— Arschlöcher. Die können mich mal alle.
Er steigt die Vortreppe hoch. Ein modriger Geruch nach k.u.k.-Mörtel entströmt der feuchten Fassade. Er lehnt den vom Kellner geliehenen Schirm neben die Haustür und sperrt die Tür auf. In der unsinnigen Hoffnung, daß jemand bei seinem Eintreten aufspringen und ihm den Mantel abnehmen wird, geht er die Zimmer des Untergeschosses ab. Ein Topfenkuchen, der noch in die Backform gespannt ist, steht zum Auskühlen auf der Anrichte in der Küche. Weitere Zeichen von Almas Anwesenheit findet er nicht.
— Alma! — — Alma!
Er hört seine Frau aus dem oberen Stockwerk antworten, unverständlich: Ich bin hier! sollte das wohl heißen. Was er hingegen sehr gut verstanden hat, ist, daß Alma es nicht der Mühe wert findet, seinetwegen ihre Zimmertür zu öffnen.
Er wirft seine Aktentasche auf den Schreibtisch im Herrenzimmer. Auf dem Weg zurück in die Diele streift er die Schuhe ab. Als er mit der linken Socke in die selbstgezogene Wasserspur tritt, kommt ihm der Einfall, ein heißes Bad zu nehmen, ehe er in eine trockene Garnitur schlüpft. Vielleicht ist ein Bad ein guter Anfang, vielleicht gelingt es ihm in der Badewanne, zur Ruhe zu kommen oder sich wenigstens an einen antriebslosen Zustand heranzuführen, der es ihm erleichtern wird, die neue Situation zu akzeptieren. Vielleicht kommt ihm das Bad auch für den Nachmittag zugute, für den sich Ingrid und Peter angekündigt haben. Sie wollen Möbel für das Haus holen, das sie vor vier Wochen erstanden haben, eine vorhersehbar strapaziöse Angelegenheit, vor der sich Richard am liebsten drücken würde — die beiden haben ihren eigenen Stil, dem muß man gewachsen sein.
Entspann dich, fordert Alma mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit. Und er gibt regelmäßig zur Antwort: Ich bin weniger entspannt als andere, weil ich Verantwortungsgefühl besitze.
Er geht nach oben ins Bad und öffnet die Wasserhähne. Er wartet, bis heißes Wasser in den Rohren ist, dann verschließt er den Abfluß, nimmt die Flasche mit dem Schaum aus dem Schrank und gießt mit der Verschlußkappe etwas von der tiefgrünen Flüssigkeit in die Wanne. Bis die Wanne vollgelaufen ist, hat er zehn Minuten Zeit. Er geht hinaus, rechts über den Flur, dort klopft er sacht an Almas Schlafzimmertür.
In dem von zwei Fenstern erhellten Raum liest Alma ein Buch, halb liegend, halb sitzend, mit dem Kopf zum Fußende des Bettes, weil sie dort das bessere Licht hat.
— Schon zurück? Ich staune.
— Ausnahmsweise.
— So kenn ich dich gar nicht.
Es stimmt, eigentlich ist es undenkbar, daß er sieben Wochen vor einer Nationalratswahl, und sei’s an einem Samstag, nur kurz aus dem Haus geht.
— Ich wollte noch ins Ministerium und in Ruhe ein Memorandum über den Assuan-Hochdamm durcharbeiten. Aber der Regen hat mich nach Hause getrieben.
— Wohl ein Wetter, das sich im Tag geirrt hat.
Alma heftet ihre Augen auf Richard. Er fühlt sich nicht wohl unter ihrem Blick, mag sein, weil ihm bewußt ist, daß dies der Moment wäre, ihr zu sagen, daß die Partei ihn nicht mehr benötigt. Er sollte ihr sagen, daß er bald öfters zu Hause sein wird. Er sollte ihr sagen, daß ihn die Situation an seinen Cousin Leo erinnert, der bis 1953 in Kriegsgefangenschaft war und sich seine Rechte als Hausherr nach der langen Abwesenheit mühsam zurückerobern mußte. Er sollte sagen, daß er sich ein Bad einläßt, um die vage Idee, die er vom Privatleben hat, aufzufrischen. Er sollte so vieles sagen, und — durch ein plötzliches Entsetzen ahnt er die Wahrheit — vor allem sollte er wieder anfangen, sich Alma mitzuteilen.
— Von einer Kellnerin im Café Dommayer habe ich erfahren, daß das schlechte Wetter von den Satelliten kommt, die ins All geschossen werden und die Sonne nicht durchlassen. Vielleicht wird die Donau wieder einmal zufrieren.
Alma nickt. Offenbar hat Richard verlernt, etwas so zu sagen, daß andere lachen. Er tritt zum Fenster, das gegen den hinteren Garten geht. Die Gardinen sind zur Seite geschoben. Durch die Wasserschlieren blickt er auf die Obstbäume, die seit einigen Tagen Laub verlieren. Dunst steht in Hüfthöhe über dem Rasen. Richards Blick verschwimmt für einen Augenblick, gleichzeitig befällt ihn das Grauen, weil leerer Raum ihn umgibt, mehr leerer Raum, als seine Vorliebe für Respekt und Distanz erfordert. So klein dieses Land ist, für das er seine Kräfte aufwendet (oder aufgewendet hat), und so überschaubar das Haus und der Garten, die ihm gehören, ihm ganz allein: Alles ist immer noch groß genug, sich darin zu verlieren.
