Erst beim Frühstück begegnete Thomas der schönen Hélène wieder. Sie war blaß und nervös. Tiefe Schatten lagen unter den schönen Augen. »Kannst du mir verzeihen?«
»Ich will es versuchen, mein Kind«, sagte er mild.
»Und … und … und wirst du für uns arbeiten?«
»Auch das will ich versuchen.«
Sie stieß einen spitzen Freudenschrei aus. Als sie ihm um den Hals fiel, warf sie das Glas mit seinen weichen Eiern um. Er sagte: »Ich stelle natürlich meine Bedingungen. Ich will meinen Auftrag nicht von dir erhalten und nicht von deinem Chef, diesem Colonel Herrick, sondern vom ersten Mann des FBI.«
Sie begann zu lachen: »Von Edgar Hoover? Komisch, der will sich nämlich auch unbedingt mit dir unterhalten! Wir hatten den Auftrag, dich unter allen Umständen nach Washington zu bringen …«
Tja, wie es halt so geht im Leben!
Am 23. Mai 1957 saß Thomas Lieven im Restaurant des Rhein-Main-Flughafens. Er war reichlich unruhig. Seine Repetieruhr zeigte zwanzig Minuten nach sechs. Um dreiviertel sieben startete die Superconstellation, die ihn nach New York bringen sollte. Und dieser verdammte Agent namens Faber war immer noch nicht da! Diesen verdammten Agenten namens Faber hatte ihm Colonel Herrick beim Abschied in Zürich in Aussicht gestellt. – »Faber wird Sie zu Hoover geleiten.« – Und nun kam dieser Faber nicht! Wütend starrte Thomas zum Eingang des Flughafenrestaurants.
In diesem Augenblick trat eine junge Frau durch die Eingangstür. Thomas stieß ein leises Ächzen aus, eine heiße Woge brandete in ihm hoch, ein Prickeln zog über seinen ganzen Körper.
Die junge Frau kam direkt auf ihn zu. Sie trug einen roten Mantel, rote Schuhe und eine rote Kappe, unter der schwarzblaues Haar hervorquoll. Der Mund der jungen Frau war groß und rot, die Augen waren groß und schwarz. Die Haut des Gesichtes war sehr weiß. Indessen sein Herz rasend schlug, dachte Thomas: Nein, nein, nein! Barmherzigkeit! Das kann nicht sein, das gibt es nicht! Chantal kommt auf mich zu, meine gute, tote Chantal, die einzige Frau, die ich je geliebt habe. Da kommt sie und lächelt mich an. O Gott, aber sie ist doch tot, sie wurde doch erschossen in Marseille …
Die junge Frau trat an seinen Tisch. Thomas fühlte, wie ihm der Schweiß über den Rücken rann, als er sich schwankend erhob. Da stand sie, zum Greifen nah. »Chantal …« stöhnte er.
»Nun, Thomas Lieven«, sagte die junge Frau mit heiserer, rauchiger Stimme. »Wie geht’s?«
»Chantal …« stammelte er noch einmal.
»Was sagen Sie?«
Er holte Atem. Nein, sie war es nicht. Natürlich war sie es nicht. Was für ein Unsinn. Sie war kleiner. Zierlicher. Jünger. Ein paar Jahre jünger. Aber die Ähnlichkeit, diese phantastische Ähnlichkeit …
»Wer sind Sie?« fragte er mühsam.
»Ich heiße Pamela Faber. Ich fliege mit Ihnen. Entschuldigen Sie die Verspätung; mein Wagen hatte einen Defekt.«
»Sie … Sie heißen Faber?« Um Thomas drehte sich noch immer alles. »Aber Colonel Herrick sprach von einem Mann.«
»Colonel Herrick kennt mich nicht. Man sagte ihm etwas von einem Agenten. Da dachte er natürlich an einen Mann.«
Sie lächelte breit. »Kommen Sie nur, Herr Lieven. Unsere Maschine ist startbereit.«
Er starrte sie an wie eine Geistererscheinung. Und eine Geistererscheinung war Pamela Faber in der Tat. Eine süße, wehmütige Erinnerung, ein fernes Winken aus dem Reich der Toten …
In 6000 Meter Höhe über dem Atlantik sprachen sie dann miteinander, leise, vertraut, beinahe die ganze Nacht.
Pamela machte Thomas sentimental. Warum bewegte diese Frau ihn so? Bloß weil sie Chantal ähnlich sah? Was war es, das ihm das Gefühl gab, diese Pamela Faber seit Jahren zu kennen, mit ihr seit Ewigkeiten verbunden zu sein?
