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Sissi läßt sich von Cara kreuz und quer über die Gehwege zerren, und Ingrid hat Zeit zum Sinnieren. Nur leider kommt sie auf keinen grünen Zweig, jedenfalls nicht dort, wo sie darauf aus ist, die momentane Situation zu verbessern. Sie hat einfach zu spät eingesehen, daß es blöd ist, immer die perfekte Ehefrau abgeben zu wollen. Statt sich die damit verbundenen Plackereien mit Küssen und Rosen aufwiegen zu lassen, hätte sie ihren Mann besser rechtzeitig zum Mithelfen erzogen, etwas, wofür er jetzt nicht mehr zu gewinnen ist. Er putzt sich ab nach dem Motto, einmal die Dumme, immer die Dumme. Ingrid bestreitet nicht, daß sie sich das teilweise selbst anlasten muß, weil sie Peters Bequemlichkeit zuerst gefördert und dann nicht energisch genug unterbunden hat. Wobei (das ist alles sehr kompliziert) ihr ohnehin kein Beispiel einfällt, das Peters Fähigkeit belegen würde, in Beziehungskonflikten etwas sowohl zu verstehen als auch Konsequenzen daraus zu ziehen. Da dürfte bereits seine Mutter in der Erziehung das eine oder andere falsch gemacht haben.

Und das ist wieder typisch für sie: Kaum hat Ingrid einen wunden Punkt an Peter aufgedeckt, empfindet sie Mitleid mit ihm. Der Tod von Frau Grauböck in der Nacht fällt ihr ein (seltsam, daß sie es zwischendurch immer wieder vergißt) und daß Peter, als seine Mutter starb, erst fünfzehn war, im Krieg, das frühe Kriegspielen, das dürfte sich bei ihm ebenfalls negativ eingeschrieben haben, auch wenn der vierzigjährige Mann und der Bub von damals schwer zusammenzubringen sind, wo genau und worin sie sich treffen und was schon davor angelegt war und was erst hinterher dazugekommen ist. Das Davor und Danach vernachlässigt man meist. Krieg ist leichter, und noch leichter ist Krieg und Kindheit, obwohl keiner in Krieg und Kindheit steckengeblieben ist. An ihrer eigenen Person kann sie wenig erkennen, von dem sie überzeugt ist, daß es ohne Krieg anders geworden wäre. Bei Peter hingegen? Da führt der Komplex geradewegs in ihrer beider Eheschlamassel, jedenfalls, wenn Ingrid es beim Nachdenken bequem haben will. Dann sieht sie den kleinen Peter, wie er seinen verwundeten Arm hält, wie ihm die Rotzglocke von der Nase hängt, wie er sich sagt (sie glaubt es): Alle sind gegen mich, die einen schießen auf mich, und die andern lassen mich im Stich, allen voran die Familie.

Ein dunkelbraunes Eichkätzchen mit weißem Brustfleck taucht am Weg auf, bleibt stehen, hebt den Kopf und schaut dem heranwackelnden Philipp entgegen. Das Eichkätzchen scheint für einen Moment zu überlegen, welche Richtung es nehmen soll. Dann kracht ein Böller über den hoch ummauerten Flächen, und das Eichkätzchen springt in eine dichte Hecke. Philipp läuft zu der Stelle, wo das Tier verschwunden ist, schaut hinein, und Sissi gibt ihm einen Stoß gegen das Hinterteil, so daß er kopfüber in die Hecke fällt. Sehr hoppadatschig. Ingrid weist Sissi zurecht. Philipp rast hinter seiner lachenden Schwester her wie Mord und Brand. Die ist ihm nicht zu groß zum Raufen. Er schreit:

— Du blödes Viech.

Doch da Philipp darüber das Weinen vergißt, kann auch Ingrid über die Situation lachen. Am liebsten würde sie Sissi den Rat geben, sich diese Art für ihre späteren Männer zu bewahren.

Kurz darauf übernimmt Ingrid das Ziehen des Bobs, weil Philipp allmählich die Puste ausgeht. Na bitte, da ist die Welt für ihn wieder heil.

— Du bist die beste Mama, keucht er, schon wieder unbekümmert (das ist ein guter Zug an ihm). Ein blinkendes Tröpfchen hängt an seinem Nasensteg, es scheint ihn aber nicht zu stören. Ingrid hält ihn am Nacken fest, putzt ihm die Nase. Sie denkt: Das einzig Gute, was dabei herausgekommen ist, sind die Kinder.