— Was liest du? fragt er.
— Nachsommer.
— Von wem ist es?
— Stifter.
— Adalbert Stifter, aha.
— Es ist eins der Bücher, die wir von Löwys bekommen haben. Es steht ein Datum drin, Weihnachten 1920, und auch der Preis, 24 Kronen.
— Ist das Buch spannend?
— Wenn man etwas für Seelen- und Landschaftsbilder übrig hat.
— Es heißt, die bedeutendste Landschaft ist das menschliche Gesicht.
— Gleich nach Österreich, das bekanntlich der Himmel auf Erden ist.
Klar, er weiß, sie nimmt ihn auf den Arm. Aber gut. Auch wenn es bis dorthin ein weiter Weg ist, mit den Jahren gewöhnt man sich an so manches.
— Ein friedliches, ein freundliches und schönes Land.
Alma streckt sich, sie dreht sich auf die Seite, Richard zugewandt. Sie trägt ein hellblaues, busenbetontes Kleid mit Karreeausschnitt. Ihrer Stimme ist anzuhören, daß sie das Kinn in die Hand gestützt hat.
— Vergeßlich fehlt in deiner Aufzählung. Ein Land, in dem man bei der Einreise die Vergangenheit abgeben muß oder darf, je nach Lage der Dinge.
(In dem man mit Vergessen bestraft oder belohnt wird, je nachdem, von welcher Seite man kommt, von links oder von rechts, wie in dem Weltspiel, mit dem Peter endgültig bankrott gemacht hat.)
Almas Worte sinken in Richard hinein, träge wie Ascheflocken. Er setzt sich auf die Bettkante, öffnet den seitlichen Reißverschluß an Almas Kleid und schiebt seine Hand hinein, über der Taille. Almas Gesicht verändert sich nicht. Ihre Atmung verändert sich nicht. Sie sieht aus wie jemand, der eine kurze Rast einlegt, wie jemand, der ohne Erwartung mit der Eisenbahn fährt. Sie bewegt sich in ihrer eigenen Wirklichkeit, die sich Richard nicht erschließt, in ihrer eigenen Geschwindigkeit. Sie entzieht sich Richard, indem sie sich seine Berührungen gefallen läßt.
Wie noch selten kommt Richard zu Bewußtsein, daß der Großteil des Glücks, das in diesem Leben für ihn bestimmt war, in Alma verkörpert ist und daß es dort in einer für ihn nicht konvertierbaren Währung lagert und verrottet. Doch statt seine Hilflosigkeit zu bekennen oder schlicht zu sagen, daß er seine Frau nach wie vor liebt, nach all den Jahren, und daß es ihm nicht schwerfällt, sich das einzugestehen, fragt er:
— Wie kommt es eigentlich, daß du dich mir seit Monaten nicht mehr genähert hast?
Er starrt in Richtung des nach Süden gelegenen Fensters. Er kratzt sich am Kopf. Er weiß, er ist am Ende mit seinem Latein.
— Aber letzten Sonntag war doch, stellt Alma fest, mit einem Kopfschütteln, mehr amüsiert als unruhig angesichts eines Problems, das ihr unwirklich vorkommen muß.
Richard versucht sich zu erinnern, und tatsächlich, es fällt ihm wieder ein, Sonntag war doch, unten im Wohnzimmer, auf der Ottomane. Er wendet Alma das Gesicht zu, reuig, er weiß, daß er es falsch angepackt hat und jetzt nichts mehr erreichen wird.
— Es kommt mir halt so vor.
— Was darauf schließen läßt, daß du, sowie du deine Hosen anziehst, mit dem Kopf schon wieder bei der Arbeit bist.
Sie blicken einander an. Richard fällt ein, was Ludwig Klages vor mehr als zwanzig Jahren behauptete: Wenn in einer Ehe die beiden Partner sexuell übereinstimmen, ist alles andere weniger wichtig. Er und Alma hörten Klages gemeinsam bei einem Vortrag im Bösendorfersaal, und Richard betrachtete es von da an als Garantie, daß Alma und er immer eine gute Ehe haben würden. Was ihm an Alma von Anfang an gefallen hat, war unter anderem, daß sie seine tiefsitzenden Befürchtungen in bezug auf das weibliche Geschlecht innerhalb weniger Wochen widerlegte. In seiner Jugend hätte er nie zu hoffen gewagt, je einer Frau mit Bildung zu begegnen, die er nicht jedesmal unter Anwendung von Rhetorik würde dazu bringen müssen, mit ihm ins Bett zu gehen. Sämtliche Beobachtungen im Familien- und Bekanntenkreis hatten in diese Richtung gedeutet.