Выбрать главу

Als sie den Wagen startet mit zweimal elsternhaft schnarrender Zündung und dann nur langsam anstotterndem Motor, ist es zwanzig vor neun. Saukalt. Vier Grad unter Null.

Mit kratzenden Scheibenwischern fährt Ingrid zu Palmers und belohnt sich mit zwei Garnituren schwarzer Unterwäsche für den Dienst. Als sie sich nach dem vertraulichen Gespräch mit Schwester Bärbel niederlegte, mußte sie die Diagnose stellen, daß die Wäsche, die sie trägt, schon morsch ist und für eine Affäre nicht mehr geeignet wäre. Ingrid muß zusehen, daß sie trotz des Gedränges, in dem sie sich befindet, mehr auf sich achtet. Sie fährt sogleich zum Friseur. Dort angekommen, wirft sie lediglich einen kurzen Blick durch das Schaufenster und stellt fest, daß es noch immer zu wenige Hippies gibt. Der Laden ist bummvoll, und stundenlanges Warten kommt für Ingrid nicht in Frage, weil ihr kein Laden bekannt ist, in dem man sich Zeit anschaffen kann. Also weiter zum Konsum, einkaufen, sehr kursorisch, Hauptsache viel. Der Grund: Sie kann sich nicht darauf konzentrieren, was sie am Neujahrstag für die Meute kochen will. Sie räumt die Einkäufe in den Kofferraum, dann steuert sie vis-à-vis die Trafik an. Sie hat ihre Zigaretten im Ärztezimmer liegenlassen. Die sind verloren.

Der Trafikant sagt:

— Frau Doktor sehen gut aus.

— Hübsche Kinder habe ich und einen tollen Mann, antwortet Ingrid. Hat der eine Ahnung. Aber sie ist immerhin beruhigt, daß ihr nicht jeder auf den ersten Blick ansieht, wie’s ihr geht.

Dann die nächste eilige Angelegenheit: Die Weihnachtsfilme zum Entwickeln bringen. Und noch mal zum Konsum, weil sie die Servietten vergessen hat. Es ist jetzt Viertel nach zehn. Wenn sie sich beeilt, kommt sie rechtzeitig nach Hause, um von der Couch aus den Vormittagsfilm zu verschlafen. Seit längerem steht wieder einmal Der Hofrat Geiger auf dem Programm, mit der elfjährigen Ingrid als Statistin. Die Freude darüber (oder ein Anfall von Sentimentalität?) läßt sie der Versuchung nachgeben, den Einkauf durch eine Flasche Marillensekt zu vervollständigen. Nach dem Nachtdienst ist sie immer so halb hinterm Mond, sie neigt an diesen Tagen zu Spontaneinkäufen. Wenn schon. Sie ist der Meinung, sie hat sich die Flasche heute verdient.

Was Ingrid daheim geboten bekommt, ist ein fürchterlicher Dreck im Windfang und Cara, die Hündin, die Ingrid vor Wiedersehensfreude am liebsten auffressen würde, obwohl Cara es bestimmt nicht nötig hat, fett wie sie ist. Offenbar haben die Kinder Cara wegen ihrer Schreckhaftigkeit zu Hause gelassen, und auch Peter, den Ingrid in seiner Werkstatt arbeiten hört, wird die Kracherei dankbar zum Vorwand genommen haben, sich im Keller zu verschanzen, statt mit den Kindern zu gehen. An diesem Großkampftag.

Ingrid kann Peters Aversion gegen das Böllerschießen nicht für voll nehmen, schließlich bereiten ihm Fehlzündungen von Rennautos sichtliche Freude. Ihrer Meinung nach hat Peter von der Silvester-Symptomatik bei ehemaligen Kriegsteilnehmern gelesen, wie manche Frauen von Migräne lesen und bei Bedarf Betroffenheit herzustellen wissen. Der Krieg ist bei ihm eine Art Männer-Migräne, sehr schlau, klug, ausgeklügelt. Ausreden. Am zweiten Weihnachtsfeiertag hat Ingrid saubergemacht. Fenster und Türen standen zum Lüften offen, da knallte eine Tür vom Luftzug mit großer Wucht zu, und Peter, der auf dem Sofa eingeschlafen war, bekam einen solchen Schrecken, daß er vom Sofa fiel. Aber Frage (skeptisch): Würden in so einem Fall nicht auch die Kinder vom Sofa fallen? Und: Und außerdem verbringt Peter seine Freizeit ohnehin das ganze Jahr über im Keller, in der festen Überzeugung, daß der Einsatz an der Werkbank seine familiären Schwächen aufwiegt. Auch unter diesem Gesichtspunkt, findet Ingrid, braucht ihr der Herr Straßenverkehrsspezialist nicht sonderlich leid zu tun.

