Um 17 Uhr 15 zwangen Thomas Lieven und ein stämmiger FBI-Agent zwei Beamte, im Geburtenregisteramt von Manhattan Überstunden zu machen. Nach einer langen Weile kam einer der beiden angeschlurft, blies den Staub von einer vergilbten Registerkarte und knurrte: »Martin Collins … Collins, Martin – was ist das für ein Quatsch? 32 027, Strich, 7, Strich, 71 897, sagen Sie?«
»Sage ich, ja«, sagte Thomas.
Der Beamte sah auf: »Also hören Sie mal zu, mein Herr. Der Geburtsschein 32 027, Strich, 7, Strich, 71 897 wurde am 4. Januar 1898 für eine gewisse Emilie Woermann ausgestellt. Und die ist am 6. Januar 1902 im Alter von vier Jahren gestorben. An Lungenentzündung.« Thomas sah den FBI-Mann an. Er sagte leise: »Jetzt haben wir unsern Freund.«
11
An der Tür war eine Messingplatte festgeschraubt. Darauf stand:
EMIL ROBERT GOLDFUSS
Die Tür befand sich im obersten Stockwerk des gewaltigen Mietshausblocks Fulton Street 252. Zwei Männer standen am 21. Juni 1957 um 19 Uhr 06 vor dieser Tür. Der eine zog eine Pistole aus dem Schulterhalfter und entsicherte sie. Der andere zog eine altmodische goldene Repetieruhr aus der Tasche. »Komisch«, sagte Thomas Lieven. »Erst sieben, und ich bin derartig hungrig!« Dann klopfte der FBI-Mann an die Tür, trat zur Seite und hielt die Pistole vor …
Die Tür ging auf. Ein hagerer Mann in blauem Malerkittel, eine Palette in der Hand, stand in ihrem Rahmen. Er lächelte gewinnend, strahlte Sympathie und Klugheit aus. Auf die Pistole des FBI-Agenten blickend, sagte er: »Was soll das, mein Herr? Ist das ein Scherz? Eine Reklame? Ein Präsent?«
»Mr. Goldfuß oder Mark oder Collins«, sagte der FBI-Agent, »oder wie immer Sie sich nennen wollen – Sie sind verhaftet.«
»Verhaftet von wem?«
»Vom FBI.«
Der Maler sprach freundlich: »Sie können mich nicht verhaften, mein lieber Herr. Ich habe keine strafbare Handlung begangen, und Sie haben auch keinen Haftbefehl.«
»Doch, doch, Mr. Goldfuß, wir haben«, sagte Thomas und trat näher. Auch er lächelte gewinnend.
»Wer sind Sie?«
»Ein Freund des Hauses«, antwortete Thomas. »Des FBI-Hauses, meine ich. Sehen Sie, Mr. Goldfuß, für Sie lag seit Tagen ein Haftbefehl vor. Wir mußten nur noch einen hübschen Verhaftungsgrund finden und ihn einsetzen. Gestern haben wir einen sehr hübschen gefunden, einen falschen Geburtsschein …«
Aus dem Stockwerk unter dem Atelier kamen plötzlich zwei Männer herauf, weitere zwei Männer kamen vom Dachboden herab.
Thomas sagte: »Wir haben diese lieben Freunde mitgebracht, weil wir natürlich wissen, daß Sie nicht nur ein charmanter Geburtsscheinfälscher sind.«
»Sondern?«
»Sondern vermutlich der beste Agent, den die Sowjets jemals besaßen. Und ich mache nie übertriebene Komplimente«, sagte Thomas Lieven lächelnd.
Mr. Goldfuß erwiderte dieses Lächeln. Die beiden Herren sahen einander schweigend an. Der Blick hielt …
Die Atelierwohnung wurde sogleich durchsucht. Die Männer des FBI fanden den Geburtsschein auf den Namen Martin Collins, Papiere auf den Namen Goldfuß, 3545 Dollar in bar, eine Schiffspassage nach Europa auf den Namen Collins, gebucht für den 1. Juli 1957, und einen starken Kurzwellensender des Typs »Hallicrafter«, der völlig offen zwischen zwei Gemälden stand.
Die Männer des FBI halfen Mr. Goldfuß beim Packen eines kleinen Koffers. Dabei beobachtete Thomas, daß Mr. Goldfuß ein paar offensichtlich benutzte Papiertaschentücher fortwarf. Thomas nahm die zusammengeknüllten Tücher wieder aus dem Papierkorb. Leichenblaß wurde plötzlich Mr. Goldfuß. Thomas Lieven öffnete die Taschentücher behutsam. Kleine dunkle Punkte, unscheinbar wie Fliegendreck, befanden sich darauf.
