Ach Gott, dachte Thomas. Ach, lieber Gott im Himmel!
Menu • Maryland, 25. Mai 1957
Thomas kocht für Amerika und
beschließt zu sterben …
Fleischbrühe mit Toast
Truthahn mit Trüffelfarce
Lemon Sponge Cake
Truthahn mit Trüffelfarce: Man nehme 150 Gramm mageres Schweinefleisch, 100 Gramm Kalbfleisch, 200 Gramm frisches Schweinefett, die Putenleber, 125 Gramm rohe Gänseleber, drehe alles durch den Wolf, bereite davon mit zwei eingeweichten, verrührten Semmeln und zwei Eigelb eine Farce. – Man gebe dazu die feingehackten Schalen von zwei Trüffeln, die zerschnittenen Trüffeln selbst, 125 Gramm geschnittene, in Butter angebratene Gänseleber, Salz, Pastetengewürz, einen Schuß Madeira. – Man fülle die Farce in den Truthahn, bestreue ihn mit Salz, umwickle die Brust mit nicht zu dünnen Scheiben frischem Speck, entferne sie eine halbe Stunde vor dem Fertigwerden, damit die Brusthaut bräunen kann. – Man gebe in eine Bratpfanne reichlich Butter und etwas kochendes Wasser, lege den Vogel auf der Seite liegend hinein, wende öfters von einer Seite auf die andere und begieße häufig, lege den Truthahn aber erst in der letzten halben Stunde auf den Rücken. Die Bratzeit richtet sich nach seiner Größe. – Man kann die Trüffelfarce auch nur in den Kropf füllen, für den Körper eine einfachere Farce verwenden, dabei statt der Gänseleber Kalbsleber nehmen. – Man reiche als Beilage kleinkörnigen gelben Büchsenmais, in Butter geschwenkt, eine Preiselbeersauce und einen Bratensalat. Man schneidet dazu rohe Äpfel, Apfelsinen und weichgekochten Sellerie in Würfel, vermischt sie mit Mayonnaise und geraspelter Kokosnuß.
Lemon Sponge Cake: Man nehme zwei Tassen Zucker, sechs Eier, eine halbe Tasse heißes Wasser, zwei Eßlöffel Zitronensaft, die abgeriebene Schale einer Zitrone und zwei Tassen Mehl. – Man rühre die Eigelb schaumig, füge Zucker, heißes Wasser, Zitronensaft und -schale und das Mehl hinzu, ziehe zuletzt den steifen Eischnee darunter. Man gebe die Masse in eine Springform und backe sie bei mittlerer Hitze 45–50 Minuten. – Man kann den Kuchen, kalt oder warm, mit einem Fruchtsaft servieren.
Pamela sagte: »Die Brust des Truthahns wickeln wir in Speck ein, das hat meine Mutter auch immer gemacht.«
»In frischen, fetten Speck hat Ihre Frau Mama die Brust gewickelt?« Thomas strahlte. »Meine auch! Und daran gelassen bis eine halbe Stunde vor dem Fertigbraten!«
»Damit die Brust nicht trocken wird, natürlich.«
Thomas hielt das Hinterteil des Truthahns hoch, während Pamela flink und geschickt jene natürliche Öffnung zunähte, durch welche die Füllung in das Innere des Tieres geraten war.
Hoover, der zusah, sagte langsam: »Mr. Lieven, Sie können sich natürlich denken, daß wir Sie nicht nach Amerika gebracht haben, bloß weil Sie so gut kochen.«
»Sondern?« fragte Thomas und drehte den Truthahnpopo hin und her.
»Sondern weil Sie Frau Dunja Melanin kennen.«
Thomas ließ den Truthahn auf den Tisch fallen.
»Na!« meinte Pamela.
»Pardon!« Thomas hob das Tier wieder auf. »Wo … wo ist die Dame?«
»In New York. Sie war doch Ihre Geliebte, nicht wahr?«
»Ja … das heißt …« Thomas fühlte Pamelas Blick auf sich ruhen; er starrte krampfhaft den Truthahnhintern an. »Sie bildete sich ein, mich zu lieben …«
Hoover stand auf. Er sprach jetzt sehr ernst: »Wir wissen, daß in New York seit langer Zeit ein mächtiger russischer Spionagering arbeitet. Wir wissen nicht, wie. Wir wissen nicht, wer ihm alles angehört. Vor drei Wochen aber hat sich ein Mitglied des Ringes bei unserer Pariser Botschaft gestellt. Ein gewisser Mr. Morris. Er war der letzte Geliebte von Frau Melanin …«
Vorsichtig legte Thomas den Truthahn wieder auf den Tisch. »Sie müssen nicht weitersprechen, Mr. Hoover«, sagte er freundlich. »Ich werde mein Bestes tun. Unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
Thomas sah den melancholischen Kriminalisten an. Er sah den leckeren Truthahn an. Er sah Pamela an, die mit befleckten, nassen Händen dastand, erhitzt, wunderschön, begehrenswert. Freundlich sagte Thomas: »Die Bedingung wäre, daß ich nach Beendigung meiner Mission sterben darf.«
3
Am frühen Morgen des 21. November 1957 fanden spielende Kinder auf dem weißen Strand des Fischerdorfes Cascais vor Lissabon bunte Muscheln, Seesterne, halbtote Fische und einen toten Herrn. Er lag auf dem Rücken. Sein Gesicht trug einen erstaunten Ausdruck, sein Körper einen außerordentlich modischen, wenn auch schon arg aufgeweichten grauen Kammgarnanzug. Schwarze Halbschuhe und Socken, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte besaß der tote Herr. Nahe dem Herzen wies das Hemd ein kreisrundes Loch und einen riesigen Blutfleck auf. Auch das Jackett hatte einiges abbekommen. Offensichtlich war der Herr mit Hilfe einer Kugel – und keiner zu kleinen – aus dieser Welt in eine andere, angeblich bessere, befördert worden.
