In diesem Augenblick ging die Küchentür auf, und ein Riese trat ein. Er trug schwarz-grau gestreifte Hosen, eine blau-weiß gestreifte Hausjacke, ein weißes Hemd und eine weiße Schleife. Bürstenhaar zierte den Schädel. Wäre ihm eine Glatze eigen gewesen, dann hätte er wie eine zu groß geratene Zweitausgabe von Yul Brynner gewirkt.
»Was gibt es, Bastian?« fragte Thomas Lieven.
Mit einer leicht schleppenden, französisch akzentuierten Stimme erwiderte der Diener: »Herr Direktor Schallenberg ist eingetroffen.«
»Pünktlich auf die Minute«, sagte Thomas. »Mit dem Mann wird sich arbeiten lassen.«
Er band die Schürze ab. »Essen also in zehn Minuten. Bastian wird servieren. Sie, liebes Kind, haben Ausgang.«
Während Thomas Lieven sich im schwarzgekachelten Badezimmer die Hände wusch, bürstete Bastian noch einmal über die Smokingjacke.
»Wie sieht der Herr Direktor denn aus?« fragte Thomas Lieven.
»Das Übliche«, antwortete der Riese. »Fett und solide. Stiernacken und Kugelbauch. Ordentliche Provinz.«
»Klingt nicht unsympathisch.«
»Zwei Schmisse hat er auch.«
»Ich nehme alles zurück.« Thomas schlüpfte in die Smokingjacke. Dabei fiel ihm etwas auf. Mißbilligend sprach er: »Bastian, du bist schon wieder an den Kognak gegangen!«
»Nur ein Schlückchen. Ich war ein bißchen aufgeregt.«
Menu • 11. April 1957
Dieses Abendessen brachte
717 850 Schweizer Franken ein.
Lady-Curzon-Suppe
Paprikahuhn • Kopfsalat »Clara« • Reis
Gespickte Äpfel mit Weinschaumsauce • Toast mit Käse
Suppe: Lady Curzon war die Frau des englischen Vizekönigs Lord Curzon. Ihr Mann schrieb politische Bücher. Sie verfaßte Kochrezepte. Für ihre Schildkrötensuppe empfiehlt die Lady die Vorderfüße der schmackhaften Tiere. Sie enthalten das beste Fleisch. Zum Würzen nehme man: Dragon und Thymian, Ingwer, Muskat, Nelken sowie Curry. Ein Glas Sherry gehört in die Suppe, in der möglichst noch Schildkröteneier, Würstchen aus den Därmen und eine Farce von den Innereien des Tieres schwimmen sollen. Wem dies jedoch zu umständlich erscheint, der kaufe sich im Laden eine Büchse fertige Schildkrötensuppe, vergesse allerdings nicht, einen kräftigen Schluck Sherry und einen Tassenkopf Sahne hineinzugießen.
Paprikahuhn: Man brate ein zartes Huhn auf die übliche Weise in Butter, lasse es aber nicht zu braun werden, teile es dann je nach Größe in 4 oder 6 Teile und stelle sie warm. – Man lasse eine sehr fein gehackte Zwiebel und einen Teelöffel Paprika in der Bratbutter dünsten, dann mit wenig Wasser oder Fleischbrühe aufkochen, füge reichlich dicke saure Sahne, die mit etwas Maizena verrührt wurde, hinzu, schmecke mit Salz und eventuell noch Paprika ab. Um die rote Farbe zu verstärken, gibt man etwas Tomatenmark in die Sauce, das aber keinesfalls vorschmecken darf. – Man lege die Hühnerstücke in die Sauce, lasse sie einige Minuten darin ziehen.
Reis: Fast immer »klebt« der Reis wie ein Brei. Dabei ist es so einfach, Reis körnig zu machen. Man beachte: Der Reis soll – nachdem er gut gewaschen ist – in beliebiger Menge Wasser 10–15 Minuten kochen. Nun kommt er in ein Sieb und wird darin unter kaltem Wasser gespült. Das ist der Trick, um das klebrige Reismehl zu entfernen! Kurz vor dem Anrichten wärme man den Reis in demselben Sieb über kochendem Wasser, nur durch den Wasserdampf. Erst in der tischfertigen Schüssel kommt dann etwas Butter, Salz oder auch je nach Geschmack Curry, Safran oder Pfeffer darüber.
