Hayhanem, alias Morris, bestand alle Prüfungen. Am 14. April 1952 meldete er sich, mit einem hervorragend gefälschten amerikanischen Paß versehen, auftragsgemäß bei Michael Svirin, dem Sekretär der sowjetischen UNO-Delegation in New York. Der traf ihn unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln, gab ihm Geld und erklärte ihm: »Sie nehmen Kontakt mit Mr. Mark auf. Wir werden uns nie wiedersehen. Für mich existieren Sie von dieser Stunde an ebensowenig, wie für mich offiziell Mr. Mark existiert. Sie können nicht damit rechnen, daß ich Ihnen jemals helfe. Ich bin Diplomat, ich darf mit Ihnen nichts zu tun haben.«
»Und wie soll ich Mark erkennen?«
»Er wird Sie anrufen. In Ihrem Hotel. Ich gebe Ihnen hier eine kleine, geschnitzte Pfeife. Die tragen Sie als Erkennungszeichen im Mund, wenn Mark Ihnen den Treffpunkt mitgeteilt hat.«
Diesen Treffpunkt gab Mark drei Tage später in einem Telefongespräch bekannt: »Seien Sie pünktlich um 17 Uhr 30 im Klosett des RKO-Kinos in Flushing.«
Das Klosett! Wohl kein Agentendienst der Welt könnte ohne diese Örtlichkeit auskommen! Pünktlich um halb sechs Uhr an diesem Tag suchte Morris die erwähnte Lokalität auf. Aus einer Kabine trat ein Mann von etwa 45 Jahren: groß, beinahe kahl, mit skeptischem, geistreichem Gesicht, großen Ohren, schmalen Lippen und einer randlosen Brille. Er trug einen Flanellanzug und ein blaues Künstlerhemd, keine Krawatte. Er sah Morris an. Er sah die kleine, seltsam geformte Pfeife an, die Morris im Mundwinkel hing. Er nickte kurz und sagte: »Auf die Minute, Morris …«
7
»… Mark nickte kurz und sagte: ›Auf die Minute, Morris‹«, erzählte FBI-Chef Edgar Hoover dem aufmerksam lauschenden Thomas Lieven. Ernst saß Pamela Faber neben ihm. Alle drei rauchten und tranken schwarzen Kaffee und französischen Kognak. Das große Truthahnessen war vorüber.
Hoover zündete eine dicke, lange Zigarre an und blies eine Wolke süßen Rauch aus. »Lassen Sie mich weiterberichten: Morris und Mark vertrugen sich überhaupt nicht. Sie waren einander vom ersten Moment an unsympathisch. Aber sie mußten miteinander auskommen …«
Ja, auskommen miteinander mußten sie nun! Mark gab Morris an jenem Nachmittag im Waschraum des RKO-Kinos Geld, einen Code-Schlüssel und besprach die Tarnung: Morris sollte ein Fotostudio eröffnen, damit die Behörden sich keine Gedanken darüber machten, wovon er lebte. Ferner gab Mark bekannt, wo und auf welche Weise Morris seine geheimen Nachrichten deponieren und abholen mußte.
Die Nachrichten – Mikrofilme, nicht größer als ein Stecknadelkopf – sollten in Geldstücken, alten Papiertaschentüchern oder Orangenschalen verborgen werden. Mit Hilfe kleiner magnetischer Plättchen konnte man sie unter Bänken, öffentlichen Telefonapparaten, Abfallkübeln oder Briefkästen befestigen.
»Die Arbeit funktionierte klaglos«, berichtete Hoover. »Morris konnte, wie gesagt, Mark nicht leiden, aber er erfüllte seine Aufträge trotzdem erstklassig.«
»Was für Aufträge zum Beispiel?«
»Leider sehr wichtige«, sagte Hoover seufzend. »Nach allem, was Morris in Paris erzählte, dürfen wir uns keine Illusionen machen. Die Sowjets verdanken der ›Organisation Mark‹ ungeheure Kenntnisse! Zum Beispiel hat Morris, nach seiner eigenen Aussage, im Raketenzentrum New Hyde Park spioniert.«
»Und es gab niemals einen Zwischenfall, eine Panne?« fragte Thomas.
»Doch, einmal. Und diese Panne lieferte uns wenigstens den Beweis dafür, daß Morris mit dem, was er nun gestand, nicht lügt. Hier ist der Beweis.« Hoover legte ein abgegriffenes 5-Cent-Stück vor Thomas auf den Tisch. »Heben Sie es auf, und lassen Sie es fallen.«
Thomas hob das Geldstück auf und ließ es fallen. Es sprang entzwei. Die Münze war innen ausgehöhlt. Auf dem Boden der einen Seite klebte ein winziges Stück Film.
