Er lernte morsen. Er lernte im Geheim-Code schreiben und einen Geheim-Code dechiffrieren. Zu diesem Zweck verteilte Jupiter zerblätterte Exemplare des Romans »Der Graf von Monte Cristo«.
Er erklärte: »Das System ist denkbar einfach. In der Praxis tragen Sie so ein Buch bei sich. Nun erhalten Sie eine Code-Meldung. Sie nennt zuerst drei Zahlen, die immer wechseln. Die erste Zahl nennt die Seite des Romans, die Sie zu benützen haben, die zweite Zahl die Zeile auf der Seite, die dritte den Buchstaben auf der Zeile. Dieser Buchstabe ist Ihr Ausgangspunkt. Von ihm aus beginnen Sie nach den angegebenen Code-Ziffern die anderen Buchstaben auszuzählen …«
Jupiter verteilte Zettel. Darauf standen verschlüsselte Botschaften.
Die halbe Klasse entschlüsselte sie richtig, die halbe Klasse versagte, darunter Thomas Lieven. Seine Bemühungen um den Klartext sahen so aus: »Twmxdtrrre illd m ionteff …«
»Noch einmal«, sagte Jupiter.
Sie versuchten es noch einmal mit dem gleichen 50 : 50-Resultat.
»Und wenn wir es die Nacht durch üben«, sagte Jupiter.
Sie übten es die Nacht durch.
Im Morgengrauen kamen sie darauf, daß an die Schüler aus Versehen zwei verschiedene Auflagen des Romans verteilt worden waren, nämlich die zweite und die vierte. Die Ausgaben unterschieden sich durch einige Kürzungen in der vierten. Die Kürzungen hatten eine gelinde Seitenverschiebung mit sich gebracht …
»So etwas«, sagte Jupiter bleich, aber fanatisch, »ist natürlich in der Praxis ausgeschlossen.«
»Natürlich«, sagte Thomas Lieven.
7
Dann veranstaltete Jupiter ein großes Fest, bei dem es sehr viel zu trinken gab. Ein glutäugiger, langwimperiger Schüler namens Hänschen Nolle – er hatte eine Haut wie Milch und Blut – betrank sich übermäßig. Am nächsten Tag wurde er vom Kursus ausgeschlossen. Mit ihm verließen der Engländer und ein Österreicher das Lager. Es hatte sich im Lauf der Nacht ergeben, daß sie nicht würdig waren, Geheimagenten zu sein …
In der vierten Woche wurde die Klasse in einen unwirtlichen Wald geleitet. Hier verblieben die Herren mit ihrem Lehrer acht Tage.
Sie schliefen auf dem harten Boden, waren den Unbilden der Witterung ausgesetzt und lernten, da der Proviant geplantermaßen nach drei Tagen ausging, sich von Beeren, Rinden, Blättern und eklem Getier zu ernähren. Thomas Lieven lernte es nicht, denn er hatte ähnliches vorausgesehen und etliche Konserven in die Schule eingeschmuggelt. Am vierten Tage genoß er noch belgische Gänseleberpastete. Zu einem Zeitpunkt, da sich die anderen Schüler bereits um das Viertel einer Waldmaus prügelten, bewahrte er darum eine stoische Ruhe, die ihm das Lob Jupiters einbrachte: »Nehmen Sie sich ein Beispiel an Herrn Meier, meine Herren. Ich kann nur sagen: Voilà, un homme!«
In der sechsten Woche führte Jupiter die Klasse zu einem tiefen Abgrund. Man stand auf einem schroffen Felsen und blickte in eine fürchterliche Tiefe, deren Grund von einem gazeartigen Gewebe verdeckt wurde.
»Runterspringen!« schrie Jupiter. Schaudernd drängten die Schüler zurück – bis auf Thomas. Seine Kollegen beiseite stoßend, rannte er los, schrie hurra und sprang in die Tiefe. Er hatte sich blitzschnell überlegt, daß der französische Staat wohl kaum viel Geld für seine körperliche und geistige Ertüchtigung ausgeben würde mit dem Endziel, ihn zum Selbstmord zu treiben. In der Tat gab es unter dem reißenden Gazestreifen denn auch mehrere elastische Gummibahnen, die seinen Sturz behutsam auffingen. Jupiter versicherte ekstatisch: »Sie sind mein bester Mann, Meier! Von Ihnen wird noch einmal die Welt sprechen!«
Womit er recht behalten sollte.