Sie stellt zwei Taschen in die Küche. Ehe sie auch die restlichen Einkäufe aus dem Wagen holt, dreht sie im Wohnzimmer den Fernseher auf, damit er warmlaufen kann. Es blitzt im Inneren des Kastens, die Bildfläche schimmert grünlich, wird nach und nach milchig hell, die Konturen gewinnen an Schärfe und zeigen ein weißes Insert:

Dieser Film spielt im heutigen Österreich, das arm ist und voller Sorgen. Doch — haben Sie keine Angst — davon zeigt er Ihnen wenig.

— Das hätte noch gefehlt, sagt Ingrid gähnend.

Nachdem einige Sekunden des Filmanfangs wie durch einen Schleier vor ihr abgelaufen sind, geht sie in die Garage und schleppt die Getränke herein. Sie brüht Kaffee, schneidet einen Apfel in Schnitze, und während die blasierte Stimme von Hans Moser vertraut an ihr Ohr dringt, hat sie eine präzise Vorstellung von den Bildern, die ins leere Wohnzimmer strahlen. Sie gibt Cara Baldrianperlen und beruhigt sie mit Streicheln und Zureden. Sie verräumt die Einkäufe, alles an seinen Platz. Der Marillensekt? Mit dem hat sie sich eindeutig zuviel zugetraut, besser zum Neujahrskonzert, wenn die Nachbarn kommen, die keinen Fernseher haben. Ob Sissi und Philipp mit den Nachbarskindern zum Rodeln gegangen sind? Vermutlich. Sie hofft, daß Sissi ihren Bruder gut angezogen hat. Das ewige Kranksein der Kinder geht ihr schön langsam auf die Nerven. Masern, Scharlach, Feuchtblattern, Bindehautentzündung and so on. Was sie jetzt nötig hat, ist ein ruhiger Start ins neue Jahr.

Ingrid legt sich auf die Couch. Sie richtet den Heizlüfter auf ihre Beine und wickelt sich eng in die Decke, die Arme vor der Brust überkreuzt. Ehe sie einnickt, sieht sie fünf Minuten von Der Hofrat Geiger. Hans Moser, als Faktotum des Hofrats, will bei einer Bäuerin eine Vase gegen Eier eintauschen, aber Eier sind nur gegen ein Ofenrohr zu bekommen und ein Ofenrohr nur gegen eine Probierpuppe und eine Probierpuppe nur gegen einen Grabkranz und ein Grabkranz nur gegen eine Sitzbadewanne, die Sitzbadewanne nur gegen eine Unterhose und die Unterhose nur gegen einen Papagei. — Eine wie mit dem krummen Finger lockende Einladung zu wirren Vormittagsträumen.

Ingrid wacht auf, als sich Peter in der Küche durch die Besteckschublade wühlt. Sie zieht die schweren Augendeckel hoch. Am Fortgang der trübe heranschwimmenden Bilder — der Hofrat trifft seine Jugendliebe, Marianne Mühlhuber, die er vor achtzehn Jahren sitzengelassen hat — kann sie ablesen, daß nicht einmal eine halbe Stunde vergangen ist. Der Hofrat verspricht Wiedergutmachung, er beabsichtigt seiner früheren Geliebten und der mittlerweile siebzehnjährigen Tochter Mariandl den Namen zu geben, der den beiden zusteht. Doch die ehemalige Geliebte verhöhnt ihn:

— Weil wir ja jetzt im Wiedergutmachungszeitalter leben, nicht wahr! Wiedergutmachung! Wiedergutmachung! Ich kann das Wort schon nicht mehr hören!

Ingrid weiß, daß Marianne Mühlhuber das Anerbieten nach einigem Hin und Her akzeptieren wird, weil sie hofft, durch die Heirat die österreichische Staatsbürgerschaft zurückzuerhalten, die ihr in den Kriegswirren abhanden gekommen ist. Sehr romantisch. Der Hofrat indes, der sich gerade unerträglich einschleimt, wird seine Familie vom Hochzeitsbankett weg abermals verlassen, weil ihn der Ruf ins Amt ereilt.

— So ein Arschloch, mault Ingrid.

— Hast du etwas gesagt? fragt Peter, der in diesem Moment in der Tür erscheint, die schlanke Gestalt in für das Büro bestimmter Kleidung, Hose und frischem Hemd.

— Oh, nein, nein, wiegelt Ingrid ab mit schräg aufwärts in Peters Blick hineingewandtem Kopfschütteln.

— Ich habe Arschloch verstanden.

Ingrid setzt sich mit langsamen Bewegungen auf, zieht die Knie vor die Brust und schlingt die Arme um die Beine, ihre Vorstellung von Bequemlichkeit. Sie deutet mit dem Kopf Richtung Fernseher. Sie nimmt einen prüfenden Schluck vom Kaffee, der noch lauwarm ist. Ihr Blick wirkt, als falle sie in Zeitlupe aus allen Wolken.