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Vorsichtig, um sich den Kopf nicht anzuhauen, kriecht Ingrid aus dem Wagen. Der bröselige Estrich unter ihren Füßen fühlt sich kalt an. Mit weit ausgestreckten Armen tappt sie zur Front, an dessen Mittelpfeiler der am leichtesten zu findende Schalter angebracht ist. Sie knipst das Licht an. Noch während ihre Augen sich daran gewöhnen, sucht sie im Schimmer zweier 40-Watt-Birnen ihre Schultasche mit der Binde darin, dann ihre Kleider, wovon Peters Schlaf nicht sonderlich gestört wird. Er zieht den Kopf unter die Decke und knirscht weiter mit den Zähnen. Ingrid schlüpft hastig in ihre Kleider, dann kriecht sie nochmals zu Peter in den Wagen, in die aus den Decken aufsteigende Wärme. Sie küßt Peter hinter das oben liegende Ohr und auf die Schläfe, umarmt ihn, so gut es geht, fährt mit der einen Hand in seinen Nacken und berührt das Haar, dicht und stachelig vom Haarschnitt (wann zuletzt?) und feucht, das fühlt sich gut an und vertraut. Er murmelt schlafend oder im Halbschlaf (sie weiß es nicht), zweimaclass="underline"

— Es reicht.

— Es reicht.

Sehr charmant.

Ingrid überprüft, ob die Knopfleisten von Kleid und Strickjacke geradesitzen, dann ist das Licht schon wieder gelöscht und sie draußen im Regen und auf dem Fahrrad. Sie fährt den gleichen Weg zurück, den sie gekommen ist, diesmal ohne sich zu beeilen. Wegen der menstrualen Krämpfe ist ihr nicht besonders nach Bewegung zumute, sie wird auch nicht weniger naß, wenn sie sich müde strampelt. Auch der Krach, den es daheim setzt, wird nicht milder ausfallen, ob sie jetzt um fünf vor oder fünf nach Irgendwann eintrudelt. Ihr Sündenkonto ist überzogen, so oder so, und sie kann nur hoffen, daß ihr Ausbleiben niemandem auffällt. Alles schon dagewesen.

Kurz vor der Stranzenberggasse fragt sie einen alten Mann nach der Uhrzeit.

— Zwanzig vor zehn, sagt der Mann.

Ingrid bedankt sich, sie wünscht eine gute Nacht. Der Mann hat bereits seinen regenglänzenden Hut gelupft, da sagt er noch:

— Ich gehe und zünde ein paar Kerzen auf den Gräbern an, damit meine Toten auch eine Freude haben, wenn sie schon tot sein müssen.

Der Himmel ist niedrig zugezogen, die leichten Tropfen fallen durch graues Gaslicht in einen Wasserfilm, der das Licht stark genug reflektiert, daß sich die Vorüberfahrende darin als Vorüberfahrende spiegelt. Die Reifen sind von Wasser umwickelt, sie zischen leise am unruhigen Grund. Radios schallen in Wellen mit emphatischen Stimmen durch offene Fensterquadrate. Die Stimmen bleiben für sich, jenseits der mit Gemüse bepflanzten Vorgärten. Beim Treten im Regen fühlt sich der Rock auf den Schenkeln hart an. Zwei Autos stürzen in dichter Folge vorbei, hupend wie zu einer Hochzeit.

Wenn ich Glück habe, sind heute andere Dinge wichtiger als ich.

Unterwegs in den Straßen, die nach Hause führen und von dort weg und an zu Hause vorbei.

Donnerstag, 3. Mai 2001

Am nächsten Morgen sind die Tauben immer noch da. Philipp fragt sich, ob die Vögel wissen, was am Vortag geschehen ist. Vielleicht hat das Gehirn von Tauben nicht die Kapazität, sich Steinwald und Atamanov zu merken. Vielleicht haben die Tauben die Arbeiter und das Massaker schon wieder vergessen. Philipp hält das für möglich eingedenk einer Behauptung Johannas, daß das Erinnerungsvermögen eines Goldfisches nur für die zurückliegenden zwei Sekunden reicht, nicht einmal für eine Runde im Glas.

Trotz des gestrigen Blutbades klingt das Gurren der Tauben völlig routiniert.

Zu Mittag nieselt es.

— Daß wir so ein Wetter haben, sagt Steinwald.

