— Wie wichtig es ist, daß man rechtzeitig aus dem Haus kommt, kann man jetzt überall lesen.
— Dann hast du also auch an meinem Rauswurf eine gute Seite entdeckt.
Vorbei.
— Wenn du es so sehen willst.
— Ich will es so sehen. Ich kann dir auch sagen, warum. Weil du immer im Recht sein mußt, egal wie.
Richard gibt es auf. So vollgestopft und ausgebeult sein Hirn an diesem Tag ist mit Fragen und Attacken der Vergangenheit, er gelangt zu der Erkenntnis, daß es sinnlos ist. Sie reden im Kreis. Es ist schon wahr: Als Ingrid wieder einmal um Mitternacht nach Hause kam und auch noch freche Antworten gab, ist ihm der Kragen geplatzt, und er hat sie eine halbe Stunde lang angeschrien und dann rausgeworfen. Aber nur, weil ihm nichts mehr einfiel auf ihr Schweigen, das mal widerspenstig, mal verächtlich war. Das hat ihn dermaßen auf die Palme gebracht. Außerdem war seine Laune bereits vorher verdorben, eins kommt halt immer zum andern, weil seine Sekretärin schon wieder schwanger war. Aber am nächsten Morgen hat er die Maßnahme zurückgenommen, er ist keiner, der seine Fehler nicht einsieht. Ich bestehe nicht auf dem, was ich gesagt habe. Trotzdem ist Ingrid noch am selben Tag auf und davon, als hätte der Koffer gepackt im Schrank gewartet und nur der geeignete Anlaß gefehlt, ihn hervorzuzerren. Das konnte einen schon stutzig machen. In Richards Augen erweckte das sehr den Verdacht, daß Ingrid das Haus in dem Augenblick verlassen hat, wo sie alle Schuld abschieben konnte und keine eigene Verantwortung übernehmen mußte. Er selbst hatte dann nur mehr die Wahl, entweder seinen Namen in den Dreck gezogen zu sehen und sich nicht drum zu kümmern oder der sofortigen Hochzeit zuzustimmen. Was er dann wohl oder übel gemacht hat. Wenn Ingrid neuerdings eine vereinfachte Auffassung dieser Vorkommnisse vertritt, so bleibt es ihre eigene Wahrheit, die ihr im nachhinein so passen würde, damit sie zu Hause weiterhin zuverlässig ihren Grant abladen kann. Aber was soll’s, warum sich aufregen, warum einen Schlaganfall riskieren. Auch den Kommoden kann man die Beine nicht geradeziehen.
Ingrid wartet mehrere Sekunden. Als sie sicher ist, daß von seiten ihres Vaters nichts mehr kommt, sagt sie:
— Bloß ein Glück, daß ich hin und wieder hier bin, dann sehe ich, daß es nur ein Haus ist, nicht mehr. Nur ein Haus mit Garten.
Also doch Heimweh, möchte Richard mit einer gewissen Genugtuung attestieren. Aber auch das verkneift er sich. Er hat sich gut in der Gewalt, er weiß, daß Ingrid immer das letzte Wort haben wird, schon allein, weil sie jünger ist. Das ist ihr Trumpf.
Alma gibt die Truhe frei. Auch diesmal lenkt sie umgehend auf ein anderes Thema, diesmal zum Gesundheitszustand diverser Nachbarn, wo dieser zu wünschen übrigläßt. Ohne Widerstreben beteiligt sich Ingrid an der Konversation. Eine Gallenkolik, der Krebs häuft sich, hat mit den Nerven zu tun. Richard geht unterdessen seinem sich sichtlich unwohl fühlenden Schwiegersohn beim Hinaustragen der Truhe zur Hand. Peter bedankt sich zweimal, er berichtet, daß der VW-Bus von einem Arbeitskollegen geliehen sei und wie gut er (Peter) sich beim Kuratorium für Verkehrssicherheit eingelebt habe. Er kommt darauf zu sprechen, daß er ein fotografisches Gesamtverzeichnis aller relevanten Kreuzungen der Republik erstellen werde, plus Statistik aller Unfälle, die sich auf diesen Kreuzungen ereignet haben. Mal sehen, was dabei herauskommt. Nachdem Richard zuvor zweimal» So, so «gesagt hat, steuert er jetzt ein» Interessant, interessant «bei.
Sie kehren ins Haus zurück, dort steigen die Frauen gerade die Treppe hoch. Richard und Peter schließen sich an. Jetzt trägt Alma das Enkelkind, es blickt mit dem Kinn auf Almas rechter Schulter auf Richard herab, der sich am Ende des Handlaufs mit der linken Hand an der Kanonenkugel aufstützt. Richard fühlt sich angezogen von Sissis Blick. Mit plötzlichem Herzklopfen gewahrt er, daß auch er Spuren in diesem Mädchen hinterlassen hat. Diese Vorstellung weckt in ihm einen trotzigen Stolz. Einige Stufen lang ist ihm, als behalte er in seiner Enkelin recht, auch dann noch, wenn es ihn nicht mehr gibt. Aber einen Augenblick später bleibt der Stolz auf halber Treppe zurück, und ein Stich des Bedauerns erinnert ihn daran, daß er im Alltag dieses Kindes nicht oft vorkommen wird. Zu Neujahr und zur Marillenernte, so das Wetter den Marillen gnädig war. Als nicht weniger demütigend empfindet er, daß Ingrids Familie ausbaufähig ist, während ihm seine eigene Familie Stück für Stück abhanden kommt.
