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»Lange vor meiner Zeit«, sagte Thomas Lieven. »Aha. Soso. Nun schön … Herr Oberst, nach Ihren Worten zu schließen, darf ich mich also als Finanzberater des französischen Geheimdienstes betrachten?«

»Ganz recht, Monsieur. Man wird Ihnen besondere Aufgaben übertragen.«

»Lassen Sie mich«, sagte Thomas, »bevor der Champagner kommt, rasch noch ein paar aufrichtige Worte verlieren. Trotz meiner relativen Jugend habe ich bereits gewisse Prinzipien. Sollten Sie diese unvereinbar mit meiner neuen Tätigkeit finden, dann bitte ich Sie, mich doch lieber auszuweisen.«

»Voilà, Ihre Prinzipien, Monsieur?«

»Ich weigere mich, eine Uniform zu tragen, Herr Oberst. Sie werden das vielleicht unverständlich finden, aber ich schieße nicht auf Menschen. Ich erschrecke niemanden, ich verhafte niemanden, ich quäle niemanden.«

»Aber ich bitte Sie, Monsieur, für solche Kleinigkeiten sind Sie uns doch viel zu schade!«

»Ich schädige und beraube auch niemanden – es sei denn innerhalb der erlaubten Grenzen meines Berufes. Aber auch dann nur, wenn ich mich davon überzeugt habe, daß der Betreffende es verdient.«

»Monsieur, seien Sie ohne Sorge, Sie werden Ihren Prinzipien treu bleiben können. Es ist allein Ihr Gehirn, auf das wir reflektieren.«

Emile kam mit dem Champagner.

Sie tranken, dann sagte der Oberst: »Ich muß allerdings darauf bestehen, daß Sie an einem Ausbildungskurs für Geheimagenten teilnehmen. Das verlangt unsere Betriebsordnung! Es gibt da viele raffinierte Tricks, von denen Sie noch nichts wissen. Ich will sehen, daß Sie schnellstens in eines unserer Speziallager kommen.«

»Aber nicht mehr heute nacht, Jules«, sagte Mimi und strich zärtlich über Thomas Lievens Hand. »Für heute nacht weiß er genug …«

Am frühen Morgen des 30. Mai 1939 holten zwei Herren Thomas Lieven bei seiner Freundin ab. Die Herren trugen billige Konfektionsanzüge mit ausgebeulten Hosen. Es waren unterbezahlte Unteragenten.

Thomas trug einen einreihigen schwarzgrauen Anzug mit Pepitamuster, weißes Hemd, schwarze Krawatte, schwarzen Hut, schwarze Schuhe und natürlich seine geliebte Repetieruhr. Er nahm einen kleinen Koffer mit.

Die ernsten Herren verfrachteten Thomas in einen Lastwagen. Als er ins Freie sehen wollte, stellte er fest, daß die Zeltplanen über der Ladefläche festgezurrt und dicht geschlossen waren.

Nach fünf Stunden tat ihm jeder Knochen weh. Als der Laster endlich hielt und die Herren ihn aussteigen ließen, sah Thomas sich in einer außerordentlich tristen Gegend. Ein hügeliges Gelände voller Steinbrocken war von hohen Stacheldrahtzäunen umgeben. Im Hintergrund, vor einem düsteren Wäldchen, erblickte Thomas ein verwittertes graues Gebäude. Am Eingangstor stand ein schwerbewaffneter Soldat.

Die beiden schlechtgekleideten Herren gingen zu dem feindselig blickenden Posten hinüber und wiesen eine Unzahl von Ausweisen vor, die der Soldat studierte. Indessen kam ein alter Bauer mit einem Holzfuhrwerk des Weges.

»Hast du’s noch weit, mein Alter?« fragte Thomas.

»Der Teufel soll’s holen. Sind noch gut drei Kilometer bis Saint Nicolas!«

»Wo ist denn das?«

»Na, da unten. Direkt vor Nancy.«

»Aha«, sagte Thomas Lieven.

Seine beiden Begleiter kehrten zurück. Der eine erklärte ihm: »Sie müssen entschuldigen, daß wir Sie im Lastwagen eingeschlossen haben. Strenger Befehl. Sie hätten sonst vielleicht die Gegend erkannt. Und Sie dürfen keinesfalls wissen, wo Sie sich befinden.«

»Aha«, sagte Thomas.

Das alte Gebäude war eingerichtet wie ein drittklassiges Hotel. Ziemlich popelig, dachte Thomas Lieven. Viel Geld scheinen die Herrschaften nicht zu haben. Hoffentlich gibt’s keine Wanzen. In Situationen kommt man!

An dem neuen Kursus nahmen außer Thomas noch siebenundzwanzig andere Agenten teil, hauptsächlich Franzosen, aber auch zwei Österreicher, fünf Deutsche, ein Pole und ein Engländer.