Die Probleme begannen in den Jahren des zweiten Studienabschnitts, als Ingrid bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs schuftete und von Peter keine Unterstützung bekam. Das ging schon in Hernals los, noch bevor Peter die Lizenzen seiner Spiele verkaufte. Mit dem Verkauf der Lizenzen Ende 1960, während der Schwangerschaft mit Sissi, hoffte Ingrid, daß jetzt ein besseres Leben beginnen werde. Statt dessen wurde es schlimmer. Ingrid lag im Krankenhaus, Peter war beruflich unterwegs, weil er seine Straßenkreuzungen zu fotografieren hatte. Sie preßte und schwitzte, und von draußen drang ständig Schlagergesang von einem Frühschoppen herein, Trude Herr, Vico Torriani, das machte sie ganz fertig. Dann Peters viel zu kurze Besuche auf der Wochenstation und die Behauptung, daß es über seine neue Arbeit nicht viel zu erzählen gebe. Die vielen einsamen Spaziergänge am Wilhelminenberg mit dem Kinderwagen und später das langweilige Entenfüttern mit Sissi, als Ingrid eigentlich hätte lernen sollen. Einmal, da waren sie zu viert beim Konsum, 1965 oder Anfang 1966, Philipp war noch kein Jahr, und Sissi mußte speiben, genau auf Philipp in den Kinderwagen und auf die Waren, die Ingrid dort abgelegt hatte. Philipp schrie wie am Spieß. Und Peter? Lief rot an bis unter die Haare, schaute sich um, ob jemand ihn und seine Familie beobachtete. Vorsorglich nahm er zwei Schritt Abstand, um seinen fehlenden Anteil an der Misere für jedermann kenntlich zu machen. Wenn etwas schiefging, war immer Ingrid schuld, weil Peter sich ja einen Dreck um etwas kümmerte. Schöne Logik. Ingrid könnte Dutzende Beispiele nennen, lauter Dinge, die sie nicht vergessen kann. Ihr geht es da wie einem Elefanten, jedenfalls solange diese Vorfälle nicht verarbeitet sind. Und verarbeiten kann sie erst jetzt. Denn erst jetzt, seit Philipp im Kindergarten ist, findet Ingrid wenigstens manchmal die Zeit, sich die Gedanken zu machen, die sie sich schon damals dringend hätte machen müssen. Die Crux bestand darin, daß sie in dem Strudel aus Alltagssorgen nicht zur Besinnung kam und deshalb das Ausmaß, wie wenig Unterstützung sie von Peters Seite erhielt, gar nicht zu würdigen wußte. Eben weil sie sich alleine durchboxen und drüberhanteln mußte. Die Angst, sich vor den Eltern eine Blöße zu geben, tat den Rest. Und so, zwischen Hammer und Amboß, vergingen die Jahre.

Nicht einmal eine Hilfskraft für die Kinder oder den Haushalt gelang es ihr durchzusetzen. Peter legte sich wiederholt mit dem Argument quer, er hasse diese semifamiliären Bindungen, er wolle nicht parat stehen für fremde Leute und jederzeit den Chauffeur machen müssen. Damit hatte es sich. Das Angebot ihres Vaters, das Kindermädchen von der Steuer abzusetzen, indem er es als Hilfskraft beim Ordnen seines Nachlasses führt, kam gar nicht zur Diskussion. Und Ingrid hatte es auszubaden. Wären nicht Frau Andritsch und die anderen Nachbarinnen gewesen, sie hätte sich aufhängen können.

Sie war jung, auch wenn sie sich damals nicht gar so jung vorkam: zwanzig, zweiundzwanzig, vierundzwanzig. Sie sah nicht annähernd und wollte vielleicht auch nicht sehen, was sie ruhig ein wenig kritischer hätte unter die Lupe nehmen dürfen. Es ist ja nicht so, daß sie nicht gewarnt worden war. Selber schuld, kann sie nur sagen. Denn sie muß zugeben, vieles hat sie sich vorgemacht. Das große Glück zum Beispiel — wenn sie ehrlich ist, gab es das nie.

Und jetzt: Jetzt muß sie mit den Konsequenzen leben. Sie muß das Beste daraus machen, obwohl es keine leichte Aufgabe ist, Peter in seiner freundlichen, unbekümmerten, konsequent distanzierten, eingefleischt gleichgültigen Art zu lieben.

Fortsetzung: In seiner grundanständigen, gutmütigen, selbstgenügsamen, nein, anspruchslosen, in seiner alles verharmlosenden und vieles herunterspielenden, von Not und Krieg gelehrten, defensiven, kontaktscheuen undsoweiter undsoweiter —.