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— Und ich brauche meinen Frieden ganz besonders.

Ihr Vater seufzt nachsichtig. So milde hat sie ihn schon lange nicht mehr erlebt. Er spricht eine weitere Einladung für den Neujahrstag aus. Doch da Ingrid auch das neue Jahr abseits der Pyrotechnik nicht mit Familienböllern und Knalleffekten beginnen möchte, stellt sie einen Besuch erst im Anschluß an den nächsten Nachtdienst in Aussicht.

Sie sagt es gleich:

— Ich komme besser allein.

Peter muß sie gar nicht fragen, und die Kinder, die sich bei den Großeltern langweilen, können das Schispringen genausogut zu Hause anschauen.

— Mutter wird enttäuscht sein. Sie würde die Enkel gerne wieder einmal sehen.

Nach einer Pause fragt er:

— Geht es dir gut?

— Ich denke, ja, so halbwegs. Ich bin halt ohne Unterbrechung beansprucht. Nichts Neues.

— Du mußt dich mehr schonen, rät Richard.

— Ich mich? Eher man mich.

Aber darauf geht ihr Vater nicht ein.

— Weißt du schon, auf welches Fach du dich spezialisieren wirst, wenn du mit dem —?

Das Wort Turnus fällt ihm nicht ein, und nach einiger Zeit sagt er:

— Mit dem post-graduate fertig bist?

— Gynäkologie.

(Wenn überhaupt.)

Er lacht. Ingrid hat den Eindruck, er will seinen überlegenen Humor demonstrieren, indem er sagt:

— Ich bin aufrichtig dankbar, sagen zu können, daß ich zwei Fächer bislang nicht in Anspruch genommen habe, die Gynäkologie und die Psychiatrie.

Anschließend redet ihr Vater eine Weile über den Linksruck nach der letzten Wahl, über den sich Alma insgeheim freue. Er läßt einfließen, daß diese Entwicklung ihm keineswegs, wie man vermuten könnte, das Gefühl gebe, er habe den Sinn seines Lebens verfehlt. Mittlerweile seien die einen wie die andern. Er berichtet von der Situation innerhalb der Partei. Die meisten Geschichten hört Ingrid zum zweiten oder dritten Mal, sie sagt aber nichts und hört sich alles brav an, das tut nicht weh. Einer der Vorteile der Jahre, die sie mit Peter verbracht hat, ist der, daß sie ein gewisses Gespür für das andere Geschlecht entwickelt hat. Niemand besser als ihr Vater, um das Gelernte anzuwenden.

Es vergehen fünf Minuten, dann gelingt es Ingrid, die Langatmigkeit der väterlichen Ausführungen freundlich abzuwürgen mit der Frage, was er zu Weihnachten verschenkt habe.

— Mama einen Safe von Wertheim und mir einen Feuerlöscher fürs Auto.

Das wird auch immer origineller. Aber immer noch besser als bei ihr, wo nur Dinge geschenkt werden, die ohnehin fällig sind.

– Übrigens, sagt Richard, Mutter läßt fragen, ob du genug Handtaschen hast.

— Man kann nie genug haben.

— Ja, natürlich.

Funkstille.

Peter kommt vorbei, auf dem Weg zwischen Wohnzimmer und Küche. Er berührt Ingrid am Hals. Es läuft ihr kalt den Rücken hinunter; ob angenehm oder unangenehm, kann sie nicht sagen. Ihr scheint aber, Peter ist eigens deshalb vom Fernseher aufgestanden.

Richard fragt:

— Und was macht ihr heute abend?

— Die Einladung an den Semmering, zu der sich Peter hat breitschlagen lassen, ist ausgefallen, weil dort alle krank sind. Wenn die Kinder jetzt noch zwei Stunden schlafen, gehen wir zum Chinesen, sonst bleiben wir zu Hause.

— Wirst du eine Ente essen?

Sie bläst hörbar die Luft aus.

— Weiß nicht, ich denke, ich habe noch Zeit mit meiner Wahl, bis ich im Lokal vor der Karte sitze.

— Na ja, wozu geht man zum Chinesen, wenn man keine Ente ißt?

Diese Art von Kritik ist Ingrid zu hoch beziehungsweise schüttelt sie derartige Kommentare mittlerweile ab, und übrig bleibt: Der Mann ist nicht mehr zu ändern, der wird nur immer noch besserwisserischer (und kann ihr den Buckel runterrutschen).

Oben rufen die Kinder, daß sie fertig sind.

— Sag Mama schöne Grüße und Prosit Neujahr.

— Mama will mit dir reden. Ich gebe sie dir.

— Hallo, Ingrid?

— Mama? Ich muß jetzt aufhören, die Kinder sitzen in der Badewanne und rufen nach mir. Ich komme am Dienstag.

