Sie ging vor mir. Auf hohen Absätzen. In einem engen beigefarbenen Kostüm. Sie hatte blauschwarzes Haar. Eine herrliche Figur. Mit Kurven. Wie eine Rennjacht.
Ich ging schneller. Ich überholte die Dame. Sie hatte einen großen roten Mund, große schwarze Augen, eine schöne Stirn.
Plötzlich war mein Hunger vergessen …
Meine geliebte Lulu möge mir verzeihen: Sie kennt die Männer und weiß, daß sie alle gleich und nichts wert sind, wenn man sie allein auf Reisen gehen läßt.
Den nächsten Kilometer Boulevard trieb ich mein frevelhaftes Spiel. Mal ging ich vor ihr, mal ließ ich sie vor mir gehen. Je länger ich sie sah, um so besser gefiel mir die Dame. – Verzeih mir, süße Lulu, verzeih mir, du weißt, ich liebe nur dich!
Die Dame merkte natürlich, was mit mir los war. Sie lächelte einmal kurz. Sie war nicht böse. Nette Damen sind nie böse. Sie ging nur etwas schneller. Ich auch.
Dann tauchte das Lokal vor uns auf, das mein Freund mir empfohlen hatte. Und dann geschah etwas Unerwartetes. Die aufregende Dame ging an dem Lokal nicht vorbei. Im Gegenteiclass="underline" Sie ging hinein.
Also dann nichts wie hinterher, dachte ich und folgte ihr. Und hatte keine Ahnung von dem, was mich jenseits der Restauranttür erwartete!
In der kleinen Garderobe holte ich die wunderschöne Dame ein. Sie stand vor dem Spiegel und ordnete ihr Haar.
»Hallo«, sagte ich auf englisch.
Sie lächelte in den Spiegel hinein und sagte ebenfalls: »Hallo!« Ich verneigte mich und nannte meinen Namen. Dann sprach ich diese Worte: »Meine Dame, Sie müssen wissen, daß ich seit Geburt unter einer krankhaften Schüchternheit leide. Niemals zuvor habe ich auch nur im Traum daran gedacht, einen fremden Menschen anzusprechen.«
»In der Tat?« sagte sie und drehte sich um.
»In der Tat. Doch heute, als ich Sie erblickte, da war es denn stärker als ich! Madame, Sie haben mir geholfen, meinen Komplex zu besiegen! Ich danke Ihnen! Das ist ein Grund zum Feiern. Hier soll es eine hinreißend gute Fasanenbrust mit Beilagen geben.«
Sie sah mich ernst an. »Ja, die Fasanenbrust hier ist ausgezeichnet.«
»Also dann – darf ich vorangehen?« Ich ging schon. Sie folgte mir.
Das Lokal war nur mittelgroß, ungemein gemütlich mit antiken Möbeln eingerichtet und bumsvoll. Ein einziger Tisch in der Ecke war noch leer. Eine kleine Tafel stand darauf: RESERVIERT. Dem herbeieilenden Kellner drückte ich fünf Dollar in die Hand und sagte: »Nett, daß Sie den Tisch so lange für uns zurückbehalten haben.«
Dann half ich der hinreißenden Dame beim Platznehmen. Die Dame sprach: »Wir nehmen zweimal die Fasanenbrust mit Beilagen, Henry. Vorher Krebsschwanzsuppe. Aber zuerst einen Apéritif. Was halten Sie von einem trockenen Martini, Mr. Simmel?«
Zum Glück habe ich einen großzügigen Verleger, dachte ich. Kinder, Kinder, das wird wieder eine Spesenabrechnung werden! Ich sagte: »Von einem kleinen Whisky halte ich mehr, wenn’s recht ist.«
»Ich auch. Also zwei Doppelte, Henry«, sagte die Dame.
»In Ordnung, Chefin«, sagte Kellner Henry und verschwand.
»Was war das?« fragte ich. »Hat er Chefin gesagt?«
»Er hat Chefin gesagt.«
»Aber warum?«
»Weil ich hier die Chefin bin.« Sie lachte. »Die fünf Dollar hätten Sie sich sparen können!«
»Ach, wissen Sie, das bezahlt alles mein Verleger.«
»Verleger? Sind Sie Schriftsteller?«
»Manche sagen ja, manche sagen nein, Miß … äh …«
»Thompson, Pamela Thompson«, sagte sie. Plötzlich betrachtete sie mich mit echtem Interesse. Warum?
