Die Stimmen der Eltern hören und die der Großeltern, seltsam nah, aber ausgehöhlt und unsicher: Sperrstunde, mein Junge, Sperrstunde! Geh zurück! Noch drei Züge aus der Zigarette. Dann geh zurück! Der Bindfaden der Nacht ist zerkaut und franst am Ende aus. Leg dich zu ihr auf die Matratze, leg dich zu ihr und sag nichts.
In der Früh trödeln vorne an der Straße jede Menge Schüler vorbei. Der Strom reißt ab, gegen halb acht. Eine Pause. Dann kommen zwei, die rennen, weil sie zu spät dran sind. In Philipps Rücken kleidet sich Johanna zum Gehen an. Philipp konzentriert sich ganz auf das, was draußen passiert, und hört, da das Fenster offensteht, das Rufen der Kinder. Die klaren Stimmen sind der Höhepunkt des Tages. Philipp denkt daran, daß ihm sein Vater den Rat gegeben hat, sich bei eventuellen Raufereien an die Schultaschen der Kontrahenten zu hängen und ihnen, wenn sie am Boden liegen, sofort eine reinzuhauen. Als er sich wieder Johanna zuwendet, ist ihm fast, als kehre er von einer solchen Rauferei zurück. Johanna rückt ihren BH zurecht, zieht die Bluse glatt und kündigt an, daß sie jetzt gehen werde (woran er keinen Zweifel hat). Er verabschiedet sich von ihr, ohne Späße zu machen. Die gemeinsamen Späße sind das allerschlimmste, seit einiger Zeit besitzen sie etwas Verlogenes oder führen wenigstens zur Verlogenheit, wenn er abschließend etwas sagt:
— Ciao, Bella.
Er sagt nichts weiter, obwohl er bestimmt nicht alles für gesagt hält, was es zwischen ihnen zu sagen gibt. Er konzentriert sich ganz darauf, die sekundenlangen Blicke, die sie wechseln, in Tage umzurechnen, die sie einander nicht sehen werden.
One, two, three, four, five, six, seven, all the children go to heaven —.
Er denkt, daß alles immer ist, als versuche man denselben Satz, aber diesmal noch schöner, in sein Heft zu schreiben. Vielleicht ist es das, was uns zu armen Teufeln macht.
Und weg ist sie.
Am Nachmittag klebt die Müdigkeit an Philipp wie Dreck, und es ist ihm egal, daß er die Zeit verludert, denn Pläne hat er keine und deshalb auch nichts zu verschieben. Steinwald und Atamanov kreuzen erst gegen zwei, halb drei auf. Das Geschäft mit dem Inventar der Großeltern hat sich als einträglicher und weniger schweißtreibend erwiesen als das Herunterreissen von Tapeten. In Anzügen, die aussehen, als wären sie bei der Caritas am Mittersteig gekauft, steigen sie aus dem roten Mercedes, den sie vor der Garage geparkt haben, schlagen die Türen zu und kommen zu Philipp herüber. Philipp sitzt wie üblich zwischen Papier und Büchern auf der Vortreppe, allerdings ohne zu arbeiten, da er von der Wärme und infolge der vergangenen Nacht ständig halb am Einnicken ist. Steinwald und Atamanov bleiben vor Philipp stehen, sie wollen ihm von dem Erlös, den sie aus dem großmütterlichen Nachlaß lukrieren, einen Anteil ausbezahlen oder gegen ihre Stundenlöhne verrechnen. Philipp wird nicht ganz schlau aus dem, was sie sagen, denn weil er von dem Geld nichts will, hört er nur mit halbem Ohr hin. Er betrachtet weiterhin die Anzüge, die sehr überzeugend sind, speziell in der Art, in der sie von Steinwald und Atamanov getragen werden. In neuen Kleidern könnte er sich die beiden ohnehin nicht vorstellen. Er denkt: Wenn ich trüge, was Steinwald und Atamanov tragen, sähe ich aus wie ein Clown. Sie aber sehen aus wie Männer, die zu tun haben und sich von Kleinigkeiten nicht irritieren und schon gar nicht aufhalten lassen. Er beneidet seine Gehilfen und sagt nochmals, mit der freundlichen Unbeteiligtheit, die ihn momentan charakterisiert, daß er von dem Geld, das sie mit dem Weggeworfenen verdienen, nichts will, unter keinen Umständen. Sie heben die Schultern, nicht hilflos, nein, eher um ihr fehlendes Verständnis für Philipps Holzbockigkeit zu signalisieren. Atamanov kratzt sich hinter seinen großen Ohren. Dann wenden sich beide ab, beinahe gleichzeitig, wie an Fäden gezogen. Sie treten zum Abfallcontainer und stöbern darin, gespannt, was Philipp mittlerweile weggeworfen hat.