Gewicht nackt:

Philipp

19,5 Kilogramm

Sissi

32 Kilogramm

Ingrid

62 Kilogramm

Peter föhnt den Kindern die Haare und füttert sie mit Broten ab. Ingrid stellt sich derweil unter die Dusche und hat Schuldgefühle, weil sie innerlich zumacht, sowie sie mit ihren Eltern zu tun bekommt. Es ist, als hätte sie ein abnormes Interesse daran, daß zwischen ihr und ihren Eltern alles bleibt, wie es ist. Klar, sie hat hinreichend Gründe, ihren Eltern die kalte Schulter zu zeigen. Doch gleichzeitig will sie nicht bestreiten, daß sie weder Zeit hat, das Verhältnis zu verbessern, noch ein Verlangen verspürt, sich mit einer eventuellen Verbesserung der Beziehung zusätzliche Verpflichtungen aufzuhalsen. Manchmal kommt es ihr vor, als ob sie vor allem aus Routine barsch und unleidig ist, damit man sie in Ruhe läßt. Wobei von Ruhe dann erst recht nicht die Rede sein kann, weil sie sich schuldig fühlt, sowie sie ihre Eltern abgebeutelt hat. Diese Schuldgefühle führen dazu, daß sie ihren Fehler gutmachen will; das hat weiterhin mit ihrem Ruhebedürfnis zu tun. Jetzt zum Beispieclass="underline" Beschließt sie, sofort nach dem Duschen unter einem Vorwand zurückzurufen und freundlicher zu sein. Doch davor schreckt sie gleichzeitig zurück, weil es wenig wahrscheinlich ist, daß sie sich hinterher besser fühlen wird. Wirst du dann zufrieden sein? Eingehüllt in Wasser und Dampf, kommt sie zu dem Schluß, daß sie der größte Egoist von allen ist.

Konter, Parade:

Nein, Ingrid, du dummes Huhn, du mußt dich von dieser idiotischen Vorstellung freimachen, denn das stellt alles auf den Kopf. Du kannst nicht für das Glück aller zuständig sein. Man braucht auch ein Minimum an Energie für sich. Denk dran, was in der Cosmopolitan stand, die vor einigen Wochen im Ärztezimmer lag: Man verwendet seine Energien für sich und den Rest, der verbleibt, für andere. Du machst es genau umgekehrt. Du bist eindeutig zuwenig egoistisch, das springt jedem sofort ins Auge. Statt daß du ständig nach Rechtfertigungen für dein eigenes Verhalten suchst, sollten besser die anderen sich an der Nase nehmen. Ist doch so? Oder?

Aber das schlechte Gewissen bleibt trotz des guten Zuredens, und Ingrid nimmt sich vor, wenigstens am Dienstag, wenn sie ihre Eltern besucht, einen Anfang zu machen. Nicht mehr als einen kleinen Anfang. Das tut nicht weh.

Ingrid trocknet sich ab und kleidet sich für den Abend. Bei dieser Gelegenheit kramt sie die Autogrammkarte von Paul Hörbiger aus ihrer Schublade und verbrennt sie in der Klomuschel. Sie kippt das Fenster, damit sich der Rauch verziehen kann. Dann geht sie nach unten, wo Peter im Spielzimmer für die Kinder den August macht. Philipp herzt Peter ein paarmal und drückt ihn, so daß Ingrid fast ein wenig eifersüchtig wird. Daß Peters Nichtstun ihm bei den Kindern soviel Ansehen einträgt, sobald er sich doch einmal herbeiläßt, mit ihnen zu spielen, ist ein Phänomen, das sich Ingrid nie erhellen wird. Aber bitte, sie erzieht die Kinder, Peter konsumiert sie.

— Ich möchte euer Idyll nicht stören, aber wenn ihr zwei (sie deutet auf Sissi und Philipp) nicht stantepede ins Bett geht, ist der Chinese gestrichen und auch das Bleigießen fällt ins Wasser. Also los, ich mein’s, wie ich’s sage.

Als dann während des Fernsehens ihr Feuerzeug runterfällt, bückt sich Peter unverzüglich, um es aufzuheben. Und als sie niesen muß, sagt er sofort:

— Zum Wohl.

Diese enorme Fürsorglichkeit macht sie fast stutzig. Seit dem Mittagessen, seit immerhin sechs Stunden, hat Ingrid kein Wort der Kritik mehr gehört, es gibt keine Rhetorik und keinen beleidigten Unterton. Peter sucht sogar Hautkontakt, wenn auch auf unbeholfene Art; wie er ihr das feuchte Haar hinters Ohr streicht. Doch da gute Absicht zweifellos vorhanden ist und Peter trotz allem nicht mehr zum Himmel stinkt als die meisten Männer, will sie nicht so sein und dem harmonischen Abend nicht im Weg stehen. Ein paar Mal beißt sie sich auf die Zunge und schluckt eine Bemerkung hinunter, die sie gerne losgeworden wäre. Aber bitte. Der Himmel wird es ihr vergelten, oder die Hühner werden lachen.