Aus der Verjüngung der Allee Richtung Neptun-Grotte dringt Gelächter und Geschrei. Augenblicke später biegen Jugendliche in Ingrids Gesichtsfeld, die sich auf italienisch unterhalten. Zwei Paare bilden sich. Ohne Musik tanzen sie im Walzerschritt die Allee herunter. Schnee quietscht unter ihren Füßen, sie lachen und stoßen» Auguri!«-Rufe aus. Cara bellt. Sissi schaut blauäugig, Philipp steht der Mund offen, ein wenig empört. Ingrid hat eine riesige Freude, sie strahlt mit den Jugendlichen, wirft ihren roten Schal, der gut zu ihren vielen Haaren paßt, zurück über die Schulter und dreht sich ebenfalls zweimal. Mit einem Luftpartner und der Zigarette in der Hand. Das erste Mal an diesem Tag, daß sie das Gefühl hat, der Boden unter ihren Füßen ist fest.
Wien und Walzer, früher (früher!) war das für sie ein Begriff.
Als die Laternen angehen, sind sie wieder zu Hause. Peter empfängt seine Familie unter der Tür, so kann Cara ins Haus und Tapser bis in die Küche machen. Ingrid, die ihren feuchten Mantel aufknöpft, bekommt einen Kuß, nicht gerade einen Kinokuß. Aber immerhin. Sie freut sich darüber, zumal sie vom geisterhaften Tanzen der Jugendlichen nach wie vor halb abwesend ist. Es kommt noch besser: Gefragt, was um Himmels willen in ihn gefahren sei, ob er den ganzen Marillensekt weggetrunken habe (er verneint), schwingt Peter sich zu dem Bekenntnis auf, daß er sich ein Leben ohne sie drei nicht mehr vorstellen könne. Auch das tut Ingrid gut, obwohl Peter damit zu verstehen gibt, daß er Frau und Kinder als Personalunion begreift.
Peter hilft den Kindern aus den Stiefeln. Er berichtet von den Telefonaten, die er geführt und entgegengenommen hat.
Er sagt:
— Trude läßt fragen, ob wir einen Kalender brauchen. Sie schickt uns einen.
— Das ist nett, daß sie an uns denkt.
Als Ingrid die Kinder in die Badewanne steckt, bringt Peter sogar eine Tasse Kaffee mit warmer aufgeschäumter Milch. Sehr aufmerksam. Er ist wie verwandelt.
Wie verwandelt? Natürlich, Ingrid kennt die dahintersteckenden Mechanismen aus jahrelanger Erfahrung. Für den Moment sind Peters Annäherungsversuche und Versöhnungsgesten trotzdem ganz angenehm. Sie ist ja immer schnell zu erweichen. Den Wunsch, daß es wieder besser wird, hat sie schon aus dem pragmatischen Grund, weil es die Kinder gibt. Sie hofft halt, daß keines von ihnen Peters partnerschaftliche Minderbegabung geerbt hat. Gleichzeitig hofft sie natürlich auch, daß die Zwanghaftigkeit, mit der Peter sich in Nebensachen vertieft, nicht an die beiden übergegangen ist. Damit würden die Ärmsten schlecht fahren.
Sie meint Peters Basteln in der Werkstatt und die Spiele, von denen er nicht abgelassen hat, bis ihm nichts anderes mehr übrigblieb. Schlagende Beispiele in puncto radikaler Nebensachen. Für Ingrid hatten die Spiele am Anfang Freiheit und Abenteuerlust und Kreativität und Wille zur Selbstbehauptung signalisiert. Aber bis auf die Sache mit der Selbstbehauptung hat Ingrid das ziemlich falsch eingeschätzt. In Wahrheit war es eine Fortsetzung des Tschick-Sammelns in der Erbsenzeit, ein während der ersten Nachkriegsjahre entstandenes, aus der Not geborenes, völlig ineffizientes, letztlich sinnloses Unternehmen, mit dem Peter sich beschäftigte, um größeren Plänen aus dem Weg gehen zu können.
Wer kennt Österreich?
Ingrid denkt: So langsam, doch, so langsam mache ich mir ein Bild.
