— Verdammt, ich schaue den Schluß des Films! Schlimm genug, daß dich deine Straßenkreuzungen mehr interessieren!
Sie kehrt in der gebotenen Schnelle ins Wohnzimmer zurück, gerade rechtzeitig, um ihren eigenen Auftritt nicht zu verpassen. Der Auftritt kommt ihr diesmal ausgesprochen kurz und substanzlos vor. Ingrid hat den Eindruck, von dem damaligen Mädchen völlig abgeschnitten zu sein. Die äußeren Spuren sind ebenso erloschen wie die Sehnsüchte und Träume von damals, keine Verbindung zu der vierunddreißigjährigen Frau, die übernächtigt mit einem summenden Gefühl in den Gliedern auf der Fernsehcouch eines kleinen Hauses im achtzehnten Bezirk sitzt und fassungslos in den Fernseher schaut, während ihre eigene Weltgestalt von 1947 über den Bildschirm geistert.
Philipp, der sein Lippenkauen unterbricht, sagt, er habe die Mama vor lauter Musik und anderen Menschen nicht gesehen, und er würde gerne wissen, wie der Film in den Fernseher kommt.
— Der Strom kommt aus der Steckdose, und die Sendung aus der Luft. Sie durchdringt die Wände, sonst könnte man nur im Freien fernsehen. Aber wie das geht, daß die Sendung durch die Wände dringt, und warum die Leute, die hinter den Flaktürmen wohnen, einen senkrechten Balken mitten durchs Bild haben, kann ich dir nicht erklären. Am besten, du fragst den Papa, der wird dir auch sagen können, weshalb die Bohrmaschine das Bild zusammenhaut.
Ingrid stürzt sich ins Kochen, damit es keine Nachrede gibt, sie mache ihre Arbeit nicht. Zwischen den pfeifenden, stöhnenden Töpfen, während sie schneidet und raspelt, reibt und würzt, spielt sie die Szene von damals nach. Sie bewegt ihren um mehr als zwanzig Jahre gealterten Körper, wie sie annimmt sich seinerzeit bewegt zu haben, glaubt aber nicht, besonders überzeugend zu sein. Es ist, als wäre ihre Leichtigkeit am Wegrand zurückgeblieben.
Selbst Cara, die Hündin, die hereinkommt, schaut Ingrid nur kurz an und geht wieder hinaus.
Die Unterhaltung beim Essen ist normal und friedlich. Wenn nicht Sissi den Mund offen hat, sagt Ingrid belangloses Zeug über den Dienst, damit keine Stille entsteht, von der sie weiß, daß sie Philipp bedrückt. Ingrid hat die Beobachtung gemacht, wenn es am Tisch still ist, fängt Philipp an, mit dem Essen zu spielen. Hingegen ißt er sehr brav, wenn man Geschichten erzählt. Also berichtet sie, daß ein Kollege für ihre Arbeit Lob eingeheimst habe. Danach kommt ihr in den Sinn, was Schwester Gitti beim Frühstück erzählt hat, und das gibt sie ebenfalls zum besten: Daß der neue Primar nicht weiß, daß Schwester Margot mit Oberarzt Dr. Feldhofer verheiratet ist, und daß der Primar, während Feldhofer assistierte, ständig mit Schwester Margot flirten wollte. Es soll enorm peinlich gewesen sein.
Philipp ißt brav und macht anschließend ein Probst-Gesicht. Ansonsten interessiert die Geschichte niemanden, wieso auch.
Philipp sagt:
— Es wäre leichter, wenn das Essen nicht wäre.
Einen Augenblick später steht er, ohne zu fragen, vom Tisch auf und steigt in den oberen Stock hinauf. Sissi nutzt die Gelegenheit und steht ebenfalls auf, sie bittet um den Feldstecher, damit sie die Vögel am Futterhaus beobachten kann. Peter, geschmeichelt, holt den Feldstecher, und auch er setzt sich bei dieser Gelegenheit ab, in den Keller. Ingrid badet die Hände im Abwaschwasser, schichtet die Teller in den Reiter zum Abtropfen. Mitunter, wenn sie einen schlechten Tag erwischt, kommen ihr diese Kleinigkeiten schlimmer vor als Krieg und Winter.
Dann Ohropax, was an solchen Tagen die einzige Möglichkeit ist, zu einer Stunde Schlaf zu kommen. Ein Lärm, ein Durcheinander, Kinder, die sich gegenseitig die Türen zuhalten, die um jedes Stück Papier streiten, und für Ingrid kein Platz außer in ihrem Körper. Stöpsel rein, Schlafmaske über die Augen, über den Kopf gezogene Decke, kellerdunkle Nacht, unabhängig sein von der Umgebung und der Familie. Mit Ohropax wird sich Ingrid der harten Grenzen ihres Körpers bewußt, sie denkt an eine Stahlröhre, schwer und hohl. Die Geräusche von außen sind fast weg, aber die im Innern belästigen und nehmen ganz gefangen: Atmen, Schlucken, Pulsschlag.
Der beängstigende Effekt, sich wegen zweier kleiner Stöpsel in den Ohren eingesperrt zu fühlen, hält sie eine Weile wach.