Gespickte Äpfel mit Weinschaumsauce: Gleichmäßig große, mürbe Äpfel schälen, in einem vanillierten Zuckersirup langsam gar ziehen lassen, ohne daß sie zerfallen, aus der Sauce heben und in einem Sieb abtropfen lassen. In der Zwischenzeit Mandeln abziehen, in Streifen schneiden, auf ein Backblech ausbreiten und im heißen Backofen rösten. Die gut abgetropften Äpfel werden nun mit Likör, Rum oder Kognak getränkt und mit den Mandelstiften gespickt. Man richtet sie auf einer Platte an und reicht dazu die Weinschaumsauce: Zwei Eidotter werden mit 100 Gramm Zucker schaumig gerührt, 20 Gramm Mais- oder Stärkepulver mit einer halben Tasse Wasser glattgerührt, ein viertel Liter Weißwein dazugegeben und zusammen mit der schaumiggerührten Eiermasse unter Rühren auf kleiner Flamme dick gekocht. Die zwei Eiweiß zu steifem Schnee schlagen, unter die Masse ziehen, eventuell mit Rum, Arrak, Kognak usw. abschmecken.
Toast mit Käse: Man bestreiche Weißbrotscheibchen in der Mitte dick mit Butter. Eine Scheibe Käse – nur Emmentaler oder Edamer ist geeignet – wird darauf gelegt. Die Schnittchen werden auf einem Kuchenblech in gut angewärmter Röhre 5 Minuten gebacken, bis sie goldgelb sind. Ganz heiß servieren.
»Laß das! Wenn etwas Menschliches passiert, brauche ich deinen klaren Kopf. Du kannst den Herrn Direktor nicht zusammenschlagen, wenn du blau bist.«
»Den Dicken nehme ich noch im Delirium tremens auf mich!«
»Ruhe! Die Sache mit dem Klingelzeichen ist dir klar?«
»Jawohl.«
»Wiederhole.«
»Einmal klingeln: Ich bringe den nächsten Gang. Zweimal klingeln: Ich bringe die Fotokopien. Dreimal klingeln: Ich komme mit dem Sandsack.«
»Ich wäre dir dankbar«, sagte Thomas Lieven, an seinen Nägeln feilend, »wenn du das nicht durcheinanderbringen wolltest.«
2
»Ausgezeichnet, die Suppe«, sagte Direktor Schallenberg. Er lehnte sich zurück und betupfte mit der Damastserviette seine schmalen Lippen.
»Lady Curzon«, sagte Thomas und klingelte einmal, indem er auf eine Taste unter der Tischplatte drückte.
»Lady was?«
»Curzon – so heißt die Suppe. Schildkröte mit Sherry und Sahne.«
»Ach so, natürlich!«
Die Flammen der Kerzen, die auf dem Tisch standen, flackerten plötzlich. Geräuschlos war Bastian eingetreten und servierte das Paprikahuhn.
Die Flammen beruhigten sich. Ihr warmes gelbes Licht fiel auf den dunkelblauen Teppich, den breiten altflämischen Tisch, die bequemen Holzstühle mit den Bastlehnen, die große altflämische Anrichte.
Das Hühnchen entzückte Direktor Schallenberg aufs neue. »Delikat, einfach delikat. Wirklich charmant von Ihnen, mich einzuladen, Herr Lieven! Wo Sie mich doch eigentlich nur geschäftlich sprechen wollen …«
»Alles bespricht sich besser bei einem guten Essen, Herr Direktor. Nehmen Sie noch Reis, er steht vor Ihnen.«
»Danke. Nun sagen Sie schon, Herr Lieven, um was für ein Geschäft handelt es sich?«
»Noch etwas Salat?«
»Nein, danke. Schießen Sie doch endlich los!«
»Na schön«, sagte Thomas. »Herr Direktor, Sie haben eine große Papierfabrik.«
»So ist es, ja. Zweihundert Angestellte. Alles aus den Trümmern wieder aufgebaut.«
»Eine stolze Leistung. Zum Wohlsein …« Thomas Lieven hob sein Glas.
»Komme nach.«
»Herr Direktor, wie ich weiß, stellen Sie besonders hochwertiges Wasserzeichenpapier her.«
»Jawohl.«
»Unter anderem liefern Sie das Wasserzeichenpapier für die neuen Aktien, welche die ›Deutschen Stahlunion-Werke‹ gerade auf den Markt bringen.«
»Richtig. Aktien der DESU. Kann Ihnen sagen, diese Scherereien, diese dauernden Kontrollen! Damit meine Leute ja nicht auf die Idee kommen, ein paar Aktien selber zu drucken, hahaha!«
»Hahaha. Herr Direktor, ich möchte bei Ihnen fünfzig Großbogen dieses Wasserzeichenpapiers bestellen.«
»Sie wollen … was?«
»Fünfzig Großbogen bestellen. Als Firmenchef dürfte es Ihnen kaum Schwierigkeiten bereiten, die Kontrollen zu umgehen.«
»Aber um Himmels willen, was wollen Sie denn mit den Bogen?«
»Aktien der DESU-Werke drucken natürlich. Was haben Sie gedacht?«
Direktor Schallenberg legte seine Serviette zusammen, blickte nicht ohne Bedauern auf seinen noch halbvollen Teller und äußerte: »Ich fürchte, ich muß jetzt gehen.«