»Hm«, machte Thomas. Zwanzig Jahre lang von Geheimdiensten der verschiedensten Länder sowohl ausgebildet wie am Leben bedroht, hatten ihn hellwach werden lassen. Das war kein Fliegendreck …
Zwei Tage später hatte Amerika eine Sensation. Der gefährlichste russische Agent aller Zeiten war dingfest gemacht worden. Mikrofilme, die er in alten Papiertaschentüchern versteckt hatte, verrieten seinen komplizierten Code-Schlüssel, seinen wahren Namen, seine wahre Geschichte.
Oberst im sowjetischen Geheimdienst war dieser Mann, der zehn Jahre lang ungestört und unbeargwöhnt in den Staaten hatte spionieren können. Und er hieß: Rudolf Iwanowitsch Abel.
Am Abend des 23. Juni 1957 tickten Fernschreiber die Meldung über seine Verhaftung und Bedeutung an Zeitungsredaktionen auf fünf Kontinenten und in alle Welt hinaus. Und auch in den folgenden Tagen und Wochen machten die Taten des Oberst Rudolf Iwanowitsch Abel Schlagzeilen. Viel über ihn erfuhr die Welt, jedoch bei weitem nicht alles. Zum Beispiel erfuhr sie niemals etwas von jenem Mittagessen, zu welchem sich ein heiterer Herr und zwei ernste Herren niedersetzten. Das war am 17. August 1957 in einem gemütlichen Blockhaus auf den idyllischen, bewaldeten Hängen des US-Staates Maryland …
»Meine Herren«, sprach Thomas Lieven heiter, »warum sind Sie so ernst?« Er sah Edgar Hoover an, den Chef der amerikanischen Bundeskriminalpolizei. Er sah den braungebrannten, 40jährigen James B. Donovan an, dessen Haar bereits völlig weiß leuchtete. Donovan war Verteidiger des Meisterspions Abel in dem bevorstehenden Prozeß.
Thomas kam aus der Küche. Er trug ein Tablett mit einem großen Tiegel und allerlei Utensilien. Während er das Tablett abstellte und einen Spirituskocher in Gang setzte, der neben der gedeckten Tafel auf einem kleinen Tischchen stand, beantwortete er seine Frage selbst: »Nun wohl! Sie sind wahrscheinlich so ernst, weil Sie sich an jene Zeit im Kriege erinnern, da Sie sich als Chefs von zwei konkurrierenden Spionageunternehmen dauernd in die Wolle bekamen, wie?«
Er schien ins Schwarze getroffen zu haben. Hoover grunzte, Donovan räusperte sich ärgerlich. In der Tat war der Strafverteidiger im Krieg Offizier in geheimer Mission des berühmten »OSS«, des »Office for Strategy Services«, gewesen. Bei verschiedenen Aktionen waren er und seine Leute mit Leuten von Hoovers FBI kollidiert.
Thomas setzte den Tiegel auf den Spirituskocher und blieb heiter. »Nehmen Sie Platz, meine Herren! In weiser Voraussicht Ihrer Gemütsverfassung habe ich mir erlaubt, ein Vorgericht zu erfinden und zuzubereiten, das die Nerven beruhigt, den Geist beschwingt, die Laune hebt.«
Thomas bewegte den Tiegel über der Flamme. Im Tiegel befanden sich kleine Kalbsnierenwürfel, leicht angebraten. »Möge uns diese Speise unserm Ziel näher bringen.«
»Was ist das für ein Ziel?« knurrte Donovan mißtrauisch.
Kognak über die Nieren gießend, antwortete Thomas bedächtig: »Ihrem Mandanten und den Vereinigten Staaten von Amerika zu helfen.«
Hoover sah Donovan an. »Abel kommt auf den elektrischen Stuhl, das ist klar. Wir haben mehr als genug Beweismaterial gegen ihn.«
Donovan zuckte die Schultern. »Da bin ich aber gespannt, wie Sie beweisen wollen, daß mein Mandant ein Sowjetspion ist.«
Thomas schüttelte den Kopf. »Ein Elend. Eine solche Verschwendung von einmaligem Talent. Ein Jammer. Wirklich ein Jammer!«
»Was?«
»Zu denken, daß ein Mensch wie Abel auf dem Stuhl verschmoren soll.«
»Wenn Sie freundlicherweise vor dem Essen ein bißchen taktvoller sein wollten, Mr. Scheuner.«
»O pardon! Aber mir blutet wirklich das Herz. Abel ist nicht nur begabt, er ist ein Genie!«
»Na, na, na …«
»Was heißt na, na, na? Darf ich Sie daran erinnern, Mr. Donovan, daß Sie als OSS-Agent während des Krieges in der Schweiz zu arbeiten versuchten? Schon nach sechs Monaten hatten die Schweizer das spitz und feuerten Sie hinaus. Und Abel? Zehn Jahre hat er in den Staaten gearbeitet, ohne entdeckt zu werden!«
»Halten Sie mal die Luft an.« Donovan sah von Thomas zu Hoover. »Ihr wollt doch was. Offiziell könnt ihr es mir offensichtlich nicht vorschlagen. Also kommt ihr hintenherum. Raus mit der Sprache, was ist es?«