An dem Tag, an dem die Verhandlungen um den Staatsvertrag zum Abschluß gekommen waren und Ingrid erst um elf Uhr zu Hause eintraf, weil sie mit Peter im Magazin geschlafen und sich vertrödelt hatte, rechnete sie mit einem Riesenwickel. Wegen der Zahnschmerzen ihres Vaters, die so akut geworden waren, daß sogar Sehstörungen auftraten, fiel aber niemandem etwas auf.
In der Früh sagte Ingrid:
— Das muß ich alles verschlafen haben.
Und ihr Vater sagte:
— Deinen Schlaf hätte ich gerne.
Zwischendurch muß Ingrid aufs Klo, und großen Durst hat sie auch. Da sieht sie Philipp mit seinem Matchbox-Traktor auf dem oberen Treppenabsatz sitzen und vor sich hinstarren. Er tut ihr leid, und sie hat ein schlechtes Gewissen, so daß sie die Ohrenstöpsel herausnimmt, sich anzieht und den Rest der Familie zusammentrommelt. Wer Lust habe, sich auszulüften, solle bis in fünf Minuten gerichtet sein.
Sissi grantelt herum, kommt aber mit.
Peter macht keine Anstalten, was Ingrid nicht im mindesten erstaunt. Er argumentiert mit seinem Knöchel, den er sich Heiligabend verstaucht hat, als er mit den Rollschuhen, die Sissi vom Christkind bekommen hat, im Vorzimmer gestürzt ist. Wenigstens ist immer etwas los.
— Einverstanden, entschuldigt.
Obwohclass="underline" Der soll sich nicht so anstellen. Wenn er nicht spazierengehen kann, soll er mit den Kindern wieder einmal eine Runde mit den öffentlichen Verkehrsmitteln drehen, was sich ja auch großer Beliebtheit erfreut.
Kurzes Nachfragen.
Kurze Antwort:
— Jetzt bist du ja schon angezogen.
Der Herr Kellerbewohner. Er weiß gar nicht, was er wegschmeißt, wenn er diese Zeit mit seinen Kindern versäumt.
Ingrid spannt die Gummis am Ende von Philipps Overall-Hosenbeinen über die Sohlen seiner Stiefel, zieht die Schnur, an denen die Fäustlinge hängen, durch die Ärmel des Oberteils, zieht Philipp die Pudelmütze über den Kopf. Sie legt den Hund an die Leine und gibt Peter einen Kuß auf die Wange. Peter hält ihr auch die andere Wange hin, so daß sie ihm vor den Kindern ein zweites Bussi geben muß. Darauf soll es ihr nicht ankommen. Peter verspricht, die Silvestertelefonate zu erledigen und im Kohlenkeller etwas Ordnung zu schaffen. Ingrid ist überzeugt, daß er, drei Minuten nachdem sie gegangen sind, vorm Fernseher sitzen wird. Bestimmt gibt es irgendwo Sport, dann kann er sich dafür entschädigen, daß ihn seine Kinder, wie er unlängst jammerte, seinen Fernseher nur nutzen lassen, wenn es ihnen paßt. Der Ärmste. Kann einem richtig leid tun. Lauter Menschen, die ihn nur brauchen, wenn er das Geldbörserl offen hat.
— Türkenschanzpark oder Schönbrunn? fragt Ingrid.
— Schönbrunn, tönt es einhellig.
Auch Ingrid ist Schönbrunn lieber, weil dort die Wege besser geräumt sind und das Gehen leichter fällt. Sie packt Kinder und Hund in den Wagen, wechselt zwei Sätze mit der Nachbarin, die das Tischtuch zum Fenster hinausschüttelt — auch jemand, der Angst hat, daß die Ehe krachen geht; ihr Mann zieht dem Hörensagen nach die Unterhosen seines verstorbenen Vaters an, was allerdings bitter ist —.
Und los geht’s.
Eigentümlich geduckt sind die Gebäude von Schönbrunn diesmal hingestellt, dick und voll. Das Gelb der Fassaden wirkt gebleicht vom niedergedrückten Schornsteinrauch, nach dem die Luft schmeckt. Die Alleen sind fast menschenleer, die Hecken aufgepackt mit Schneehauben, und die kahlen, schmutzigen Laubbäume stehen hart gezeichnet im weißgrauen Licht, Krähen im Geäst, schwarze Päckchen, wie vom Christkind hineingeworfen. Die Luft ist kalt. Am Himmel treiben graue Wolken, und Philipp, der seinen Bob nicht zu Hause lassen wollte, zieht ihn quietschend über den Rollsplitt und das steifgefrorene Laub im hartgetretenen Schnee. Manchmal läuft Philipp voran, er schaukelt in seinem dick wattierten Overall mit den armsteifen Bewegungen eines Pinguins. Er blickt unablässig umher. Man hört Böllerschießen und Musik aus der Gegend des Tiergartens oder des Platzls, Geräusche, die rasch verhallen über dem Schnee, als kämen sie von weiter weg. Eine wunderbare Stimmung, findet Ingrid. Sie genießt es und sagt sich: Wenn das neue Jahr so schön wird wie dieser Nachmittag, wäre es die reinste Freude. Wer weiß, vielleicht frißt das Schwein des Glücks die schlechten Vorzeichen noch einmal weg.