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Am 2. Januar 1940 kehrte Thomas Lieven, zum wievielten Male, wußte er selbst nicht mehr, mit dem Abendzug aus Brüssel nach Paris zurück. In Feignies, der Grenzstation, hielt der Zug länger als sonst. In leichter Unruhe wollte Thomas gerade nach dem Grund der Verzögerung forschen, als sich die Abteiltür öffnete und der Chef der französischen Grenzpolizei, ein großer Mann, den Thomas schon oft gesehen hatte, den Kopf hereinsteckte.

Er sprach sehr sachlich: »Monsieur, Sie sollten besser aussteigen, mit mir eine Flasche Wein trinken und den nächsten Zug nehmen.«

»Und warum sollte ich das wohl?«

»Dieser Zug wartet auf den amerikanischen Botschafter in Paris. Seine Exzellenz hatte in der Gegend einen leichten Autounfall, bei dem sein Wagen beschädigt wurde. Es ist das Nebenabteil für ihn reserviert worden. Er kommt in Begleitung von drei Herren aus der Botschaft … Sie sehen, Monsieur, Sie sollten wirklich lieber den nächsten Zug nehmen. Erlauben Sie, daß ich Ihren schweren Koffer trage …«

»Woher wußten Sie?« fragte Thomas Lieven fünf Minuten später. Der große Polizist winkte ab: »Sie werden uns doch jedesmal von Oberst Siméon avisiert und besonders ans Herz gelegt!«

Thomas öffnete seine Brieftasche. »Was darf ich Ihnen anbieten?«

»Ah nein, Monsieur! Das war ein Freundschaftsdienst! Dafür verlange ich nichts! Aber vielleicht … Wir sind hier sechzehn Mann, und in letzter Zeit gibt es kaum noch Kaffee und Zigaretten …«

»Das nächste Mal, wenn ich nach Brüssel fahre …«

»Moment, Monsieur, das ist nicht so einfach! Wir müssen achtgeben, daß die Bullen vom Zoll die Sachen nicht erwischen. Wenn Sie das nächste Mal kommen, aber nur wenn Sie den Nachtschnellzug benützen, dann stellen Sie sich bitte auf die Plattform des Erstklaßwagens. Die vordere Plattform. Halten Sie das Paket bereit. Einer meiner Leute wird aufspringen …«

So geschah es von nun an zwei- bis dreimal wöchentlich. In ganz Frankreich gab es keine so gut versorgte Grenzpolizeistation wie die in Feignies. »Kleine Leute, gute Leute«, sagte Thomas Lieven …

10

General Effel bot ihm einen Orden an, aber Thomas lehnte ab: »Ich bin überzeugter Zivilist, Herr General. Ich mag diese Sachen nicht.«

»Dann wünschen Sie sich etwas, Monsieur Lieven!«

»Wenn ich vielleicht eine gewisse Menge französischer Paßformulare haben könnte, Herr General. Und die entsprechenden Stempel. Es leben jetzt so viele Deutsche in Paris, die untertauchen müssen, wenn die Nazis kommen. Sie haben kein Geld, um zu fliehen. Ich möchte den armen Hunden gerne helfen.«

Einen Augenblick schwieg der General. Dann sagte er: »Auch wenn es schwerfällt, Monsieur, ich achte Ihren Wunsch und werde ihn erfüllen.«

Nun kamen viele Menschen zu Besuch in Thomas Lievens schöne Wohnung am Square du Bois de Boulogne. Er nahm kein Geld von ihnen. Sie erhielten die falschen Pässe umsonst. Voraussetzung war lediglich, daß sie von den Nazis tatsächlich Gefängnis oder Tod zu erwarten hatten.

Thomas nannte das »Konsulat spielen«. Er spielte gern Konsulat, er hatte den Reichen ein Vermögen abgenommen, nun half er den Armen ein wenig.

Im übrigen ließen sich die Deutschen Zeit. »Drôle de guerre« nannten die Franzosen diesen seltsamen Krieg.

Thomas Lieven reiste noch immer nach Brüssel und Zürich. Im März 1940 kam er einmal einen Tag früher als vorgesehen heim. Seit langem lebte Mimi nun schon bei ihm. Sie wußte immer genau die Stunde seiner Rückkehr. Diesmal hatte er vergessen, sie von seinem früheren Eintreffen zu benachrichtigen.

Ich will die Kleine überraschen, überlegte Thomas. Er überraschte sie tatsächlich – in den Armen des charmanten Oberst Jules Siméon.