In dem Moment, in dem sich Philipp links liegengelassen auf der Vortreppe (sitzend) wiederfindet, ist ihm das auch nicht recht. Er schielt zum Container und bereut, daß er es ausgeschlagen hat, mit Steinwald und Atamanov gemeinsame Sache zu machen. Nicht um des Geldes, sondern um der Sache willen. Er steht von der Vortreppe auf, reibt sich den Hintern und drückt sich unbeholfen um den Mercedes herum, dessen Kofferraum offensteht. Erst jetzt fällt ihm auf, daß in dem Wagen die Vordersitze nicht zu den Hintersitzen passen und daß jede Menge Dufttannenbäume im Wageninneren hängen, sogar an der Decke. Als Steinwald in Philipps Nähe kommt, um den Plattenspieler und die letzten Sonntagsschuhe des Großvaters im Kofferraum zu verstauen, erkundigt sich Philipp, weshalb die Dufttannenbäume im Wagen hängen. Er findet, die Frage drängt sich auf. Trotzdem kommt er schlecht damit an. Steinwald kratzt verlegen am eingewachsenen Dreck in den Schwielen seiner linken Hand und antwortet, bei aller Verbundenheit, darüber wolle er nicht sprechen, Philipp halte sich auch sonst aus allem raus oder, was das Ganze nicht besser mache, interessiere sich für nichts. Philipp überlegt, wie Steinwald dazu kommt, sich zu dieser Behauptung zu versteigen, immerhin ist es Steinwald, der bei Tisch gewöhnlich nicht zum Reden zu bringen ist oder den Mund außer zum Essen und Gähnen zu nichts anderem aufmacht als zur Kommentierung schon besorgter oder noch anstehender Arbeiten. Philipp hakt dennoch nicht nach, denn er weiß, daß Steinwald und Johanna die Köpfe zusammenstecken. Ehe er auch von Steinwald gesagt bekommt, was er ständig von Johanna gesagt bekommt, daß alles so unbestreitbar sei wie die Tatsache, daß Tote stinken, bleibt er lieber still.
Vor ein paar Tagen, das fällt ihm jetzt wieder ein, weigerte sich Steinwald, ihn (Philipp) bis zur Kennedybrücke mitzunehmen. Philipp hatte dort ein Eis essen wollen, Banane, Malaga, und war aus Fassungslosigkeit darüber, daß ihm Steinwald die Mitfahrt ohne Angabe von Gründen abgeschlagen hatte, zu Hause geblieben.
Steinwald dreht ihm den Rücken zu und läßt sich demonstrativ auf den Fahrersitz plumpsen, so daß der ganze Wagen wackelt. Er dreht den Zündschlüssel um. Im Autoradio quakt eine von Interferenzen bedrängte Stimme über Rinderwahnsinn und gesunkene Fleischpreise. Steinwald startet und putzt den Motor durch. Er verstellt den Rückspiegel. Dann winkt er Atamanov, er solle vorwärtsmachen. Der Schotter knirscht. Schon hat der Mercedes das Tor erreicht, schert raus auf die Straße und ist verschwunden. In gedrückter Stimmung, wie schon zuvor, setzt Philipp sich dorthin zurück, wo er derzeit als einziges hingehört und ihm das Leben am ehesten einen erträglichen Geschmack hinterläßt: auf die Vortreppe. Während er sich dort beiläufig beschäftigt, mechanisch an der großen Zehe des rechten Fußes zieht und so ein hör- und spürbares Knacken erzeugt (als ob sonst nichts zur Disposition stehe), wartet er auf den Moment, den er für geeignet ansieht, etwas anzupacken — die Briefe zum Beispiel, die er am Vormittag im Schuhkasten gefunden hat.
Doch die Stunden schwinden dahin, eine nach der andern, ohne daß Philipp sich zu etwas Entscheidendem aufraffen kann. Er ist nach wie vor nicht wirklich bereit, sich in die Gefahr zu begeben, daß er mehr erfährt, als er wissen will, oder aufwärmt, was ihm halb ausgestanden im Bauch herumgeht. So hat er wenig erreicht, sich nur in eine schlechte Stimmung hineinmanövriert, als gegen halb sieben Steinwald und Atamanov zurückkommen, im Kofferraum ein neuer Gartengrill (rot), den sie Philipp zum Dank für seine Freigebigkeit schenken, dazu Koteletts, Würste und Bier für ein Grillfest mit mindestens zehn Personen.
Philipp freut sich aufrichtig, ist auch froh um die Ablenkung und fordert die beiden auf, ihre Freunde und Verwandten einzuladen. Das läßt Steinwald mürrisch und Atamanov deprimiert werden. Die Arbeiter ziehen es vor, Ordnung zu schaffen. Sie tragen ein paar morsche Dielen hinter die Garage, o-beinig, mit rausgestreckten Hintern, damit ihre Anzüge nichts abbekommen. Philipp indes rennt geschwind zur Mauer, um eventuelle Nachbarn ausfindig zu machen, die gewillt sind, an dem Grillfest teilzunehmen. Von jedem Stuhl aus macht er Klimmzüge und ruft Hallos in die nachbarlichen Gärten. Aber die Hallos verhallen wie abgeschmettert, und er selbst sinkt wie abgeschmettert zurück auf die Stühle. Ein Rasensprenger zischt. Es liegen Dinge auf den Terrassen, die Philipp bisher nie gesehen hat. Ein gelber Liegestuhl ist neu hinzugekommen. Aber die entsprechende Frau oder rülpsende Tochter reicher Eltern, ein grundgelehrtes Buch als Sonnenschutz über dem Gesicht, fehlt. Und mit ihr alle. Alle.