Der Leiter des Kurses war ein hagerer, blasser Mann von ungesunder Gesichtsfarbe, so geheimnisvoll und bedrückt, so überheblich und unsicher wie sein deutscher Kollege Major Loos, den Thomas in Köln kennengelernt hatte.

»Meine Herren«, sagte dieser Mensch zu der versammelten Agentenschar, »ich bin Jupiter. Für die Dauer des Kurses wird sich jeder von Ihnen einen falschen Namen zulegen. Sie haben eine halbe Stunde Zeit, dazu einen passenden falschen Lebenslauf zu ersinnen. Diese erfundene Identität müssen Sie von nun an unter allen Umständen verteidigen. Ich und meine Kollegen werden alles tun, um Ihnen zu beweisen, daß Sie nicht der sind, für den Sie sich ausgeben. Suchen Sie sich also eine Persönlichkeit zusammen, die Sie auch gegen unsere Angriffe verteidigen können.«

Thomas entschloß sich zu dem prosaischen Namen Adolf Meier. Er investierte niemals Phantasie in aussichtslose Unternehmen.

Am Nachmittag erhielt er einen grauen Drillichanzug. Auf der Brust war der falsche Name eingestickt. Die anderen Schüler trugen die gleiche Arbeitskleidung.

Das Essen war schlecht. Das Zimmer, das man Thomas zuwies, war scheußlich, das Bettzeug klamm. Vor dem Einschlafen ließ unser Freund immer wieder wehmütig seine geliebte Repetieruhr schlagen, schloß dazu die Augen und stellte sich vor, er läge in seinem schönen Bett in London. Um drei Uhr morgens wurde er durch wüstes Gebrüll aus dem Schlaf gerissen.

»Lieven! Lieven! Melden Sie sich endlich, Lieven.«

Schweißgebadet fuhr Thomas hoch und ächzte: »Hier!«

Im nächsten Moment bekam er zwei schallende Ohrfeigen. Vor dem Bett stand Jupiter, grinste dämonisch und sagte: »Ich dachte, Sie heißen Meier, Herr Lieven! Wenn Ihnen das in der Praxis passiert, sind Sie ein toter Mann. Gute Nacht. Schlafen Sie gut weiter.«

Thomas schlief nicht gut weiter. Er dachte darüber nach, wie er um neuerliche Ohrfeigen herumkommen konnte. Er fand es bald heraus. In den folgenden Nächten konnte Jupiter brüllen, so wüst er wollte. Stets wurde Thomas langsam wach, kam zu sich und beharrte sodann auf seiner falschen Identität: »Was wollen Sie von mir? Ich heiße Adolf Meier!«

Jupiter zeigte sich begeistert: »Eine phantastische Selbstbeherrschung haben Sie!«

Er wußte nicht, daß Thomas jetzt nachts nur genügend Watte in den Ohren hatte …

Die Schüler lernten mit Gift, Sprengstoff, Maschinenpistolen und Revolvern umgehen. Von zehn Schüssen, die Thomas abgab, saßen zu seiner Verblüffung acht im absoluten Zentrum der Scheibe. Er sagte benommen: »Zufall. Ich kann überhaupt nicht schießen.«

Jupiter lachte glucksend: »Können nicht schießen, Meier? Ein Naturtalent sind Sie!«

Von den nächsten zehn Schüssen saßen sogar neun im Zentrum, und Thomas meinte erschüttert: »Der Mensch ist sich selbst ein Rätsel!«

Diese Erkenntnis ließ ihn in der folgenden Nacht nicht schlafen. Er dachte: Was ist mit mir los? Ein Mann, der so wie ich aus seiner Bahn geschleudert wird, müßte doch eigentlich verzweifelt sein, saufen, mit Gott hadern, Selbstmord begehen. Also wirklich! Bin ich verzweifelt, saufe ich, verkomme ich, hadere ich, denke ich an Freitod?

Mitnichten.

Mir selber kann ich die furchtbare Wahrheit eingestehen: Das ganze Abenteuer beginnt mich zu unterhalten, macht mir Spaß, amüsiert mich. Ich bin noch jung. Ich habe keine Familie. Wer erlebt schon so etwas Verrücktes?

Französischer Geheimdienst. Das heißt, ich arbeite gegen mein Land, gegen Deutschland. Moment mal! Gegen Deutschland – oder gegen die Gestapo?

Na also.

Aber daß ich auch schießen kann … Nicht zu fassen! Ich weiß schon, warum mich das alles eher amüsiert als erschüttert: weil ich einen so überseriösen Beruf ausgeübt habe. Da mußte ich mich dauernd verstellen. Anscheinend kommt das hier alles meinem wahren Wesen viel mehr entgegen. Pfui Teufel, habe ich einen Charakter!