Sie seift den Kindern die Köpfe ein und spült ihnen das feine, leichte Haar, wie es schon ihre eigene Mutter gemacht hat, als Ingrid und Otto gemeinsam in der Wanne saßen. An Otto erinnert Ingrid sich nicht mehr sehr gut. Aber sie weiß noch, daß ihre Mutter Otto Waschbär nannte und sie (Ingrid, Gitti) Iltis. Sie nennt Philipp Waschbär und Sissi Iltis. Die Kinder stoßen ihre schrillen Lacher aus, und weil Ingrid vom Dienst und vom Spaziergang ziemlich geschlaucht ist und weil sie von der Kälte ein wenig Kopfweh hat, überredet sie die beiden zu einem Wettbewerb, wer länger untertauchen kann. Die Kinder halten sich die Nasen zu und saugen auf Fertig!Los! mit aufgerissenen Mündern die Luft ein. Ehe sie mit den Hintern zur Badewannenmitte rutschen und mit den Oberkörpern unter Wasser fallen, kneifen sie fest die Augen zu. Ihre Gesichter mit den trompeterdicken Wangen sehen unter Wasser schlierig aus, verschwommen durch die Seife, perspektivisch vergrößert. Ingrid denkt an Fische, die man unter einer Brücke schwimmen sieht. Das Kreischen der Straßenbahn auf der Pötzleinsdorfer Straße ist jetzt ebenso vernehmbar wie das Ticken in der Gastherme.
Sie wiederholen das Spiel mehrmals. Einmal rufen die Kinder etwas unter Wasser, hinterher wollen sie wissen, ob Ingrid verstanden hat, was.
— Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän?
— Nein! kreischt Sissi.
— Also noch einmal.
Ingrid sitzt neben der Badewanne, sie nimmt einen Schluck vom Kaffee. Die Luftblasen platzen an der Wasseroberfläche. Dumpf und entstellt steigen die Stimmen der Kinder zu Ingrid auf und trotzdem verständlich.
— Popocatepetl?
— Nein!
Es plätschert alles so dahin, aber es plätschert sehr rasch. Es vergeht. Die Zeit ist einfach weg. Was habe ich gemacht? Die letzten sechs Monate? Im letzten Jahr? Bei den Kindern hat sich viel getan. Sissi kommt im nächsten Jahr ins Gymnasium, Philipp in die Schule, dann ist auch er aus dem Gröbsten raus. Aber bei mir? Alles, was geschieht, hat mit den Kindern zu tun. Die Jahre ordne ich Dingen zu, die nur indirekt mich betreffen. Früher habe ich Peter kennengelernt, und im nächsten Jahr habe ich maturiert, und in dem einen Jahr war meine erste Fehlgeburt, und wieder in einem anderen Jahr bin ich von zu Hause ausgezogen, und irgendwann habe ich promoviert. Jetzt werden die Kinder eingeschult und haben Scharlach undsoweiter. Und ich: lebe so nebenher.
Die Kinder müssen ihre Geschlechtsteile waschen, währenddessen erzählt Ingrid, daß im Tiergarten zu der Zeit, als Peter dort als Fotograf arbeitete, ein Seehund eingegangen ist, nachdem er den Fotoapparat eines sowjetischen Soldaten verschluckt hatte. Die sowjetischen Soldaten hätten Schlitzaugen gehabt wie Der kleine Wassermann in Philipps Lieblingsbuch (sein Haar, ob es grün ist? von Wasserlilien durchzogen, wenn er auf moosigen Karpfen zwischen Algenbäumen reitet).
Die Kinder sind beeindruckt, sie tauchen nochmals unter. Ingrid soll die Zeit nehmen. Sie sitzt da, ihr Blick ist auf die Uhr gerichtet, zehn Sekunden sind vergangen. Gleich wird Philipp hochschießen, daß das Wasser an alle Wände spritzt, und keuchen, ganz erschöpft und enttäuscht, daß ihn Sissi schon wieder geschlagen hat.
Es ist vielleicht das letzte Mal, daß die Kinder um die Wette tauchen, denkt Ingrid. Unten klingelt derweil das Telefon. Peter ruft nach ihr, und noch ehe die Kinder aus dem Wasser hochkommen, läuft Ingrid aus dem Bad und die Treppe hinunter. Sie geht davon aus, daß der Rest von dem, was an den Kindern noch schmutzig ist, von selbst sauber werden wird, indem es einweicht.
Es ist ihr Vater, der seine Glückwünsche zum Jahreswechsel deponiert, die Stimme belegt von all dem, was zwischen ihnen je gesagt worden ist, ergänzt um manches Wort, das er mit Peter gewechselt hat. Er beklagt sich im Auftrag von Alma (wie er behauptet), daß Ingrid zu Weihnachten nicht gekommen ist.
Ingrid klemmt den Hörer zwischen Ohr und Schulter und wischt sich die feuchten Hände am Kleid ab. Seit Peter und ihr Vater beim Auseinanderbauen der Wohnzimmermöbel handgreiflich geworden sind, hat sich der Kontakt zwischen dem dreizehnten und dem achtzehnten Bezirk auf ein Minimum reduziert.
— Weihnachten ist ein Fest des Friedens, Papa.
Ingrid ist nicht unfreundlich, aber hörbar distanziert.
(Das Singen, das Umarmen, das Küssen, das Die-Dankbare-Spielen und die blöden scheinheiligen Reden, sie will das alles nicht.)