»Monsieur«, sagte der Oberst, mit den vielen Knöpfen seiner Uniform beschäftigt, »ich nehme alle Schuld auf mich. Ich habe Mimi verführt. Ich habe Ihr Vertrauen enttäuscht, Monsieur. Das ist durch nichts zu entschuldigen. Bestimmen Sie die Art der Waffe.«

»Machen Sie, daß Sie aus meiner Wohnung kommen, und lassen Sie sich hier nie mehr sehen!«

Siméon bekam eine Gesichtsfarbe von der Intensität einer Erdbeere, biß sich auf die Lippen und ging.

Schüchtern sagte Mimi: »Du warst aber sehr grob!«

»Du liebst ihn, was?«

»Ich liebe euch beide. Er ist so tapfer und romantisch, und du, du bist so gescheit und lustig!«

»Ach, Mimi, was mache ich nur mit dir?« sagte Thomas niedergeschlagen und setzte sich auf den Bettrand. Es war ihm plötzlich zu Bewußtsein gekommen, daß er Mimi sehr gern hatte …

Am 10. Mai brach die deutsche Offensive los. Die Belgier hatten sich getäuscht; sie wurden zum zweitenmal überfallen.

Die Deutschen setzten 190 Divisionen ein. Diesen standen gegenüber: 12 holländische Divisionen, 23 belgische, 10 britische, 78 französische und 1 polnische. Insgesamt 850 alliierte Flugzeuge, zum Teil alter Bauart, hatten gegen 4500 deutsche Maschinen zu kämpfen.

Der Zusammenbruch kam mit atemberaubender Schnelligkeit. Panik brach aus. Zehn Millionen Franzosen machten sich auf eine elende Wanderschaft.

In Paris löste Thomas Lieven in Ruhe seinen Haushalt auf. Er stellte die letzten falschen Pässe für Landsleute aus, als er schon das dumpfe Grollen der Kanonen hören konnte.

Er bündelte seine Francs, Dollars und Pfunde ordentlich, banderolierte sie und verwahrte sie in einem Koffer mit doppelter Wandung. Mimi half ihm dabei. Sie sah schlecht aus in diesen Tagen. Thomas war freundlich, aber kühl. Er hatte den Oberst noch nicht verwunden.

Äußerlich gab er sich guten Mutes: »Letzten Meldungen zufolge kommen die Deutschen von Norden nach Osten. Wir werden also noch eine Kleinigkeit zu uns nehmen und dann Paris in südwestlicher Richtung verlassen. Benzin haben wir genug. Wir fahren über Le Mans. Dann hinunter nach Bordeaux und …« Er unterbrach sich und sagte: »Du weinst?«

Mimi schluchzte: »Du nimmst mich mit?«

»Nun ja, natürlich. Ich kann dich doch nicht hier zurücklassen.«

»Aber ich habe dich doch betrogen …«

»Mein Kind«, sagte er mit Würde, »um mich zu betrügen, hättest du dich schon mit Winston Churchill abgeben müssen!«

»Ach, Thomas – du bist wundervoll! Und – und verzeihst du auch ihm?«

»Leichter als dir. Daß er dich liebt, kann ich verstehen.«

»Thomas …«

»Ja?«

»Er ist im Garten.«

Thomas fuhr auf: »Was fällt ihm ein?«

»Er ist so verzweifelt. Er weiß nicht, was er tun soll. Er kam von einer Dienstreise; niemand von seinen Leuten ist mehr da. Jetzt ist er ganz allein, ohne Wagen, ohne Benzin …«

»Woher weißt du das?«

»Er – er hat es mir erzählt … Er kam vor einer Stunde … Ich habe ihm gesagt, ich werde mit dir reden …«

»Es ist ja nicht zu fassen«, sagte Thomas. Dann begann er zu lachen, bis ihm die Tränen in die Augen traten.

11

Am Nachmittag des 13. Juni 1940 fuhr ein schwerer schwarzer Chrysler in südwestlicher Richtung durch den Pariser Vorort Saint-Cloud. Er kam nur langsam voran, denn mit ihm, in gleicher Richtung, ratterten und polterten unzählige andere Fahrzeuge – Flüchtlingskolonnen aus Paris.

Am rechten Kotflügel des schwarzen Chryslers leuchtete ein Stander der Vereinigten Staaten von Amerika. Das gesamte Dach des Wagens wurde von einem mittelgroßen Sternenbanner verdeckt. Schilder glänzten auf den Stoßstangen. Darauf leuchteten, blank poliert, die Buchstaben CD.

Am Volant des großen Wagens saß Thomas Lieven. Mimi Chambert saß neben ihm.