicht weg, obwohl sie ganz wenig ißt. Auf diesen Zustand kann sie sich gar keinen Reim machen, denn das würde nicht mit rechten Dingen zugehen. Trotzdem wird sie den Eindruck nicht los, daß sie wieder schwanger ist. Beim ersten Mal hätte sie auch nicht gedacht, daß Peter unvorsichtig war, und dann war er’s doch, und die Folgen wären längst sichtbar, wenn nicht, ja, wenn nicht, da hatte sie Glück oder Pech (das kommt auf die Ansprüche an), denn die Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt. Das war schrecklich. Sie hat den Vorfall noch immer nicht ganz verdaut, obwohl seither ein halbes Jahr vergangen ist. Dieses embryonale Würmchen in der Klomuschel liegen zu sehen und es hinunterspülen zu müssen, weil ihr Vater gegen die Tür klopfte, wie lange sie noch gedenke, das Bad zu blockieren. Ihr erstes Kind. Im Badezimmer hat sie es verloren. Wenn sie nur daran denkt, läuft es ihr kalt über den Rücken. Sie drückt mit den Fingern beider Hände oberhalb der Leiste die Eingeweide nach innen; sehr seltsam. Sie sagt sich, wenn der Bauch so bleibt wie jetzt, werde ich in den nächsten Tagen einen Arzt aufsuchen, damit er der Sache auf den Grund geht. Ist was los, um so besser, je eher ich es weiß. Ist es nichts, dann mache ich mir nicht länger einen Kopf. Und bis dahin, das schwört sie sich, sagt sie zu niemandem ein Wort, auch nicht zu Peter, der würde sich über eine Schwangerschaft am Ende noch freuen, das hat er nicht nur einmal gesagt und es in seinem letzten Brief auch geschrieben mit der eindringlichen Aufforderung, sie solle sich Röteln impfen lassen. Dieser Depp, er ist halt ein Riesendepp. Er muß doch einsehen, daß auch sie sich besser auf eigene Beine stellt, damit sie in der Ehe geistig nicht unterernährt zurückbleibt wie ihre Mutter. Und nochmals ein argwöhnisches Drücken mit den Fingern oberhalb der Leiste und dabei ein unangenehmes Gefühl, das ihr nichts mitteilt, nichts jedenfalls, auf das sie etwas geben würde.