Ich sagte: »Plötzlich betrachten Sie mich mit echtem Interesse, Miß Thompson. Warum?«
»Weil Sie Schriftsteller sind, Mr. Simmel. Ich habe eine Vorliebe für Schriftsteller.«
»Wie wundervoll, Miß Thompson!«
Wir wollen’s kurz machen, verehrte Damen und Herren: Die Krebsschwanzsuppe war ausgezeichnet, die Fasanenbrust hinreißend. Ich redete ununterbrochen. Wahnsinnig geistreich, versteht sich. Beim Mokka hatte ich sie soweit. Sie war bereit, mit mir ins Kino zu gehen. »Okay, Mr. Simmel. Lassen Sie mich die Karten besorgen; ich kenne den Kinobesitzer. Die Vorstellung beginnt um halb neun. Wollen Sie mich abholen?«
»Liebend gerne, Miß Thompson.«
»Sagen wir um halb acht? Dann können wir bei mir vielleicht noch einen Drink nehmen …«
»Halb acht ist fein.«
Kinder, Kinder, ich mußte ja eine unheimliche Wirkung auf Frauen haben! Verflucht, warum ging ich eigentlich nicht zum Film?
2
Zum Friseur ging ich an diesem Nachmittag. Und dann kaufte ich zwei hübsche Orchideen. Und zog meinen feinsten Anzug an. Den dunkelblauen. Und pünktlich um halb acht Uhr läutete ich dann, einen Cellophankarton in der Hand, an einer Wohnungstür; daran war eine Messingtafel befestigt mit der Aufschrift:
THOMPSON
Ich mußte nicht lange warten. Die Tür öffnete sich. Ein Mann stand in ihrem Rahmen. Etwa fünfzig Jahre alt. Schlank, groß, schmales Gesicht, kluge Augen, hohe Stirn, angegraute Schläfen. Edle griechische Nase. Kleiner Schnurrbart. Was die Damen so lieben …
»Mr. Simmel, nehme ich an«, sagte der Mann. »Treten Sie ein. Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Meine Frau hat mir schon von Ihnen erzählt!«
»Ihre … hrm … Ihre Frau?«
»Meine Frau, ja. Thompson mein Name, Roger Thompson.«
Hinter ihm entstand Bewegung. Pamela, meine süße Pamela, kam in die kleine Halle. Sie trug ein grünes Cocktailkleid mit goldenen Arabesken, sehr tief ausgeschnitten. Sie lächelte strahlend und unschuldsvoll. »Oh, da sind Sie ja! Mein Gott, die wundervollen Orchideen! Ist er nicht reizend, Roger? Übrigens, Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen, daß mein Mann mit uns ins Kino geht?«
Meine süße Lulu, die mich genau kennt, hat sich später, als ich ihr die Geschichte erzählte, totgelacht und gesagt: »Bravo. Das gönne ich dir!«
Ich bemitleidete mich selber ungemein an jenem Abend im Kino. Dauernd stieß ich mit den Knien an der Logenwand an. Und mein Sitz war ungemütlich und hart. Und es war heiß. Und Kopfweh verspürte ich auch. Und als ich sah, daß Herr und Frau Thompson Händchen zu halten begannen, sobald die Wochenschau vorüber war, da sagte ich mir: Typischer Fall von versautem Abend.
Aber da täuschte ich mich dann wieder. Ganz enorm!
Denn dieser Abend entwickelte sich, nach dem Kino, zum nettesten, den ich in Amerika erlebte. Wir gingen essen – in das Lokal der Thompsons natürlich. Und wie wir aßen, du lieber Gott! Mr. Thompson stellte das Menu zusammen. Er ging selbst in die Küche. Da war ich eine Weile mit Pamela allein.
»Böse?« fragte sie.
»Ach nein.«
»Wissen Sie, ich fand Sie heute mittag so nett – so sympathisch … Alles, was Sie sagten, gefiel mir …«
»Was sagte ich denn?«
»Daß Sie gerne gut essen – daß Sie gerne mit schönen Frauen zusammen sind – daß Sie nie wieder eine Uniform anziehen möchten – daß Sie sich überall in der Welt zu Hause fühlen, wo Sie Freunde haben …«
»Verehrte Dame, ich muß noch etwas sagen.«
»Ja bitte?«
»Ich … ich … ich finde Ihren Mann auch sehr nett – auch sehr sympathisch …«
Sie strahlte auf: »Nicht wahr, das ist er! Sie kennen ihn nicht. Sie wissen nicht, was ich mit ihm erlebt habe. Sie wissen nicht, wie er denkt. Bei mir ging die Liebe immer durch den Kopf. Männer, die ich nicht für das bewundern konnte, was sie sagten und dachten, konnte ich nie richtig lieben. Bei Roger war es eine Liebe vom ersten Augenblick an. Die große Liebe meines Lebens …«
»Aber … aber warum haben Sie mich dann eingeladen, Mrs. Thompson?«
»Pamela.«
»Warum haben Sie mich eingeladen, Pamela?«
»Weil Sie Schriftsteller sind. Sie werden es erst später verstehen – vielleicht, vielleicht auch nicht … Es hängt alles von ihm ab.«