Er hat sich bemüht, richtig zu leben, zu handeln, zu denken, zu fühlen, dem Gewissen gemäß, nach den Regeln, die ihm seine Eltern beigebracht haben. Er hat getan, was getan werden mußte, was bei weitem nicht jeder von sich sagen kann. Sein Handeln war stets vom Gedanken an das Wohl der anderen getragen. Trotzdem ziehen sich alle von ihm zurück.
Sie setzen den Rundgang fort. Anfänglich ist Ingrid auch im oberen Stockwerk wählerisch. Das ändert sich, als die Kinderzimmer an der Reihe sind. Mit einmal ist Ingrid bester Stimmung, sie freut sich, die Möbel in Ottos Zimmer wiederzusehen, und bittet um die komplette Einrichtung, den kleinen, in blassem Türkis gestrichenen Schrank, der staksig auf seinen ganz gerade geschnittenen Kirschholzbeinen steht, das Bubenbett mit dem Flechteinsatz im Kopfteil, den Tisch, die beiden Stühle und die gleichfalls türkis gestrichene Kommode, deren mittleres Schubfach Sissi unter Einsatz ihres kleinen Körpers herausziehen will.
Richard könnte wetten, daß es Alma um Ottos Zimmer besonders leid tut. Vom Sorgenstuhl ins Heulzimmer und retour, das hat sich erledigt. Er beobachtet Alma. Sie ist kontrolliert. Wie so oft drängt sie ihre Gefühle zurück, ohne sich etwas anmerken zu lassen (Richards Eindruck). Sie wagt lediglich die Frage, ob Ingrid und Peter weiteren Nachwuchs planen. Nicht auszudenken, was wäre, wenn er diese Frage stellen würde, Richard.
— Solange ich mit dem Studium nicht fertig bin, keine Idee, sagt Ingrid: Das Studium hat jetzt eindeutig Vorrang.
Ingrid öffnet die Schranktüren. Ein Geruch nach Mottenpulver breitet sich aus. C10Hirgendwas. Richard würde die chemische Formel gerne anbringen, aber sie fällt ihm nicht ein. Und auch die lexikalische Bezeichnung ist ihm im Augenblick gerade entfallen.
— Welche Prüfung kommt als nächstes? fragt er.
— Das wird sich zeigen.
— Du wirst doch hoffentlich wissen, welche Prüfung als nächstes kommt?
— Och.
Ingrid dehnt es unbestimmt.
Da wölbt Richard, als wäre er überrascht von dem, was er hört, die linke Augenbraue, seine Lippen werden schmal, und Ingrid erinnert sich gerade noch rechtzeitig, daß sie vor allem erst einmal die Prüfung ablegen muß, wie sich’s auf eigenen Beinen steht — weil (wenigstens) die väterliche Hand mit dem darin befindlichen Geld sich nie von ihr zurückgezogen hat. Auf der Basis von Verliebtheit ist halt doch keine Existenz zu gründen. Bei dem wenigen, das Peter beim Kuratorium für Verkehrssicherheit verdient, wäre weder das Nest, das Ingrid sich gerade polstert noch die Fortsetzung des Studiums denkbar. Richard zieht die ganze Familie mit durch. Die einzige Ausübung von Autorität, die ihm kritiklos zugestanden wird, besteht darin, diesen drei Pfleglingen unter die Arme zu greifen.
Seufzend bekennt Ingrid:
— Ich habe die Lernliste wegen der Aufregung rund um den Hauskauf wieder umschreiben müssen. Ich hoffe stark, daß es auch mit Sissi leichter wird, sowie wir fix eingezogen sind.
Alma, als würde es sie nicht im geringsten berühren, ob Ingrid ihrem Vater das Schauspiel einer ewigen Studentin liefert oder ihr Studium — im Gegensatz zu ihrem Gatten — doch noch fertigbringt, läßt wissen:
— Es freut mich, wenn Ottos Möbel in guten Händen sind.
Genau das bezweifelt Richard.
Ingrid und Peter nehmen nur, was nicht beständig ist, Verlegenheitsmöbel, Reserveschränke, alles, was nicht sonderlich anstrengt, was zurückbleibt oder schon immer zurückgeblieben war, alles das, was keiner besonderen Aufmerksamkeit bedarf, keiner Verbundenheit (durch Leim und Krampen). Keines Respekts. Möbel als Sinnbilder für Gleichgültigkeit, zum leichtsinnigen Abwohnen, denkt Richard. Und er lehnt diese Haltung — denn es ist eine Haltung — innerlich ab, weil er nicht glaubt, daß man unter solchen Voraussetzungen je Wurzeln schlagen kann.