Er und Atamanov haben in der Früh einen hellblauen, gut halbmeterdicken Schlauch aus Hartplastik installiert, der vom Dachbodenfenster direkt zum Abfallcontainer führt. In diesen Schlauch schaufeln sie den Taubendreck, Ladung um Ladung, so geschwind, daß auch Philipp Lust bekommt, die Ärmel hochzukrempeln und etwas zum Kämpfen zu haben. Er hebt in einem verkrauteten Winkel des Gartens mit dem Spaten ein Loch für die Kadaver der erschlagenen Jungvögel aus. Es sind unglaublich viele. Philipp zählt sie, bis das Zählen seinen Reiz verloren hat, das ist bei fünfundzwanzig. Den Rest kippt er in zwei Eimern hinterher. Dann schaufelt er das Loch wieder zu, stampft die Erde fest und uriniert auf die Profilabdrücke seiner Gummistiefel in der Hoffnung, daß dies die Hunde der Nachbarschaft davon abhalten wird, sich durch seinen ohnehin in schlechtem Zustand befindlichen Garten zu scharren.

Als er zum Container zurückkommt, ist dieser schon beinahe halb voll mit einem teils verkrusteten, teils schmierigen, feuchtklumpigen Brei aus Kot, Federn und Knochen, zwischen denen es von Maden und anderem Ungeziefer nur so wimmelt. Auch ein Nest junger Mäuse macht Philipp aus, was ihn zusätzlich ermuntert, mit der Firma zu telefonieren, die den Container geliefert hat. Er bittet, man möge den Container so rasch wie möglich abholen und einen neuen bringen. Unterdessen saust weiterhin Zeug, von dem er nicht weiß, ob es noch lebt oder nicht, den Schlauch herunter, mit einem raspelnden, scharrenden Geräusch, das ihn beklemmt. Philipp beschließt, Steinwald und Atamanov etwas zum Trinken zu bringen, zur Hebung der Moral. Er steigt mit drei Flaschen Bier zum Dachboden hoch. Er klopft vorsichtshalber, ehe er eintritt. Als die beiden Männer sich ihm zuwenden, ist ihre Zerschlagenheit ohne Pose. Steinwald ist fahl im Gesicht, als ob er aus einem Fernseher mit Grünstich gefallen wäre, er spuckt aus und gesteht Philipp, daß sich diesmal auch er habe übergeben müssen.

— Allerdings nur einmal.

Philipp schaut Atamanov an. Der ist blaß wie immer, starrt auf seine Stiefel und wischt sich mit einem schon durchweichten, schmutzigen Taschentuch den Schweiß vom Nacken. Obwohl Philipp die beiden bestimmt nicht darum gebeten hat, sich eine solche Mühe mit seinem Dachboden zu machen, bekommt er ein schlechtes Gewissen, eine Art beschämtes Klassenbewußtsein bei dem Gedanken, daß die Reichen die Arbeit, wenn sie etwas Schönes wäre, nicht den Armen überlassen würden. Er macht sich ebenfalls ein Bier auf und stößt mit seinen Arbeitern an.

— Auf daß wir weniger Feinde haben, als Tropfen in der Flasche bleiben.

Er trinkt mit großen Schlucken. Einmal ertappt er sich dabei, wie er aus Verlegenheit gemeinsam mit Atamanov hustet. Auch das ist ihm peinlich, und er fängt ziemlich unmotiviert von dem verschwundenen Schutzengel zu reden an.

— Auf dem Sandsteinpodest links von der Auffahrt ist in meiner Kindheit eine Schutzengelfigur gestanden. Möchte wissen, wo die hingekommen ist.

Steinwald geht nicht darauf ein, und Atamanov verschanzt sich mit zuckenden Achseln hinter der Sprachbarriere, die sichere Deckung bietet. Schweigend tritt Atamanov die Kippe seiner Zigarette in den feuchten Schmutz, unter dem die angefaulten Dielen wieder sichtbar geworden sind. Ohne erkennbaren Widerwillen kehren er und Steinwald zu ihrer magenfeindlichen Arbeit zurück.

— Solltet ihr etwas brauchen, laßt es mich wissen.

Philipp verzieht sich. Er steigt einen Stock tiefer ins ehemalige Schlafzimmer seiner Großmutter, dessen zwei Fenster zur südlich gelegenen Seite und hinten hinaus (nach Westen) gehen. Er streckt sich auf der schwächer durchgelegenen Hälfte des Bettes aus und ist ausgesprochen dankbar, daß die Tauben, die am Leben geblieben sind, sich wenigstens vor dem Regen Richtung Stadt geflüchtet haben.

Im Schlafzimmer ist es ruhig. Philipp hört zwar das schneidende Scheuern der Schaufeln auf den Dielen des Dachbodens und manchmal kräftige Schritte, die er mit dunkelgrauen Gummistiefeln in Verbindung bringt. Aber Schritte und Scheuern dringen nur erstickt bis an seine Ohren, fast zur Unkenntlichkeit deformierte Segmente der Wirklichkeit, die in ihrer dumpfen Fieberhaftigkeit auf sein Gemüt drücken, die er aber trotzdem bald vergißt, als er einige Gedanken in sein aktuelles Notizbuch kritzelt.