Sie hätte deutsche Eltern, berichtete Pamela, aber sie wäre in Amerika zur Welt gekommen. Seit 1950 arbeitete sie für den amerikanischen Geheimdienst. Wie sie dazu gekommen war? Pamela zuckte die Schultern. Sie antwortete ehrlich: »Hauptsächlich Abenteuerlust, glaube ich. Meine Eltern sind tot. Ich wollte reisen, fremde Länder sehen, etwas erleben …«
Thomas dachte: Etwas erleben. Fremde Länder sehen. Die Eltern tot. So hätte Chantal geantwortet, wenn man sie gefragt hätte, warum sie zur Abenteuerin wurde. Chantal, ach Chantal! Schrecklich, warum mußte diese junge Frau ihr bloß so ähnlich sein?
»Aber jetzt habe ich genug, wissen Sie. Das ist kein Leben für mich, ich habe mich geirrt. Oder ich bin schon zu alt.«
»Wie alt sind Sie denn?«
»Zweiunddreißig.«
»Ach Gott«, sagte er und dachte an seine achtundvierzig Jahre.
»Ich möchte aufhören. Heiraten. Kinder haben. Ein kleines Heim. Gut kochen für meine Familie.«
Heiser sagte Thomas: »Sie … Sie kochen gerne?«
»Es ist meine Leidenschaft! Warum sehen Sie mich so an, Herr Lieven?«
»Hrm! Nichts … nichts.«
»Aber Geheimdienste ziehen einen Teufelskreis, aus dem man nicht entlassen wird. Aufhören! Wer von uns kann aufhören? Können Sie es? Niemand kann es. Niemand darf es …«
2
Die Verzauberung, die in jener Nacht von Thomas Lieven Besitz ergriff, ließ ihn nicht mehr los. Sie wurde größer und größer, und er versank in ihr wie in einem Meer der Süßigkeit, in einer Wolke betäubender Düfte.
Von New York flog er mit Pamela Faber weiter nach Washington. Er beobachtete sie jetzt genau, mit klinischem Interesse geradezu. Sie besaß Chantals Ehrlichkeit, Gutmütigkeit, Tapferkeit. Sie besaß das Katzenhafte Chantals, ihre Wildheit, ihre Kraft. Aber sie war besser erzogen, sie war klüger. Thomas dachte: Warum tut mir das Herz bloß immer so weh, wenn ich sie ansehe?
Edgar Hoover, der 62jährige Leiter des amerikanischen Bundeskriminalamtes, empfing Thomas Lieven in seinem Amtssitz in Washington.
Die erste Begegnung dauerte nur wenige Minuten. Nach einer herzlichen Begrüßung meinte der untersetzte Mann mit den klugen, immer ein wenig melancholischen Augen: »Hier können wir nicht in Ruhe miteinander sprechen. Wissen Sie was? Miß Faber, Sie und ich machen uns ein schickes Wochenende. Ich habe in der Nähe ein Landhaus.«
Edgar Hoovers Landhaus lag im Staate Maryland, auf sanften, bewaldeten Hügelketten. Hier gab es viele gemütliche Häuser dieser Art. Das Refugium des ersten Kriminalisten Amerikas war mit schönen antiken Möbeln eingerichtet.
Händereibend meinte der FBI-Boß am Samstagmorgen beim Frühstück: »Ich denke, wir machen uns heute einen feinen Truthahn. Ist noch ein bißchen früh für Truthahn, aber ich habe unten im Dorf wunderschöne junge Tiere gesehen. Ich hole sie nachher. Preiselbeeren bringe ich auch mit.«
»Preiselbeeren?« Thomas runzelte die Stirn. Pamela – sie trug an diesem Morgen ein Holzhackerhemd und Blue jeans und sah aufregender aus denn je – erklärte Thomas lächelnd: »Hier ißt man Truthahn so, Mr. Lieven.«
»Pfui Teufel! Also, ich habe Truthahn immer …«
»… mit einer Füllung gemacht, nicht wahr?« Pamela nickte. »Meine Mutter auch. Die Füllung bestand aus durchgedrehter Truthahnleber und Gänseleber und …«
»… Kalbfleisch und Schweinespeck und Eigelb«, unterbrach Thomas sie aufgeregt. »Und dazu Trüffeln, die Schalen verrieben, die Trüffeln zerhackt, zwei Semmeln …«
»… und das Schweinefleisch muß fett sein!« Sie schwiegen plötzlich beide, sahen sich an und wurden rot.
Edgar Hoover lachte: »Na so etwas! Sie ergänzen sich ja phantastisch! Was, Mr. Lieven?«
»Ja«, sagte Thomas, »darüber denke ich schon die ganze Zeit nach …«
Zwei Stunden später standen sie dann in der Küche. Pamela half Thomas den Vogel reinigen und ausnehmen, sie half ihm bei der Zubereitung der Füllung. Wenn er nach dem Pfeffer greifen wollte, dann hatte sie den Pfeffer schon in der Hand. Wenn er zu der Ansicht kam, daß die Füllung zu dünn geriet, drehte sie bereits eine eingeweichte Semmel durch den Wolf.