Kreischend entflohen die Kleinen, nachdem sie die Leiche entdeckt hatten. Fünf Minuten später kamen Fischer und Fischerinnen herbeigeeilt. Sie umringten den toten Herrn erregt.
Ein alter Mann sprach zu seinem Sohn: »Sieh nach, José, ob dieser Herr einen Paß bei sich trägt.« José kniete neben dem Toten nieder und sah nach. Dieser Herr trug vier Pässe bei sich.
Ein anderer alter Mann sagte: »Den Kerl kenne ich!« Im September 1940, vor siebzehn Jahren, erzählte er sodann, hätte er gegen gute Bezahlung bei der Entführung eines eleganten Herrn durch deutsche Agenten mitgewirkt. Der alte Mann war damals Steuermann eines Fischkutters gewesen: »… sie haben den da irgendwo in der Stadt niedergeschlagen und bewußtlos hier runtergebracht, und dann haben wir ihn an Bord verstaut und sind aufs offene Meer rausgefahren. Vor der Dreimeilenzone, haben mir die Deutschen erzählt, würde ein deutsches U-Boot warten und den Herrn übernehmen. Es hat ihn nur nicht übernommen. Etwas ist dazwischengekommen.« Der alte Mann erzählte, was. Der geneigte Leser weiß es schon.
»Sie haben immer von ihm als einem ›Kaufmann Jonas‹ gesprochen«, erzählte der alte Steuermann.
Sprach der andere alte Mann: »Sieh nach, José, ob der tote Herr einen Paß auf den Namen Jonas bei sich trägt.«
José sah nach. Der tote Herr trug. Auf den Namen Emil Jonas, Kaufmann aus Rüdesheim.
»Wir müssen sofort die Polizei verständigen«, sagte José.
4
»Schreiben Sie, Fräulein«, sagte der Kommissar Manuel Vayda vom Morddezernat Lissabon zu seiner Sekretärin und diktierte: »Bei dem am Strand von Cascais aufgefundenen Toten handelt es sich um ein ausgesprochen männliches – hrm, streichen Sie ausgesprochen –, um ein männliches Wesen von 45 bis 50 Jahren. Der beiliegende polizeiärztliche Befund, hm, hm, erkennt auf Tod durch Erschießen mit einer amerikanischen 9-Millimeter-Armeepistole … Absatz.
In den Kleidern des Toten – haben Sie, Fräulein? – wurden gefunden: 891 Dollar und 45 Cent, zwei Rechnungen aus New Yorker Lokalen, eine Rechnung des New-Yorker Hotels ›Waldorf-Astoria‹, ein deutscher Führerschein, ausgestellt auf die Namen Thomas Lieven, eine altmodische goldene Repetieruhr sowie vier Pässe: zwei deutsche auf die Namen Thomas Lieven und Emil Jonas sowie zwei französische auf die Namen Maurice Hausér und Jean Leblanc … Absatz.
Fotografien von Jean Leblanc beziehungsweise Emil Jonas, die sich im Archiv der Kriminalpolizei befinden, stimmen miteinander überein. Sie entsprechen genau den Fotografien in den vier Pässen des Toten. Aus all dem kann wohl mit Recht der Schluß gezogen werden, daß es bei dem Ermordeten um den Agenten Thomas Lieven handelt, der in den letzten Jahren soviel von sich reden machte. Er ist ohne Zweifel einer Agentenrache zum Opfer gefallen. Die Aufklärung des Falles wird mit aller Energie vorangetrieben … So ein Quatsch. Als ob schon jemals ein Agentenmord aufgeklärt worden wäre! Der Mörder ist doch längst über alle Berge … Sagen Sie mal, Fräulein, Sie sind wohl wahnsinnig geworden? Was ist Ihnen denn eingefallen, meine letzten Sätze mitzuschreiben?«