»Dieses Stück Mikrofilm«, sagte Hoover, »enthält eine Code-Mitteilung von Mark. Seit vier Jahren versuchen die besten Köpfe des FBI, diese Nachricht zu entschlüsseln – umsonst.«
»Wie kam diese Münze in Ihren Besitz?« fragte Thomas.
»Durch einen reinen Zufall«, sagte Edgar Hoover. »Ein kleiner Zeitungsjunge namens James Bozart fand sie 1953 …«
An einem heißen Abend im Sommer 1953 rannte ein kleiner, sommersprossiger Zeitungsjunge namens James Bozart, was haste, was kannste, durch das Treppenhaus einer Mietskaserne im New Yorker Stadtteil Brooklyn.
Wummmm!
Nun war er doch tatsächlich der Länge nach hingeschlagen. Das ganze Geld war ihm aus der Tasche geflogen. So ein Pech! Leise fluchend machte James sich daran, seine Habseligkeiten einzusammeln. Plötzlich bekam er dabei ein 5-Cent-Stück in die Finger, das sich komisch anfühlte – so komisch …
James drehte es ein bißchen hin und her. Da zerfiel es in zwei Teile. Auf der Innenseite des einen Teils erblickte James einen dunklen Punkt. Na so was! Erst vor ein paar Tagen hatte James einen Spionagefilm gesehen. Da waren Mikrofilmbotschaften in Zigarettenetuis versteckt worden. War das hier vielleicht ein Mikrofilm?
James Bozart – die amerikanische Nation weiß ihm heute ewigen Dank dafür – trug seinen Fund zunächst zur nächsten Polizeiwache. Postenchef Milley lachte den Jungen aus, aber Sergeant Levon sagte: »Laß mal, Joe. Schicken wir das Ding dem FBI. Wer weiß, vielleicht kommen wir alle in die Zeitung!«
Keiner von ihnen kam in die Zeitung – damals. Aber zwei Agenten des »Federal Bureau of Investigation« besuchten den kleinen James daheim. Sie fragten ihn aus. Wo war er hingefallen?
In der Fulton Street 252. Das war eine Riesenmietskaserne. Die unteren Lokalitäten waren zu Geschäften ausgebaut worden. Im ersten und zweiten Stock hatten sich Firmen etabliert. Weiter oben wohnten Junggesellen, Künstler und kleine Angestellte. Außerdem unterhielt das FBI in diesem Mammuthaus ein Büro.
Die Agenten des FBI durchleuchteten jeden Bewohner des Hauses Fulton Street 252 nach Strich und Faden. Es kam nichts heraus dabei.
Jahre vergingen. Die Botschaft auf dem Mikrofilm blieb unentziffert, ihr Verfasser unentdeckt. Immer deutlicher bekamen es die Männer, die für die nationale Sicherheit Amerikas verantwortlich waren, in diesen Jahren zwischen 1953 und 1957 zu spüren: Ein unheimlicher Spionagering umschloß ihr Land, bedrohte es mehr und mehr.
»In diesen Jahren«, berichtete Edgar Hoover in seinem stillen Landhaus Thomas Lieven, »muß Morris immer mehr verkommen sein. Nachdem er Dunja Melanin getroffen hatte, wurde es ganz schlimm mit ihm. Er prügelte sie, sie prügelte ihn. Mark muß einen Bericht nach Moskau geschickt haben, denn Morris wurde plötzlich abberufen. In Paris ging er zur amerikanischen Botschaft, bat um Schutz und erzählte alles, was er wußte.«
»Es scheint mir, trotz allem, nicht sehr viel zu sein«, sagte Thomas.
»Es ist nicht genug«, sagte Hoover. »Aber es ist eine ganze Menge. Denn obwohl dieser geheimnisvolle Mark alles tat, um vor Morris geheimzuhalten, wo er wohnte, gelang es diesem doch einmal, ihn heimlich zu verfolgen. Und nach seiner Aussage wohnt Mr. Mark – wissen Sie, wo?«
»Da Sie es so spannend machen, nehme ich an, in der Fulton Street 252.«
»Richtig«, sagte Edgar Hoover. »In dem Haus, in dem der kleine James Bozart vor vier Jahren hinfiel und die Münze fand …«
Danach war es eine Weile still im Zimmer. Thomas stand auf und trat ans Fenster. Er sah hinaus auf die weite, liebliche Landschaft.
Edgar Hoover sagte: »Ein Stab meiner Beamten, darunter Miß Faber, hat in den letzten Wochen jeden Bewohner des Hauses noch einmal unter die Lupe genommen. Die Beschreibung, die Morris von Mark gab, paßt genau auf den beliebtesten Mieter. Er ist Maler. Lebt ganz oben, unter dem Dach. Und heißt Goldfuß. Emil Robert Goldfuß. Amerikanischer Bürger. Seit 1948 wohnhaft in der Fulton Street 252. Erzählen Sie weiter, Miß Faber.«