Einen einzigen Tadel seines Lehrers holte sich Thomas, und zwar, als Jupiter das Schreiben mit unsichtbaren Tinten lehrte, wozu man nicht mehr benötigt als eine Feder, Zwiebelsaft und ein rohes Ei. Da fragte Thomas wissensdurstig: »Bitte sehr, an wen wendet man sich in einem Gestapo-Gefängnis am besten, wenn man Zwiebeln, Federn und rohe Eier benötigt?«
Den Abschluß des Kurses bildete das »Große Verhör«. Zu mitternächtlicher Stunde wurden die Schüler brutal aus dem Schlaf gerissen und vor ein Tribunal der Deutschen Abwehr geschleppt. Dasselbe setzte sich aus den Lehrern des Kurses unter Vorsitz von Jupiter zusammen. Die den Schülern inzwischen wohlbekannten Instruktoren saßen in deutschen Uniformen hinter einem langen Tisch. Jupiter spielte einen Oberst. Die verkleideten Lehrer brüllten die Schüler an, ließen sie in grelle Scheinwerfer blicken und verweigerten ihnen eine Nacht lang Speise und Trank, was nicht schlimm war, denn alle hatten ein umfangreiches Abendessen hinter sich.
Mit Thomas ging Jupiter besonders streng zu Gericht. Er gab ihm ein paar Ohrfeigen, ließ ihn mit dem Gesicht zur Wand ausharren und drückte ihm einen kühlen Pistolenlauf ins Gesicht.
»Gestehen Sie!« schrie er ihn an. »Sie sind ein französischer Spion!«
»Ich habe nichts zu sagen«, antwortete Thomas heldenhaft. Also legten sie ihm Daumenschrauben an und drehten sie zu. Sobald Thomas den ersten leichten Schmerz verspürte, äußerte er »Aua!« Und sofort wurden die Schrauben wieder gelockert. Gegen sechs Uhr morgens verurteilten sie ihn wegen Spionage zum Tode. Jupiter forderte ihn ein letztes Mal auf, militärische Geheimnisse zu verraten, dann würde man ihm das Leben schenken.
Thomas spie dem Vorsitzenden vor die Füße und rief: »Lieber in den Tod!«
Also führten sie ihn wunschgemäß hinaus in einen schmutzigen Hof und stellten ihn im Morgengrauen an eine kalte Mauer und erschossen ihn ohne militärische Ehren, dafür aber nur mit Platzpatronen. Dann gingen sie alle frühstücken.
Thomas Lieven – fast ist es unnötig, dies besonders zu betonen – bestand den Kursus mit Auszeichnung. Jupiter hatte Tränen in den Augen, als er ihm ein entsprechendes Dekret und einen französischen Paß auf den Namen »Jean Leblanc« überreichte. »Glück auf, Kamerad! Ich bin stolz auf Sie!«
»Sagen Sie, Jupiter, wenn Sie mich jetzt so ziehen lassen, überkommt Sie da nicht Angst, ich könnte einmal in die Hände der Deutschen fallen und alles verraten, was ich hier gelernt habe?«
Lächelnd antwortete Jupiter: »Da gäbe es wenig zu verraten, alter Freund. Die Ausbildungsmethoden der Geheimdienste in aller Welt sind einander ähnlich! Sie stehen alle auf der gleichen Höhe. Sie bedienen sich alle der letzten medizinischen, psychologischen und technischen Erkenntnisse!«
Am 16. Juli 1939 kehrte Thomas Lieven nach Paris zurück und wurde von einer Mimi in Empfang genommen, die sich betrug, als wäre sie ihm tatsächlich sechs Wochen lang treu gewesen.
Am 1. August erhielt Thomas Lieven durch Vermittlung von Oberst Siméon eine komfortable Wohnung am Square du Bois de Boulogne. Von hier konnte er mit dem Wagen in fünfzehn Minuten seine Bank auf den Champs-Elysées erreichen.
Am 20. August bat Thomas Lieven den Oberst um Verständnis dafür, daß er nach allen Anstrengungen trotz der angespannten Weltlage mit Mimi zur Erholung nach Chantilly fahren wolle, dem Zentrum des Pferdesports und Ausflugsort der Pariser.
Am 30. August verkündete Polen die Generalmobilmachung.
Am Nachmittag des nächsten Tages machten Thomas und Mimi einen Spaziergang zu den Teichen von Commelle und dem Schloß der Königin Blanche.
Als sie gegen Abend in die Stadt zurückkehrten, sahen sie die Sonne blutrot im Westen versinken. An verträumten Villen der Jahrhundertwende vorbei schritten sie, Arm in Arm, über abgetretenes Kopfsteinpflaster, zu ihrem »Hôtel du Parc« in der Avenue du Maréchal Joffre.
Als sie die Halle betraten, winkte der Portier: »Voranmeldung aus Belfort, Monsieur Lieven!«
Wenig später hörte Thomas die Stimme von Oberst Siméon: »Lieven, sind Sie endlich da?« Der Oberst sprach deutsch und sagte gleich, warum: »Ich kann nicht riskieren, daß jemand in Ihrem Hotel mich versteht. Hören Sie zu, Lieven, es geht los.«
»Krieg?«
»Ja.«
»Wann?«
»In den nächsten achtundvierzig Stunden. Sie müssen morgen mit dem ersten Zug nach Belfort kommen. Melden Sie sich im ›Hôtel du Tonneau d’Or‹. Der Portier wird Bescheid wissen. Es handelt sich …«